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Die Scham ist vorbei

Nicht allen Philharmonikern und Sängern aus Prag war vermutlich wohl in ihrer Haut, als sie am vorletzten Wochenende den Kölnern die Kantate "Heil Stalin" kredenzten. Vladimir Ashkenazy versuchte mit einem großen Parcours, die Erinnerung an einen versunkenen osteuropäischen Musikkontinent wach zu halten. Doch die Mittel, das Prekäre, das Opportunistische und Zynische der von Prokofjew, Schostakowitsch & Co. für die große Diktatur gelieferten Stücke zu problematisieren, erwiesen sich als unzulänglich. So wurde die totalitäre Musik als Faszinosum beklatscht. Die Begeisterung ist jener für die Arbeiten der Leni Riefenstahl vergleichbar.

Ein Beitrag von Frieder Reininghaus |
    Das opus 85 von Sergei Prokofjew, einem der "Jubilare" des Jahres 2003, pries unmittelbar vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs den "erfolgreichen Führer im Kreml, der Frieden bringt", als dieser sich gerade mit Hitler auf die Teilung Polens verständigt hatte. Die Hauptaussage – "Wir sind auf dem richtigen Weg" – fand eine grandiose musikalische Form: sie wurde nationalistisch-stolzgeschwellte Musik, bei der jede ausgestreckte Chor-Gerade, jeder Orchesterhieb sitzt. Und die so mancher auch heute gerne zur Brust nimmt.

    Nicht anders ergeht es dem "Lohengrin" von Richard Wagner, der im Seelenhaushalt der großen deutschen Diktatur einen besonderen Stellenwert einnimmt. Auch beim Umgang mit ihm darf ein hinreichendes Maß an Geschichtsbewusstsein und Sensibilität eingefordert werden – wenn denn dies unsägliche Machwerk überhaupt noch auf die Bühne gehievt werden muss. Christian Thielemann, Generalmusikdirektor in West-Berlin, wollte die Gelegenheit der – aus welchen Gründen auch immer – auf den 30. Januar gerutschten Wiederaufnahme-Premiere des "Lohengrin" an der Deutschen Oper dazu nutzen, die Musik, wie er sagte, "ganz in originaler Gestalt" zur Geltung kommen zu lassen. Das bedeutete, dass auch jene Passagen im Dritten Aufzug, die seit 1945 in der Regel – und auch in der Inszenierung von Götz Friedrich – gestrichen wurden, wieder erklingen: "Nach Deutschland sollen noch in fernsten Tagen / des Ostens Horden siegreich niemals zieh'n!"

    Die Leitung des Hauses an der Bismarckstrasse sah die kontaminierten Textpassagen als nicht wirklich problematisch an. Sie wollte "die ganze Sache entideologisiert" wissen, wie die Chefdramaturgin Brunhild Matthias erklärte. Aber es muss sich dann doch Widerstand beim singenden Personal geregt haben. Das sah doch ein Problem darin, in leuchtendem D-Dur zu verkünden: "Oh zieh uns nicht von dannen! Des Führers harren deine Mannen!" – Diese Zumutung ist jetzt an ihnen und an uns vorübergangen. Dank dem Tenor! Der Sänger der Titelpartie bemerkte, dass er die ominöse Strophe so schnell nicht lernen könne. Da witzle noch einer über die Dummheit der Tenöre: seine Lernschwäche hat die Deutsche Oper Berlin vor dem nächsten Skandal bewahrt.

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