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Die Rückkehr nach Europa

Als sich die baltischen Völker vor zehn Jahren unabhängig machten, hatten sie sich viel vorgenommen. Der estnische Präsident Lennart Meri sprach 1993 in einer Fernsehansprache von der "Rückkehr" nach Europa. Seither tun Esten, Letten und Litauer vieles, um nicht mehr mit Russland und der ehemaligen Sowjetunion in Verbindung gebracht zu werden.

Jan Pallokat |
    Mental und kulturell waren die baltischen Völker Mitteleuropa stets näher, als es die geografische Lage vermuten ließe. Seit der Zeit der Hanse prägte eine deutsch-adelige Oberschicht Städte, Landschaften und Wirtschaftsleben vor allem im heutigen Lettland und Estland. Auch als nach dem nordischen Krieg die "baltischen Provinzen" Teil des Zarenimperiums wurden, ließen sich die baltendeutschen Adeligen eine Vielzahl von Privilegien garantieren. Dadurch entwickelte sich das Baltikum anders als andere Provinzen des Zarenreichs. So wurde die Leibeigenschaft in Estland formal bereits zu Beginn des 19.Jahrhunderts abgeschafft.

    Doch nicht nur kulturell gehören die Balten eher dem mittel- als dem osteuropäischen Kulturkreis an. Die kleinen Länder zählten zwischen den Weltkriegen während einer ersten kurzen Phase der Unabhängigkeit zu den wohlhabenderen Staaten Europas. Im industriellen Bereich gab es vielversprechende Ansätze etwa in der Foto- und Radiotechnik. Die Esten erinnern sich gern, wie einstmals finnische und polnische Gastarbeiter ihr Glück im damals reicheren Estland suchten. Doch die fünfzigjährige Zugehörigkeit zur Sowjetunion hat die Balten weit zurückgeworfen.

    Denn die kommunistischen Machthaber zögerten nicht, die gesellschaftlichen Strukturen radikal zu verändern. Auf dem Lande kam es zu Zwangskollektivierungen. 100.000e Esten, Letten und Litauer wurden in die eisigen Steppen Sibiriens deportiert. Zugleich kam es zur forcierten Einwanderung vornehmlich russischsprachiger Industriearbeiter. Die Industrialisierung wurde in Teilbereichen vorangetrieben. Baltische Kombinate spezialisierten sich und produzierten nun massenhaft für die Bedürfnisse der gesamten Sowjetunion, vor allem Konsumgüter. Lettland lieferte Telefonapparate und Eisenbahnwaggons für das Riesenland.

    Mit ihrer "Rückkehr nach Europa" wollen die Balten nun sich und der Welt beweisen, dass die fünfzigjährige Geschichte der baltischen Sowjetrepubliken nur ein Ausrutscher der Geschichte war, der sie vom "europäischen Kurs" abbrachte. Sie zögerten nicht, die Relikte der Sowjetzeit zu schleifen wie die Lenin-Statuen, die überall im Baltikum zur Wendezeit umgerissen und zerschlagen wurden.

    Begriffe, Moden und Status-Symbole des Westens wurden in kürzester Zeit kopiert. Neue Werte sollen gelten: "Eigentum", zuvor eher ein Schimpfwort, wurde plötzlich wieder zum schützenswerten Gut. In Estland trieb diese Neubewertung seltsame Blüten: Tausende Esten verloren ihr Haus, das sie irgendwann in der Sowjetzeit zugewiesen bekommen hatten, weil plötzlich ein Alteigentümer sein Eigentumsrecht aus der Zeit vor Stalin geltend machte. In aller Regel ging das Recht des Alteigentümers vor dem Gewohnheitsrecht der neuen Bewohner. Entschädigungen waren nicht vorgesehen.

    Gesetzliche Grundlagen, Arbeitsabläufe, Rahmenpläne an den Schulen, Rentensystem und Versicherung - so gut wie alle Lebensbereiche formten die Balten innerhalb kürzester Zeit um. Und das Tempo der Veränderung hält an. Andris Skele wurde nach einer zweijährigen Pause im vergangenen Jahr erneut lettischer Premierminister. Er erkennt sein Land kaum wieder.

