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Die Rückkehr der großen Planung

Aus der französischen Hauptstadt soll nach dem Willen des Staatspräsidenten Nikolas Sarkozy eine moderne Metropole werden. Besonders im Osten der Stadt stehen noch viele alte Industrieanlagen. Dort hat sich in den letzten Jahren viel verändert.

Von Björn Stüben |
    Eines haben Paris und London gemeinsam: Im Westen der beiden Weltstädte liegen traditionell die großbürgerlichen Wohngegenden, während sich im Osten die Arbeiter- und Mittelschicht niedergelassen hat. Und das geschah im 19. Jahrhundert nicht ohne Grund, denn die qualmenden Fabrikschlote wurden am östlichen Stadtrand errichtet, damit der meistens von Westen blasende Wind die Abgase von den vornehmen Vierteln fernhalten konnte.

    Die Atlantikwinde gibt es weiterhin, doch die Fabrikschlote sind verschwunden. Übrig geblieben sind funktionslos vor sich hin alternde Industrieanlagen, die wertvollen Stadtraum belegen. Seit über 10 Jahren ragen daher am linken Seine-Ufer im Pariser Osten die Baukräne auf einem Areal von 130 Hektar empor. "Paris Rive Gauche" nennt sich das urbanistische Großprojekt, das Abhilfe schaffen soll und für das bereits 1985 die Planungsgesellschaft SEMAPA ins Leben gerufen wurde. Deren Gründungsdirektorin Thérèse Cornil beschreibt das Areal und erklärt die Ziele des Vorhabens:

    "Hier liegt eine ausgedehnte Industriebrache direkt an der Seine, die jetzt urbanistisch erschlossen wird. Gleisanlagen, die auf die Gare d'Austerlitz zuführen, begrenzen dieses Gebiet nach Süden hin, wo dann erst die Bebauung des 13. Arrondissements beginnt. Hier entstehen neue Stadtviertel mit Wohnungen, Schulen, Kindergärten, Geschäften und Büros. Aber auch die städtebauliche Trennung, die im 19. Jahrhundert durch die Gleisanlagen entstand, wird beseitigt. Doch die Bahntrassen werden nicht weggerissen, sondern von einer Betonkonstruktion überdeckt. Diese Betonplatte, als breite Avenue gestaltet, wird endlich dem alten 13. Arrondissement wieder einen Zugang zum Seine-Ufer ermöglichen."

    Weite Teile der mächtigen Betonplatte, auf der die großzügige Avenue de France Gestalt annimmt, stehen bereits und vor allem ragt hier auch schon seit über zehn Jahren eines der architektonischen Prestigeobjekte von Paris, die französische Nationalbibliothek, mit ihren vier Glastürmen in der Form aufgeschlagener Bücher in den Hauptstadthimmel. Doch der Großteil der Très Grande Bibliothèque wurde von Stararchitekt Dominique Perrault unterirdisch angelegt, beleuchtet durch ein mehrere Fußballfelder großes Loch, das sich in der Mitte zwischen den vier Türmen auftut und in dem ein kleiner Wald sprießt. Sind die vier Hochhaustürme der Bibliothek der gewollte Blickfang für ein neues Pariser Stadtviertel? Dominique Perrault:

    "Das sind keine Hochhäuser. Hier stehen sich vier Gebäude gegenüber, die in einer Beziehung zueinander stehen. Sicher sind sie relativ hoch, aber für mich wirkt der Bau eher wie ein Schloss, das man von weitem sieht. Wir konnten nicht die gesamte Bibliothek oberirdisch errichten, weil sie über 1,5 Millionen Kubikmeter Raum umschließt. Das ist gigantisch und als herkömmlicher Baukörper im Stadtbild völlig undenkbar. Ihre jetzige Form bietet eine einzigartige Erfahrung. Je näher man ihr kommt, desto mehr verschwindet der Baukörper und er löst sich beinahe ganz auf, wenn man in die Lesesäle hinuntersteigt."

    Soviel Pathos und architektonische Geste haben der Gesamtplanung des neuen Pariser Ostens ihren Stempel aufgedrückt. An der Avenue de France reihen sich in guter Haussmann'scher Tradition gleichförmige, überwiegend gläserne Fassaden aneinander, hinter denen sich Ministerien und Firmensitze eingemietet haben.
    Fast 900.000 Quadratmeter Büroflächen waren ursprünglich geplant, zum Glück sieht die aktuelle Planung lediglich noch die Hälfte vor. Vor allem sind es Bürgervereinigungen, die sich in den letzten Jahren zu Wort melden, um sich gegen die Schaffung eines sterilen Bürohausviertels zur Wehr zu setzen. Fabrice Piault vom Verein TAM TAM:

    "Die jetzige Planung stellt einen großen soziokulturellen Bruch dar, denn man versucht hier so etwas wie eine "ville nouvelle", die seit Jahrzehnten irgendwo am Rand der Ballungsräume entstehen, mitten in Paris zu errichten. So kann man keine Investoren anlocken, denn diese suchen in Paris auch das Flair eines echten Pariser Stadtviertels und nicht ein Umfeld wie draußen in La Defense."

    Doch nicht nur Bürogebäude prägen bisher das Bild des neuen Pariser Ostens. Historische Industriebauten wie das Druckluftwerk von 1891 oder die großen Pariser Getreidemühlen von 1923 sind restauriert worden. Eine der Pariser Universitäten und das Zentrum für Mode und Design sind als künftige Nutzer im Gespräch. Wie ein Fels in der Brandung hat die alte Eisfabrik von 1919 sich allen Planungen widersetzt. Das seit über 20 Jahren von Künstlern bewohnte Gebäude ist jetzt von modernen, architektonisch gelungenen Appartementblocks mit großen, üppig begrünten Dachterrassen und verglasten Penthäusern umstanden. Hier ist Wohnraum und vielleicht auch –Qualität entstanden, von denen die alteingesessenen Anwohner des 13. Arrondissements wohl nur träumen können wie Thierry Catelan von der Bürgerinitiative Espace 13 bestätigt.

    "Traditionell ist dies ein Stadtviertel, in dem die meisten Menschen ihr Geld im öffentlichen Dienst verdienen, bei der Post oder der Bahn. Das sind eher bescheidene Einkommen. Und diese Bewohner haben doch das Recht, hier auch weiterhin zu wohnen. Aber wenn man ein Viertel von Grund auf verändert, dann steigen zwangsläufig auch die Mietpreise. Und das wird auf lange Sicht viele Anwohner zwingen, wegzuziehen."

    Wie steht es nun mit der Funktion der riesigen Betonplatte in Form der breiten Avenue de France, die den Bewohnern des 13. Arrondissements endlich wieder den Weg hin zum Seine-Ufer öffnen sollte? Sie steigen jetzt mehrere Stufen empor und stehen dann vor den einst von Staatspräsident Francois Mitterand gewünschten symbolträchtigen Türmen der riesigen Nationalbibliothek. Einige werden dann sicher heute schon dem Blick auf vorbeifahrende Güterzüge nachtrauern.