Törtel ist die Schildkröte aus dem McGrün. Das ist ein Baumarkt. Die Schildkröte hat nie die Natur gesehen. Kunstlicht, Kokosstreu und Wärmestrahler sind ihr vertraut. Später soll sie gekauft werden und mit Naturersatzmaterialien ihr Leben absitzen. Doch dann kommt alles anders: Törtel landet auf der Straße und wird mit unerwartet viel Natur konfrontiert. Im grünen Teil Ost-Berlins trifft Törtel auf Grrmpf, den wilden Eber, seine Frau Brünhilde mit den Frischlingen Lisa, Lina, Ada, Ida, Herma und klein Grrmpf, auf Zlatko, Memet und Miroslaw, die Waschbären, auf Kevin, den Marder und auf einen Fuchs namens Wendy. Wieland Freund führt uns mitten ins Leben eines fiktiven, aber real anmutenden Berliner Vororts: Müggeldorf. Kerstin Meyer hat die Geschichte mit witzigen Bildern illustriert.
Die Tiere haben höchst menschliche Probleme. Montags treffen sie sich an der Mole zum gemeinsamen Meeting. Aber da geht der Stress schon los. Die einen können, die anderen wollen nicht; es gibt notorische Zuspätkommer und natürlich eine ordentliche Hackordnung. Als Törtel zum ersten Mal an der Mole auftaucht, wird er inspiziert:
"Was ist das?" , brummte Grrmpf. Der Keiler hatte kleine, schwarze Augen und sah drein, als hätte ihm jemand eine faustdicke Lüge aufgetischt. Aus seinem Maul ragte ein einsamer, gefährlich großer, krummer Zahn. Der andere war vor Jahren abgebrochen. Grrmpf stierte auf Törtel herab. Die Tiere an der Mole hielten den Atem an. Törtel fürchtete sich und schwieg. Grrmpf sprach ja auch gar nicht mit ihm. "Hokuspokus?" Grrmpf hob den schweren Schädel und sah den Schwan vorwurfsvoll an. "Äh. Nun ja, sagte Hokuspokus und verdrehte seinen Hals, als würgte er etwas hinunter. Das.. also.." Voller Erwartung starrten die Tiere den Schwan an. Keiner rührte sich."
Solche Alphatiere sind uns bekannt aus der Chefetage großer Konzerne. Auch das Privatleben der menschlich anmutenden Fauna wird nicht ausgelassen. Die Wildsau Brünhilde etwa nörgelt an ihrem Eber Grrmpf herum, er versucht sein Gesicht zu wahren, weiß aber um seine Fehler. Wie in La Fontaines Fabeln führen die Tiere menschliches Verhalten vor und sind immer ein bisschen klüger als die Menschen. In dieser illustren Tiergemeinschaft vergisst man zunächst, dass sich die Tiere in einem Wohngebiet befinden. Doch dann tauchen echte Menschen auf und setzen sich gegen die Wildtiere zur Wehr. Der Rentner Lüttkewitz hasst Wildschweine:
"Müggeldorf den Müggeldorfern! Wildschweine raus! Außerdem hatte Lüttkewitz ein neues Plakat entworfen. Es zeigte einen Fuchs. Unter dem Bild stand zu lesen: Tollwut? Fuchsbandwurm? Die Angst geht um in Müggeldorf!"
Und der Kampf beginnt. Nachdem der wilde Eber den vorbildlichen Vorgarten von Lüttkewitz zerstört hat, gibt es für den Rentner kein Halten mehr. Er baut sich einen Hochsitz, setzt Leuchtraketen im Kampf gegen den Eber ein, trifft allerdings damit leider die Küche des Nachbarn. Schließlich überzeugt er den Reporter der örtlichen Zeitung, dass die unlängst geschehenen Einbrüche in den Häusern von Tieren ausgeführt wurden:
"Es sind die Tiere, die in unsere Häuser einsteigen! Die unsere Terrassentüren zertrümmern! Die ihre Keime und Krankheitserreger in unsere Häuser tragen! In unsere Wohnzimmer! In unsere Kühlschränke!" Lüttkewitz war laut geworden. Als er verstummte, wurde es im Hinterzimmer der Skatklause geradezu unheimlich still."