    Andris Skele: "Die Zeit rast in Lettland. Ein Jahr bei uns entspricht an Tempo und Druck fünf Jahren in Skandinavien, wo es ruhig und friedlich zugeht. Seit 1997 war ich nicht mehr Premier - so gesehen war ich also zehn Jahre draußen."

    Inzwischen erwecken die gläsern-glitzernden Fassaden in den drei Hauptstädten Vilnius, Riga und Tallinn den Eindruck, die Staaten seien auf dem Weg "zurück nach Europa" schon weit vorangekommen. In der Tat sind die Innenstädte am ehesten geeignet, an ein baltisches Wirtschaftswunder zu glauben.

    Mit ihren Barockgiebeln und Lastbalken verströmen die frisch restaurierten Kaufmannshäuser verströmen den Charme der Hansezeit. Daneben sind überall die Hochhaustürme von Banken und Hotels aus dem Boden geschossen. Geschäftige junge Menschen eilen in Business-Anzug und Handy zur Arbeit. In den Straßen stauen sich fast ausschließlich gebrauchte Westwagen. Die russischen Modelle sind fast ausgestorben.

    Doch die Innenstädte sind nur ein Teil der Wirklichkeit. Die andere Wirklichkeit in den Vorstädten bekommen Baltikum-Besucher nur selten zu sehen: Dort schlafen die Menschen zu Tausenden in heruntergekommenen Plattenbehausungen wie zu Zeiten des Sozialismus.

    Auf dem Land hat ein Bauernsterben eingesetzt. Die Balten können und wollen sich keine künstlichen Agrarsubventionen leisten. Wo es sie - wie in Litauen - noch in nennenswerter Form gibt, werden sie auch in kürze zusammengestrichen. "Wir haben", sagt ein estnischer Spitzenpolitiker, "im europäischen Vergleich noch immer zu viele Bauern."

    Bei Durchschnittslöhnen von rund 500 Mark haben junge, kreative Leute meist gleich mehrere Jobs zugleich. Die Mieten erreichen beinahe Westniveau. Staatseingriffe unterbleiben mangels Geld fast überall. Allein der Markt entscheidet über Erfolg und Mißerfolg. Er macht Börsenmakler und Manager zu den hochbezahltesten Menschen im Baltikum. Lehrern oder Staatsbediensteten hingegen bleibt wenig. In Lettland streikten vor Weihnachten die Lehrer für eine Verbesserung ihrer Lage.

    Das Institut für internationale und soziale Studien in der estnischen Hauptstadt Tallinn veröffentlichte vergangenes Jahr eine Untersuchung über Gewinner und Verlierer der Wende in Estland.

    Die Forscher fanden heraus, dass etwa der Bildungsgrad kein entscheidener Aspekt für den Erfolg in der neuen Zeit ist. Dagegen machten sich Kontakte ins Ausland bezahlt. Auch die Privilegierten aus der Sowjetzeit wurden von den Forschern häufig als "Sieger" eingestuft. Während der eiligen Privatisierungen nach der Wende konnten die einstigen Kombinatsdirektoren vielfach alte Pfründe durch neue ersetzen.

    Eines aber verbinde in Estland "Sieger" wie "Verlierer", so Anu Narusk, eine der beteiligten Forscherinnen:

    Anu Narusk: "Der Gesamteindruck ist, dass selbst die sehr optimistisch waren, die wir als Verlierer einstuften. Sie hoffen dass sie in naher Zukunft alles durchgestanden haben werden. Viele sehen, dass alle ähnliche Probleme haben, und vergleichen sich mit den anderen. Anfangs dachten sie, es würde fünf bis zehn Jahre dauern - jetzt sagen sie, Estland braucht nochmal fünf bis zehn Jahre."

    Dieser Optimismus fällt auf bis hin zu den baltischen Rentnern, die mit ihren Mini-Renten unbestreitbar zu den größten Verlierern der Wende gehören. Der baltische Optimismus, der in keiner Wirtschaftsstatistik auftaucht, mag ein Grund für den Reformerfolg der Balten sein.

    Seit die Europäische Union Ende letzten Jahres nun auch Lettland und Litauen offiziell zu Beitrittsgesprächen eingeladen hat, erstarkt der Optimismus auch in der lettischen Hauptstadt Riga erneut. Premierminister Skele.

