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Die Routen ändern sich, die Tragödie dauert an

Fabrizio Gatti hat sich an die Fersen der Flüchtlinge mit dem Ziel Europa geheftet. Vom Senegal aus ist der italienische Reporter den Flüchtlingstrecks durch die Sahara bis nach Italien gefolgt. Bilal, so nannte er sich, als Illegaler auf dem Weg nach Europa.

Von Elias Bierdel | 18.01.2010
    Vom Senegal, über Mali, durch Niger und Libyen in Richtung Europa. – Das ist die Sehnsuchtsroute westafrikanischer Migranten, von Männern, Frauen und Kindern, die im reichen Norden eine bessere Zukunft für sich erträumen.

    Fabrizio Gatti, der 44jährige Starreporter des italienischen Magazins "L'Espresso", hat sich dem Treck der Hoffenden, der Verzweifelnden und der Scheiternden angeschlossen. Er hat mit ihnen Gebirge bezwungen und Wüsten durchquert und dabei – wie sie - sein Leben riskiert auf schrottreifen, überladenen Lkw. Er erzählt von den Strapazen, die Menschen auf sich nehmen, von den Gefahren und dem großen Mut, den es braucht, um sich auf dieser mörderischen Reise durchzukämpfen.

    Für Gatti sind die Flüchtlinge und Migranten, wie er sagt, "die wahren Helden unserer Zeit". Helden wie der 15-jährige Elvis, dem Polizisten an einem Kontrollposten in der Wüste routinemäßig sein letztes Geld gestohlen haben – und der es wagt, die Summe laut und vor den Augen seiner im glutheißen Sand kauernden Leidensgenossen zurückzufordern:

    Der Kommandant stemmt die Hände in die Hüften, er zieht seinen Ledergürtel aus dem Hosenbund. Den breiten Gürtel mit der großen Metallschnalle, wie sie die Uniformen auf der ganzen Welt zieren. Der erste Schlag trifft Elvis auf den Kopf. Der zweite ins Gesicht. Der dritte auf die Hände, mit denen der Junge unsicher und verzweifelt sein Gesicht zu schützen versucht. Der Kommandant schlägt mit aller Kraft zu, er lässt den Arm genau so auf den Jungen niedergehen, dass ihn die scharfe Schnalle mit voller Wucht trifft. Elvis verliert das Gleichgewicht, fällt hin und blutet an den Händen und aus der Nase. Auf allen Vieren schleppt er sich durch den Sand, unbeholfen wie ein flüchtendes Krokodil an Land. Der Polizist schlägt immer noch auf Elvis ein. Seine Kollegen lachen. 'Stoooop', schreie ich mit rasender Wut und Tränen in den Augen.
    An vielen Stellen seiner Geschichte verlässt der Reporter die Rolle des Beobachters und greift in das brutale Geschehen ein. Mal behandelt er mit Medikamenten aus seiner reich bestückten Reiseapotheke einen Kranken, mal besticht er prügelnde Soldaten, damit sie – wenigstens vorübergehend - von ihren Opfern ablassen.

    Das ist menschlich nur allzu verständlich, aber es offenbart auch Gattis Dilemma: Obwohl er aus der Sicht der Betroffenen schreiben möchte, teilt der Autor als weißer Europäer mit einem italienischen Pass niemals wirklich das Schicksal seiner Mitreisenden. Als es an der libyschen Grenze kein Visum für ihn gibt, bricht Gatti die Reise ab.

    Insofern führt der deutsche Titel des Buches in die Irre: Denn "Als Illegaler auf dem Weg nach Europa" war der Autor eben gerade nicht. In die Rolle des "Illegalen" schlüpfte der Reporter erst, nachdem er bereits komfortabel im Linienflugzeug nach Europa zurückgekehrt war. Da beschloss Gatti, unter dem angenommenen Fantasienamen Bilal Ibrahim el Habib von einer Klippe der Insel Lampedusa ins Wasser zu springen, um sich anschließend als vermeintlicher kurdisch-irakischer Flüchtling retten zu lassen. Absurd. Aber der Plan gelang.