Wieland Freund schreibt hier eine Geschichte über unsere Zivilisation. Er schildert Natur dort, wo man sie nicht erwartet, mitten in der Stadt, in den Vorgärten, hinter den Mülltonnen. Augenzwinkernd führt uns der Autor vor, dass wir der Natur nicht entfliehen können. Und dass es auch ein bisschen seltsam ist, wenn wir die Natur in die Zivilisation einbauen. Mc Grün bietet reichlich Auswahl. Duftkerzen, eingeschweißtes Wiesenstreu und Wärmelampen. Komisch wird es bei Wieland Freund immer dann, wenn sich die Natur gegenüber der Zivilisation durchsetzt. Waschbären sind durch den Kamin in ein Wohnhaus eingedrungen. Als die Großmutter ins Haus kommt, um die Blumen zu gießen, gerät sie beim Anblick der Tiere in Panik:
"Rose Klotz' schrille Schreckenslaute waren mehr, als Törtel ertragen konnte. In der Küche saß Miroslaw. Aus irgendeinem Grund hockte der Waschbär im Spülstein. Rose Klotz' Armreifen rasselten, als schlügen sie Alarm. Rose Klotz raufte sich die Haare. "Iiiihhh!" schrie sie und immer wieder "Iiiihhh!'. Törtel hätte einiges gegeben, seine Ohren verschließen zu können."
Fast schämt sich der Leser für seinesgleichen. Und es kommt noch schlimmer. Im zweiten Band, der heißt in Anlehnung an ein bekanntes Märchen "Törtel und der Wolf”, taucht eben jener auf. Der Wolf in Müggeldorf ist "die" Schlagzeile in der lokalen Presse. Sascha Bommel, ein junger Reporter, stürzt sich auf die Story und schürt die Angst seiner Leser, wie es sich für einen Sensationsjournalisten gehört.
Törtel aber liest keine Zeitung. Er bleibt ahnungslos und darf zum Helden werden. Wie in einem Entwicklungsroman mausert sich die ängstliche Schildkröte aus dem Terrarium hin zur mutigen Begleiterin des gefürchteten Tieres. Es stellt sich heraus, dass es sich nicht um einen Wolf, sondern um einen entlaufenen Wolfshund handelt. Klug und still begleitet die Schildkröte den ängstlichen Hund. Beide haben eins gemeinsam: Sie zählen gegen die Angst.
"Und wenn du zählst?, fragte Törtel. Vielleicht traust du dich ja raus, wenn du zählst." "Wie? Zählen?", fragte Boris, als wüsste er von nichts. Er klang trotzdem, als fühlte er sich ertappt. "Na, du zählst doch", sagte Törtel. "Gegen die Angst. Ich habe es gehört. Als ich hergekrochen bin. Sechs, sieben, acht, hast du gezählt. Und wenigstens bis zwanzig." "Du hast es gehört?'" Boris klang richtig entsetzt. Oh, das ist mir so peinlich!", rief er."
Der Wolfshund wird in die Gruppe aufgenommen und schon ändert sich die Gruppenkonstellation. Grrmpf verliert seinen Status als Oberhaupt, Törtel hat jetzt was zu sagen und die anderen Tiere müssen ihre Rolle neu finden. So spiegelt sich der Mensch im Tier – und umgekehrt. Auch um Grenzen geht es in den beiden Büchern. Die vielen Zäune schützen und grenzen ab. Zäune oder Mauern entstehen auch im Kopf und beengen den Blick. Ohne Zäune geht es nicht, weder für die Tiere noch die Menschen. Diese wunderbare Tiergeschichte ist auch ein Buch über die Freiheit. Die Freiheit ist kompliziert. Törtel weiß das und mit viel Herz zeigt er, dass Freiheit und Gemeinschaft vereinbar sind. Wieland Freund sind zwei wunderbar leichte und zugleich tiefgründige Bücher für Kinder ab acht Jahren gelungen.
Wieland Freund: Törtel, die Schildkröte aus dem McGrün, 2009
Wieland Freund: Törtel und der Wolf, 2010
Beide Bücher sind bei der Verlagsgruppe Beltz erschienen.
Die Tiere haben höchst menschliche Probleme. Montags treffen sie sich an der Mole zum gemeinsamen Meeting. Aber da geht der Stress schon los. Die einen können, die anderen wollen nicht; es gibt notorische Zuspätkommer und natürlich eine ordentliche Hackordnung. Als Törtel zum ersten Mal an der Mole auftaucht, wird er inspiziert:
"Was ist das?" , brummte Grrmpf. Der Keiler hatte kleine, schwarze Augen und sah drein, als hätte ihm jemand eine faustdicke Lüge aufgetischt. Aus seinem Maul ragte ein einsamer, gefährlich großer, krummer Zahn. Der andere war vor Jahren abgebrochen. Grrmpf stierte auf Törtel herab. Die Tiere an der Mole hielten den Atem an. Törtel fürchtete sich und schwieg. Grrmpf sprach ja auch gar nicht mit ihm. "Hokuspokus?" Grrmpf hob den schweren Schädel und sah den Schwan vorwurfsvoll an. "Äh. Nun ja, sagte Hokuspokus und verdrehte seinen Hals, als würgte er etwas hinunter. Das.. also.." Voller Erwartung starrten die Tiere den Schwan an. Keiner rührte sich."