    Skele: "Wie werden bald zu den Ländern aufschließen, die zuerst zu den Beitrittsgesprächgen eingeladen wurden. Ich denke, Sie können das sehen und spüren, wenn sie durch die Straßen Rigas gehen: Lettland ist voller Ambitionen und Selbstvertrauen."

    Gleich 15 Kapitel des EU-Anforderungskatalog will Skele mit dem Beginn der Verhandlung Mitte Februar angehen. Das ist mehr, als die meisten der bereits in den Verhandlungen stehenden Staaten bislang geschafft haben.

    Der feste Glaube an sich selbst erleichtert den Balten, dass hohe Tempo der Veränderung zu ertragen. Die "Rückkehr nach Europa" war für die Balten von vorneherein mit einem klaren Bekenntnis zur Marktwirtschaft verbunden.

    Doch der Markt kam nicht in mehreren Schritten ins Baltikum, sonden als Schocktherapie über Nacht. Der Ökonom Andreas Polkowski vom Hamburger Weltwirtschaftsarchiv HWWA analysiert im Auftrag der Bundesregierung die baltischen Staaten.

    Andreas Polkowski: : "Wir haben es hier mit einem historischen Prozess zu tun, der nicht einmal zehn Jahre alt ist und seinesgleichen sucht. Noch vor zehn Jahren waren die Balten Teil des russischen Reiches, Mitglied des Warschauer Paktes, des RWG, hatten eine kommunistische Regierung. Heute gehören die drei Staaten, Estland, Lettland und Litauen, als unabhängige Staaten der Weltgemeinschaft an. In ihrer Politik lassen sie sich von demokratischen Prinzipien leiten. Ihre Wirtschaftssysteme sind in der Marktwirtschaft verankert, ihre Volkswirtschaft ist mit der EU assoziiert."

    Direkt nach Ende der Sowjetunion durchlitten die baltischen Staaten schwere Wirtschaftskrisen. Die Währung verfiel, der Schwarmarkt blühte. Die Regierungen reduzierten die Staatsausgaben drastisch. Mieten, zuvor auf symbolischer Höhe, wurden um ein vielfaches erhöht. Die Arbeit an den baltischen Börsen wurde wieder aufgenommen, die Privatisierung der Staatsbetriebe wurde angeschoben, Unternehmertum zugelassen.

    Von vorneherein achteten die baltischen Staaten auf die makroökonomischen Grundgrößen, auf niedrige Inflationszahlen und Wachstum. Entgegen westlicher Empfehlungen konnten sich die Balten nicht auf eine Einheitswährung einigen. Das neue Geld koppelten sie fest an eine westliche Ankerwährung: Die estnische Krone ist an die Mark, der litauische Litas an den Dollar, und der lettische Lats an einen gemischten Währungskorb gebunden.

    Diese Maßnahmen führten schließlich bei den makroökonomischen Maßzahlen zum gewünschten Erfolg. Mitte der Neunziger Jahre setzte ein stabiles Wachstum zwischen vier und zehn Prozent ein, die Inflationsrate sank bis auf unter drei Prozent.

    Im August 1998 schlitterte das benachbarte Russland in eine Finanzkrise. In wenigen Wochen verfiel der Rubelkurs. Spargelder lösten sich in Luft auf, mittelständische Existenzen waren über Nacht zerstört. In St. Petersburg, 300 Kilometer östlich der estnischen Hauptstadt, organisierte der Bürgermeister den Lebensmittelnotverkauf vom Lastwagen aus.

    Die Balten beobachteten die russische Finanzkrise mit großer Sorge. Zwar hatten sie in den Jahren zuvor viel dafür getan, die engen ökonomischen Bindungen zu Russland zu lockern, stattdessen mit dem Westen engere Handelsbeziehungen zu knüpfen. Doch genügte das bereits, eine Krise im übermächtigen Nachbarland zu überstehen? Würden auch die baltischen Währungen in einen Abwertungsstrudel gerissen?

    Eine erste wichtige Bewährungsprobe überstanden die Balten. Während die Russen auf den Rubel nichts gaben und nach Panikverkäufen Dollar horteten, vertrauten die Balten mehrheitlich ihren Währungen, hörten auf die Beteuerungen ihrer Zentralbanker. Die Schlangen an den Wechselstuben blieben kurz.