    Als erster Journalist konnte Fabrizio Gatti so über die raue Wirklichkeit im Lager von Lampedusa schreiben, über Schläge und Demütigungen. Wie die Gefangenen gezwungen werden, sich in einer Lache aus Fäkalien auf den Boden zu setzen. Wie italienische Beamte minderjährige Flüchtlinge zwingen, pornografische Bilder anzusehen.

    Für "L`Espresso" war die Geschichte ein Scoop – und Gatti hat sich mit ihr das Recht erworben, seinen Zeitgenossen die Leviten zu lesen:

    Die Stadt Mailand hat ihren Zoo geschlossen, weil die empfindsamen und empörten Bewohner es nicht mehr ertragen konnten, dass Affen, Löwen und Giraffen in Käfigen eingesperrt sind. Das war 1992. Sieben Jahre später haben Italien und die Mailänder dann einen riesigen Käfig gebaut und Männer und Frauen darin eingesperrt. Und kein Mailänder, kein Italiener schien sich darüber zu empören. Heute gibt es solche Käfige überall in Italien. Und der von Lampedusa ist eine Höllenmaschine. Das Hauptgetriebe im Räderwerk der Massendeportationen, die Italien unter Mitwisserschaft Deutschlands und der Europäischen Union durchführt. Die größte Deportation in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Ein Verrat an Idealen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. ( Der Käfig von Lampedusa ist eine Schande für unsere Demokratie. Die größte Lüge des vereinten Europa.
    Fabrizio Gatti, der vor Jahren auch schon als vermeintlicher Rumäne die Lebenswirklichkeit illegalisierter Einwanderer in Italien zu erkunden suchte, wird in seiner Heimat mit Günter Wallraff verglichen. Und ebenso wie beim deutschen Großmeister des Camouflagejournalismus löst auch Gattis investigativer Mummenschanz immer wieder gespaltene Gefühle aus. So gibt es Szenen unfreiwilliger Komik, etwa wenn sich der Klebstoff, der die Fingerabdrücke unkenntlich machen sollte, im Meerwasser ablöst – oder wenn sich eine angetrunkene Touristin in eindeutiger Absicht an den gefälschten Kurden heranmacht. Die Maskerade hat ihre peinlichen Momente, ohne Frage.

    Auch werden Kritiker anmerken, das Buch sei überholt, der Flüchtlingsstrom verebbt und das Lager von Lampedusa längst geschlossen.
    Dieser Einwand ist berechtigt – und dennoch ganz verfehlt. Denn die Tragödie dauert an, auch wenn sich die Routen ändern. Vorgestern die Kanaren, gestern Lampedusa und heute die Inseln der griechischen Ägäis... überall sind jene namenlosen Reisenden unterwegs, vor denen sich Europa so sehr fürchtet, dass es um ihretwillen seine heiligsten Werte verrät. Fabrizio Gatti hat ihnen – auch in seinen beeindruckenden Fotos - ein Denkmal gesetzt. Denn das, so meint der Autor, ist das Mindeste, was wir ihnen schulden: Ihre Schicksale nicht länger zu ignorieren.
    Der Friedhof von Lampedusa ist voll mit anonymen Gräbern. Statt eines Namens und eines Fotos tragen die Grabsteine nur eine Nummer. Es würde genügen, symbolisch die Gebeine aus einem dieser Gräber nach Rom, Brüssel, Straßburg, Paris, Madrid, Berlin, London, Wien oder Bern zu bringen, den Zielen der Menschen, die das andere Gesicht Europas sind. Um niemals zu vergessen.

    Fabrizio Gatti: Bilal – Als Illegaler auf dem Weg nach Europa. Erschienen ist das Buch im Antje Kunstmann Verlag. Es kostet 24 Euro 90. Die 457 Seiten hat Elias Bierdel für uns gelesen (ISBN: 978 - 3888975875).