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Die Rolle von Religion und Nation in Europa

Die Europäische Union ist ein vielfältiger und vielschichtiger Zusammenschluss. Ein gemeinsames europäisches Nationalgefühl gar kann man sich überhaupt nicht vorstellen. Zu unterschiedlich sind Geschichte, Sprache und Kultur der einzelnen Mitgliedsstaaten. Die Rolle von Religion, Nation und Ethnizität in einem erweiterten Europa steht jetzt im Mittelpunkt eines internationalen Forschungsprojekts am Institut für Soziologie der Universität Göttingen.

Von Michael Niehaus |
    Gleichen sich Staaten und Gesellschaften durch Aufnahme in die Europäische Union quasi automatisch einander an? Nein, sagen die Göttinger Soziologen Wolfgang Knoebl und Matthias König. Sie gehen davon aus, dass es unterschiedliche Identitäten gibt und geben wird, unterschiedliche Formen von Demokratie, Markt und kollektiver Identität. Sie rechnen damit, dass die Modernisierung der europäischen Staaten und Gesellschaften, die nun der EU beigetreten sind oder in einigen Jahren beitreten werden, ganz unterschiedlich ausfallen wird. aus. Das ist eine der Leitideen dieses Projekts

    "Die andere Leitidee dieses Projekts ist, dass kollektive Identitäten in Europa in einem hohen Maße durch religiöse und konfessionelle Hintergründe geprägt sind. Wenn man davon ausgeht, dass Codierungen kollektiver Identität entweder stark primordial-ethnisch, politisch-zivil oder kulturell-religiös sein könnten, so ist eben zu beachten, dass in der Nationalstaatsbildung in Europa gerade auch kulturelle oder religiöse Codierungen wichtig gewesen sind für die Herausbildung moderner Formen der Nation. In dem Projekt wollen wir nun der Frage nachgehen, wie sich die unterschiedlichen Entwicklungspfade bei der Herausbildung nationaler Identitäten gegenwärtig sich verändern unter dem Eindruck des Europäisierungsprozesses."

    Der Religionssoziologe Prof. Matthias Koenig und seine Kollegen wollen in den nächsten 18 Monaten untersuchen, welche Rolle die religiösen Traditionen bei der Herausbildung kollektiver Identitäten in unserer Zeit spielen. Sie wollen dies am Beispiel der Länder Deutschland, Griechenland, Polen, Rumänien und der Türkei herausfinden,

    "weil wir uns für dafür interessieren, möglichst Länder mit unterschiedlichen religiösen Traditionen in den Blick zu bekommen, also protestantisch geprägte Nationen wie - zumindest in ihrer formativen Phase - die deutsche Nation, eine katholisch geprägte Nation wie Polen, eine orthodox geprägte Nation wie Griechenland und auch als Kontrastfall eine muslimisch-islamisch geprägte Nation wie die Türkei. Wir kontrastieren diese mittel-südosteuropäischen Länder um drei Vergleichsfälle, nämlich Österreich, Frankreich und Großbritannien, um sozusagen den Kern der ursprünglichen europäischen Union mit abzudecken, um vor diesem Hintergrund die Dynamik ,die bei den neuen Beitrittsländern und Beitrittskandidaten in Gang kommt, besser in den Blick zu bekommen."

    Beispiel Eu-Beitrittskandidat Türkei. Es ist klar erkennbar, dass der angestrebte Beitritt erhebliche Debatten und Veränderungsprozesse ausgelöst hat. Siehe den Streit darüber, ob Frauen in der Türkei in öffentlichen Gebäuden ein Kopftuch tragen dürfen. Siehe die damit verbundene Kontroverse um die Regierungspartei AKP, die sich einem Verbotsprozess ausgesetzt sieht ,weil sie als islamische Partei gegen die in der türkischen Verfassung verankerte Trennung von Religion und Staat verstoße. Diese Kontroversen betreffen alle im Kern die von Staatsgründer Kemal Atatürk festgelegte Trennung von Staat und Religion

    "Uns interessiert gewissermaßen, welche Effekte die Aussicht auf den Beitritt zur europäischen Union dann für die Türkei haben. Man kann das natürlich jetzt schon beobachten an der Bedeutung der Mitgliedschaft der Türkei im Europarat, in dem die Türkei schon seit Jahrzehnten Mitglied ist, und sich entsprechend auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg unterworfen hat. Diese Rechtsprechung, die gerade auch die Frage des Tragens von Kopftüchern an Universitäten betroffen hat, führt in der Türkei natürlich zu deutlichen Diskussionen über die angemessenen rechtlichen Umgangsformen mit Religion, insofern kann man hier die Dynamik zwischen europäischer Ebene und der nationalen Ebene, wie wir sie für die EU-Beitrittsperspektive untersuchen wollen, schon im Kern beobachten."

    Veränderungsprozesse, die das Verhältnis von Staat und Religion betreffen, und Auswirkungen auf die kollektive Identität wird es aber nicht nur auf Seiten der neuen EU-Mitglieder und der Beitrittskandidaten geben. Auch in den europäischen Kernländern, also jenen Ländern, die schon sehr früh der Europäischen Union angehörten, die zur ihren Gründungsmitgliedern gehören , wie etwa Frankreich lassen sich Debatten und Kontroversen feststellen, die ebenfalls dem Themenkreis Religion, Staat und Gesellschaft angehören

    "Es ist bekannt, dass Frankreich nach dem großen Krieg der zwei Frankreich, wie Emil Poulard das in seinem einschlägigen Buch genannt hat, ein laizistischer Staat ist oder ein Staat, für den die Laizität ein Kernsymbol nationaler Identität ist; und unter dem Eindruck religiöser Pluralisierungsprozesse am Ende des 20.Jahrhunderts und auch unter dem Eindruck der europäischen Integration gerät gerade diese Laizität unter Druck. Dies zeigt sich etwa an Überlegungen, stärker wieder auf die Bedeutung von Religionskunde auch an öffentlichen Schulen einzugehen, also gewissermaßen die religiösen Aspekte der christlichen abendländischen Identität, wie das dann oftmals gesagt wird, in den Vordergrund zu rücken. Es zeigt sich auch an den Kontoversen um das Gesetz zum Verbot des Tragens religiöser Symbole an öffentlichen Schulen - in Frankreich selbst ein hoch umstrittenes Gesetz, an dem die unterschiedlichen Konfliktparteien sich jeweils an den europäischen Erwartungsstrukturen - etwa des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte -orientieren. Der Fall Frankreich zeigt natürlich auch, wie träge gewissermaßen die historisch gewachsenen Institutionen, Arrangements von Religion und Politik sind."

    In allen europäischen Ländern, nicht nur den neuen und künftigen Mitgliedern wird sich , so die zentrale Hypothese der Göttinger Wissenschaftler , im Zuge der Europäisierung, also im Prozess der Integration in die Europäische Union, die religiöse Komponente verändern

    "Für die westeuropäischen Länder wie Frankreich würden wir erwarten, dass religiöse Komponenten kollektiver Identität gegenüber säkularen Komponenten gestärkt werden, während wir in den mittel-osteuropäischen Ländern einen umgekehrten Prozess erwarten würden."