    Dennoch blieben Auswirkungen nicht aus. In Litauen meldeten sich über Nacht tausende junge Männer arbeitslos. Zuvor hatten sie in riesigen Automärkten nahe der russischen Grenze Gebrauchte aus Deutschland weiter nach Osten verkauft. Jetzt blieben die Kunden aus dem Osten, ihrer Barmittel beraubt, schlagartig weg.

    Immer noch hatten die Balten im großen Maße Waren nach Russland verkauft, vor allem Lebensmittel. Auch hier wurden die wichtigsten Abnehmer über Nacht zahlungsunfähig. Betriebe der lebensmittelverarbeitenden Industrie schickten tausende Mitarbeiter in den unbezahlten Sonderurlaub. In Litauen blockierten erbosten Zuckerrüben-Bauern die Straßen, weil die Werke der zuckerverarbeitenden Industrie nichts mehr zahlen konnten.

    Mit etwa halbjähriger Verspätung hatte die Russland-Krise das Baltikum im Frühjahr 1999 voll erfasst. Nun schlug sie sich auch in der Statistik nieder. Erstmals seit den Wende-Wirren mussten sich die Balten mit der Tatsache anfreuden, dass auch ihr Sozialprodukt sinken kann.

    Der lettische Ministerpräsident Skele zieht dennoch ein positives Fazit dieser Erfahrung. Den Drang "zurück nach Europa" habe diese Erfahrung nur weiter verstärkt.

    Skele: "In den letzten zwei Jahren haben unsere Unternehmer die Illusion aufgegeben, dass sie sich an die früheren Märkte halten können, dass sie Produkte minderer Qualität verkaufen können. Damit meine ich die östlichen Märkte und besonders Russland. Ich muss sagen: Der Anteil der Ex- und Importe nach Russland hat abgenommen auf sieben Prozent für Exporte und nur neun Prozent für Importe. Unsere Unternehmer haben bewiesen, dass sie sich unter radikal veränderten Bedingungen umorientieren können."

    40 bis 60 Prozent der baltischen Exporte gehen inzwischen in die EU, Russland ist für Estland heute ein genauso wichtiger Handelspartner wie Dänemark. Und seit Herbst 1999 wachsen die baltischen Ökonomien wieder.

    Doch ein genauerer Blick auf die einzelnen Länder lohnt. Denn "Baltikum" ist ein Kunstbegriff, und jedes Land entwickelt sich unterschiedlich.

    Den Ruf des baltischen Musterländles schlechthin hat sich Estland erarbeitet. Obzwar beim Neuanfang in starkem Maße von Finnland unterstützt, hatten die Esten von Anfang an den am klarsten marktliberal ausgeprägten Kurs eingeschlagen.

    Das Land verzichtete weitehend auf Zölle und Subventionen. Es gibt einen linearen Einkommenssteuersatz von 26 Prozent. Reinvestierte Gewinne sind seit Anfang des Jahres völlig steuerfrei.

    Die Reformpartei, eine der Koalitionspartner der derzeitigen Regierung, hält, was ihr Name verspricht. Heiki Kranich ist einer ihrer führenden Köpfe.

    Heiki Kranich: "Es ist zu früh, vom Verteilen zu sprechen. Estland ist so klein, jeder Fehler wird sofort Folgen haben. Natürlich, die Politiker lieben es, irgendetwas zu versprechen. Aber es ist zu früh zu denken, dass wir einen Zustand erreicht haben, den wir ohne weiteres beibehalten können. Der Wettbewerb zwischen den postsozialistischen Ländern ist sehr hart. Von außen sieht es vielleicht alles gut aus, gute Wirtschaft, gute Entwicklung. Aber von innen sehen wir, es reicht noch nicht angesichts des Wettbewerbs in Europa. Wir brauchen neue Ideen, wir müssen einen Weg finden, diese Entwicklung fortzuführen."

    1999 erzielte Estland laut einem UN-Report die höchste Zahl ausländischer Pro-Kopf-Direktinvestitionen in ganz Mittel- und Osteuropa, weit mehr als etwa Deutschland. Doch das Land ist mit rund anderthalb Millionen Einwohnern der kleinste der baltischen Staaten. In Litauen, mit mehr als dreieinhalb Millionen Einwohnern das größte Land, fällt die Zwischenbilanz derzeit schwächer aus.

    Litauen wurde von den Auswirkungen der russischen Finanzkrise am schwersten getroffen. Der Agrarsektor und die mit ihm verbundenen Russland-Exporte Litauens machten vor der Krise einen weitaus größeren Anteil aus als dies in Lettland und Estland der Fall war. Und: Während die beiden kleineren baltischen Staaten inzwischen mehrheitlich nach Westen exportieren, ist die ökonomische Abnabelung von Russland Litauen weit weniger gelungen. wie Stefan Polkowski vom HWWA betont.:

    Stefan Polkowski: : "Alle drei Länder versuchen sich der Weltwirtschaft anzuschließen, insbesondere der EU. Wenn wir uns den Außenhandel anschauen, dann stellen wir fest, dass der Anteil der Exporte in die EU bei etwa 60 Prozent liegen, in Litauen 40 Prozent. Die Exporte in die GUS-Staaten spielen in Estland und Lettland mit einem Anteil von rund 20 Prozent eine geringere Rolle als in Litauen, wo dieser Anteil noch 36 Prozent beträgt."

    Zwar sank das Bruttosozialprodukt 1999 im Gefolge der Rubel-Krise auch in den anderen baltischen Staaten kurzzeitig. Aber mit einem Rückgang um fünf Prozent im dritten Quartal 1999 im Vergleich zu 1998 fiel dieser Rückgang in Litauen besonders schmerzlich aus.

    Wegen des wirtschaftlichen Einbruchs blieben die litauischen Staatseinnahmen 1999 weit hinter den Plangrößen zurück. Das Land, wegen einer Reihe hausgemachter Probleme ohnehin in einer angespannten Fiskal- und Budgetsituation, geriet damit endgültig in eine Finanznöte.

    Jetzt rächt sich, dass in Litauen manche der Reformen nur halbherzig umgesetzt wurden, sagen westliche Ökonomen. Die hatten dem Land etwa geraten, das Geld aus der "Telekomas"-Privatisierung in den Aufbau eines Rentensystems zu investieren. Doch die litauischen Konservativen um Vytautas Landsbergis hatten seinerzeit im Wahlkampf versprochen, eine Kompensation für die in der Zeit der Hyper-Inflation am Ende der Sowjetunion entwerteten Rubel-Konten zu finanzieren.

    Heute wächst das Defizit der Sozialversicherung "SoDra" immer weiter und belastet den defizitären Haushalt zusätzlich. Weitere Staatsbetriebe, der Elektrizitätsversorger oder die Öl und Gasbranche machten 1999 Verluste. Eine zusätzliche Belastung ergab sich aus der Privatisierung des Ölkomplexes "Mazeikiui Nafta " an der Ostsee, der rund 10 Prozent des litauischen Sozialprodukts erwirtschaftet.

    Der politisch gewollte Verkauf des Komplexes an den US-amerikanischen Ölkonzern "Williams" - auch die russische Lukoil hatte sich interessiert - wurde hinter verschlossenen Türen unter nie ganz geklärten Bedingungen ausgeklüngelt. Am Ende verpflichtete sich Litauen, Williams 700 Millionen für die sukzessive Übernahme der Anlage zuzuschießen - für das kleine Land eine hohe Summe. Premierminister Rolandas Paksas legte aus Protes gegen diesen "Ausverkauf" sein Amt nieder. Bereits wenige Monate zuvor war mit Gediminas Vagnorius bereits ein anderer Regierungschef zurückgetreten.

    Im Herbst 1999 wurde die Finanzlage Litauens vollends prekär. Die Staatsschulden wuchsen auf 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (GDP) und drohten weiter zu steigen, dass Haushaltsdefizit übertraf bei weitem die Marge des Internationalen Währungsfonds (IWF) von 2 Prozent des Sozialprodukts.

    Mangels eigener Mittel sind alle baltischen Länder auf ausländische Geldgeber dringend angewiesen. Die aber entzogen angesichts all dieser Probleme Litauen das Vertrauen. Im Herbst fanden neu ausgegebene Staatsanleihen zweimal hintereinander überhaupt keinen Interessenten mehr. Jetzt zog die Regierung die Notbremse.

    Die neue - wiederum konservative - Regierung um Premier Andrius Kubilius ging sofort daran, eine Reihe von IWF-Forderungen zu erfüllen. Als erstes stoppte Kubilius nun doch die Rubelkonten-Kompensationen. Doch das ist bei weitem nicht alles: Auch eine Reihe staatlich regulierter Preise für Fernwärme oder Telefon-Ortsgespräche wurden oder werden inzwischen freigegeben - eine alte Forderung westlicher Bankenvertreter und des IWF.

    Und mit der Verständigung mit dem Währungsfonds waren plötzlich auch die westlichen Geldgeber wieder da, die dem Land nun wieder Staatsanleihen abkauften. Gediminas Rainys, langjähriger Berater verschiedener Regierungschefs, hat seine Lektion gelernt.

    Gediminas Rainys: "Die Situation ist relativ schwierig. Die russische Krise war ein Hauptproblem, obwohl wir uns bereits stark nach Westen um orientiert hatten. Was den Außenhandel betrifft, lagen wir schon bei 50 zu 50 im Vergleich West- und Osthandel. 1999 hatten wir einen Haushaltsdefizit von etwa 100 Millionen US-Dollar. Dieses Budget wird über Bankkredite finanziert, aber irgendwann müssen die Schulden abbezahlt werden. Man kann die Probleme auf diese Art nur eine Weile vor sich herschieben. Drittens die Landwirtschaft: Wir haben immer noch eine Menge Exportsubventionen und Einfuhrbeschränkungen. Ich denke, dass belastet den Haushalt zu sehr."

    Viele Litauer mit geringen Einkommen erleben knapp 10 Jahre nach der Wende einen Winter, der sie ärmer macht als je zuvor. Kritiker der litauischen Konservativen bemängeln, dass diese Einschnitte besser zu Beginn der Unabhängigkeit hätten durchgeführt werden müssen - eine Schocktherapie, wie sie sich Letten und Esten unterzogen, einen Eilmarsch "zurück nach Europa".

    Zufall oder nicht: Die litauische Geschichte verlief anders als die der Letten und Esten. Sie hatte weniger mit deutschen Baronen und der Hanse zu tun, sondern war ostwärts orientiert. In einer Doppelmonarchie mit Polen regierten litauische Fürsten ein mittelalterliches Großreich, dass bis ans Schwarze Meer und weit über die heutige Ukraine reichte. Erst im 18. Jahrhundert verlief die baltische Geschichte wieder einheitlich, als alle drei Länder ins Zarenreich eingegleidert wurden.

    Doch bei Letten und Esten ist Schadenfreude über die aktuellen Schwierigkeiten des baltischen Bruders nicht angebracht. Immer mehr setzt sich die Einsicht durch, dass Kleinstaaterei wenig bringt: Jeder für sich sind die baltischen Staaten einfach zu klein - vor allem im Vergleich mit dem Riesenmarkt Russland nebenan.

    Ein deutscher Safthersteller verkauft in einer russischen Provinzstadt genausoviel wie im ganzen Baltikum - muss dort aber seine Tüten in drei verschiedenen Sprachen, mit verschiedenen Preisen und Hinweisen beschriften, sich mit drei unterschiedlichen Steuerregelungen und Gesundheitsvorschriften befassen. Und statt die lukrativen Transitgeschäfte mit russischem Öl und Gas über die eisfreien Ostseehäfen gemeinsam abzuwickeln, konkurrieren hier Lettland und Litauen heftig.

    Wer von Helsinki nach Warschau fährt, muss innerhalb von tausend Kilometern vier Grenzen passieren. Am schnellsten setzt sich die Einsicht vom Widersinn der Kleinstaaterei an den Kapitalmärkten durch. Uldis Cerps ist Chef der Börse Riga.

    Uldis Cerps: :"Wir können doch nicht zu einem in London residierenden Investor gehen und sagen: Hier, wir haben viele gute lettische Betriebe. Wir müssen ein Produkt namens "Baltikum" verkaufen. Denn die Idee ist, im Baltikum zu investieren, nicht in Lettland oder Estland, das ist unser Konzept."

    Bislang musste, wer etwa in die baltische Telekom investieren wollte, sich jeweils die nationalen Telekommunikationsunternehmen an drei Börsenplätzen mühsam zusammenkaufen - und dabei auch noch mit drei verschiedenen Währungen hantieren.

    Eine gemeinsame "Baltische Liste", die die wichtigsten Aktien aus den drei Staaten zusammenfasst, ging nun zum Jahresanfang an den Start. Sie gilt allerdings nur als Zwischenetappe auf dem Weg zur vollen Integration in "Norex", einer skandinavischen Börsenkooperative. Schon im nächsten Jahrzehnt, so die Vision der Ostsee-Anrainer, können im Norex-Rahmen schwedische, litauische oder estnische Wachstumswerte überall rund um die Ostsee zu gleichen Bedingungen gehandelt werden.

    Cerps: "Der wichtigste Garant für Sicherheit sind nicht Nuklearwaffen oder die NATO, sondern ausländische Investitionen. Und diese Investitionen kommen regelmäßig nicht aus Deutschland, sondern aus Skandinavien. Alle großen skandinavischen Banken sind im Baltikum präsent. Alle drei Telekoms haben inzwischen skandinavische Besitzer, alle Mobilfunkanbieter ebenfalls. Es gibt ein nordisches Interesse an Gas und Energie. Für die Nordeuropäer sind ihre Märkte zu klein. Wohin sollen sie expandieren? Nach Polen? Sie gehen ins Baltikum, dort leben genauso viele Menschen wie im größten skandinavischen Land, in Schweden."

    Der Weg der Balten "zurück nach Europa" entwickelt sich immer mehr zur Fahrt nach Skandinavien. Deutschland spielt eine überraschend kleine Rolle im Baltikum. Wenn deutsche Investoren überhaupt ins Baltikum kommen, dann sind oft Schweden, Finnen oder Dänen schon da. Marcis Gobins, Repräsentant der deutschen Wirtschaft in Lettland, findet das deutsche Engagement enttäuschend.

    Marcis Gobins: : "Obwohl Deutschland als Handelspartner an 1. Steller steht, seit Herbst 98, sehr positive Tendenz natürlich. Aber die Investitionen lassen noch auf sich warten. Da ist Deutschland an 6. Stelle in Lettland, fällt also ziemlich ab hinter mehreren westeuropäischen Ländern und Skandinavien natürlich."

    An den drei deutschen Botschaften im Baltikum ist man bereits geübt, die Regierungen zu vertrösten und bereits angekündigte Staatsbesuche wieder abzusagen. Da unterscheidet sich der neue nur wenig vom alten Bundeskanzler, der nicht einen echten Staatsbesuch ins Baltikum absolvierte.

    Bei Kohl lag das Desinteresse auch an der Furcht, den Duz-Partner Boris Jelzin zu verprellen. Jelzin, zu Gorbatschows Zeiten noch ein Anwalt der Balten, wandelte sich schnell zum Vertreter russischer Großmachtsansprüche auch gegen das Baltikum.

    Als Hebel für russische Kritik an den Balten dienten Moskau die großen russischen Minderheiten vor allem in Lettland und Estland. Russen und Ukrainer, in der Sowjetzeit ins Baltikum eingewandert, dominieren in manchen Stadtteilen der größeren Städte, insbesondere in den Hauptstädten Riga und Tallinn. In Lettland stellen sie knapp die Hälfte der Bevölkerung.

    Fast immer, wenn Esten und Letten das schwierige Verhältnis mit diesen Minderheiten regeln wollten, etwa Sprach- oder Staatsbürgerschaftsgesetze aufstellen, kommentiert Moskau mit harten Worten, spricht von Diskriminierung und Unterdrückung. Doch Esten und Letten machten es dem Kreml auch leicht. Viel zu oft verstehen sie die großen Minderheiten als Bürde denn als Chance.

    Dabei versteht sich die große Mehrzahl der Baltenrussen keineswegs als fünfte Kolonne Moskaus. Sie erkennen in den kleinen Ländern weit bessere Perspektiven als im ewig kriselnden Heimatland. Westliche Vertreter beobachten seit langem, dass gerade die jungen Baltenrussen dem Weg der Balten "zurück nach Europa" vieles abgewinnen können, weil sie sich im multikulturellen Kontext der Europäischen Union auch persönliche Vorteile erhoffen.

    Doch immer wieder werden bereits überstanden geglaubte Kämpfe ausgefochten. Zuletzt sorgte das lettische Parlament im Sommer für Kopfschütteln, als es per Sprachgesetz den Gebrauch der lettischen Sprache bis in Privat-Unternehmen hinein vorschreiben wollte. Erst das Veto der Präsidentin Vika-Freiberga stoppte das Gesetz.

    Dabei sind die meisten Balten selbst mit russischer Sprache, Mentalität und Geschäftsgebaren bestens vertraut und deswegen als Mittler zwischen Ost und West prädestiniert. Zumal sie zugleich durch ihre "europäischen" Sitten und Gebräuche auch westlichen Partnern mehr Vertrauen einflössen können als mancher Geschäftsmann aus dem fernen Osten Russlands oder dem Kaukasus.

    Der Eilmarsch "zurück nach Europa", das dämmert vielen, kann indes nicht alles sein. Die Frage ist: Welche Rolle wollen die Balten dort spielen? Und wie lässt sich die Nähe zu Russland ausnutzen?

    Ökonomen wie der Baltikum-Experte Polkowski vom HWWA in Hamburg zollen den Balten zwar Respekt für diesen Aufbau der institutionellen Rahmenbedingungen in Rekordzeit. Jetzt aber müsse das ökonomische Rahmenwerk mit Inhalten gefüllt werden.

    Polkowski: "Welche Strategie wollen die Länder verfolgen – Low-cost oder High-Tech? Kernpunkt der Low-Cost-Strategie ist eine verstärkte Spezialisierung auf Arbeitsintensiven Gütern und damit auf die Ausnutzung der Kostenvorteile in Form von niedrigen Löhnen. 14’20 Längerfristig scheint die Verfolgung einer Low-Cost-Stratetegie wenig sinnvoll. Denn aufgrund ungünstiger Nachfragebedingungen und ungünstiger Angebotsbedingungen, ist die ungeeignet einen langen Aufholprozess zu tragen."

    Erste Firmen aus der Software- und Informationstechnologie-Branche behaupten sich auf dem Weltmarkt. So beschäftigt ein lettischer Softwareentwickler mit Sitz in Riga allein 100 Mitarbeiter für Projekte, bei denen deutsche Firmen beteiligt sind. Dazu gehört auch die Chartergesellschaft LTU. Für die LTU pflegen und entwickeln die Letten die Betriebsoftware und sind dazu per Standleitung mit den Deutschen verbunden.

    Polkowski: Man muss sich Nischen aussuchen, in Bereichen, wo man gute Ansatzpunkte hat, weiter machen. Natürlich: Die Verfolgung der HighTech-Strategie ist mit enormen Kosten verbunden, denn man muss die bestehende Lücke schließen. Alle drei Länder haben den großen Vorteil, dass sie gut ausgebildete Arbeitskräfte haben. Darauf kann man bauen, dass kann man entwickeln.

    Wie auf allen Feldern lassen sich die Balten auch in technologischen Fragen nicht viel Zeit. Die Zahl der Internet-Anschlüsse etwa verbreitet sich rasant. Eine estnische Bank ermittelte, dass ihre Kunden schon ähnlich zahlreich zum Internet-Banking greifen wie die Kunden skandinavischer Geldinstitute. Und die Prognosen für den Handy-Markt deuten daraufhin, dass die Balten bald auf westeuropäische Verbreitungsgrade in diesem Bereich aufgeschlossen haben werden.

    Die Forderung nach der technologischen Nische scheint dennoch übereilt, macht man sich klar, dass die baltischen Staaten noch vor zehn Jahren Teil des sowjetischen Wirtschaftsystems waren. Aber es passt zum Reformtempo, das die Balten bislang vorgelegt haben.

    Die makroökonomischen Basisdaten werden jedenfalls in diesem Jahr voraussichtlich wieder stimmen. Die Prognosen gehen für dieses Jahr wieder von Wachtsumsraten zwischen vier und fünf Prozent aus.