Solche Alphatiere sind uns bekannt aus der Chefetage großer Konzerne. Auch das Privatleben der menschlich anmutenden Fauna wird nicht ausgelassen. Die Wildsau Brünhilde etwa nörgelt an ihrem Eber Grrmpf herum, er versucht sein Gesicht zu wahren, weiß aber um seine Fehler. Wie in La Fontaines Fabeln führen die Tiere menschliches Verhalten vor und sind immer ein bisschen klüger als die Menschen. In dieser illustren Tiergemeinschaft vergisst man zunächst, dass sich die Tiere in einem Wohngebiet befinden. Doch dann tauchen echte Menschen auf und setzen sich gegen die Wildtiere zur Wehr. Der Rentner Lüttkewitz hasst Wildschweine:
"Müggeldorf den Müggeldorfern! Wildschweine raus! Außerdem hatte Lüttkewitz ein neues Plakat entworfen. Es zeigte einen Fuchs. Unter dem Bild stand zu lesen: Tollwut? Fuchsbandwurm? Die Angst geht um in Müggeldorf!"
Und der Kampf beginnt. Nachdem der wilde Eber den vorbildlichen Vorgarten von Lüttkewitz zerstört hat, gibt es für den Rentner kein Halten mehr. Er baut sich einen Hochsitz, setzt Leuchtraketen im Kampf gegen den Eber ein, trifft allerdings damit leider die Küche des Nachbarn. Schließlich überzeugt er den Reporter der örtlichen Zeitung, dass die unlängst geschehenen Einbrüche in den Häusern von Tieren ausgeführt wurden:
"Es sind die Tiere, die in unsere Häuser einsteigen! Die unsere Terrassentüren zertrümmern! Die ihre Keime und Krankheitserreger in unsere Häuser tragen! In unsere Wohnzimmer! In unsere Kühlschränke!" Lüttkewitz war laut geworden. Als er verstummte, wurde es im Hinterzimmer der Skatklause geradezu unheimlich still."
Wieland Freund schreibt hier eine Geschichte über unsere Zivilisation. Er schildert Natur dort, wo man sie nicht erwartet, mitten in der Stadt, in den Vorgärten, hinter den Mülltonnen. Augenzwinkernd führt uns der Autor vor, dass wir der Natur nicht entfliehen können. Und dass es auch ein bisschen seltsam ist, wenn wir die Natur in die Zivilisation einbauen. Mc Grün bietet reichlich Auswahl. Duftkerzen, eingeschweißtes Wiesenstreu und Wärmelampen. Komisch wird es bei Wieland Freund immer dann, wenn sich die Natur gegenüber der Zivilisation durchsetzt. Waschbären sind durch den Kamin in ein Wohnhaus eingedrungen. Als die Großmutter ins Haus kommt, um die Blumen zu gießen, gerät sie beim Anblick der Tiere in Panik:
"Rose Klotz' schrille Schreckenslaute waren mehr, als Törtel ertragen konnte. In der Küche saß Miroslaw. Aus irgendeinem Grund hockte der Waschbär im Spülstein. Rose Klotz' Armreifen rasselten, als schlügen sie Alarm. Rose Klotz raufte sich die Haare. "Iiiihhh!" schrie sie und immer wieder "Iiiihhh!'. Törtel hätte einiges gegeben, seine Ohren verschließen zu können."
Fast schämt sich der Leser für seinesgleichen. Und es kommt noch schlimmer. Im zweiten Band, der heißt in Anlehnung an ein bekanntes Märchen "Törtel und der Wolf”, taucht eben jener auf. Der Wolf in Müggeldorf ist "die" Schlagzeile in der lokalen Presse. Sascha Bommel, ein junger Reporter, stürzt sich auf die Story und schürt die Angst seiner Leser, wie es sich für einen Sensationsjournalisten gehört.
Törtel aber liest keine Zeitung. Er bleibt ahnungslos und darf zum Helden werden. Wie in einem Entwicklungsroman mausert sich die ängstliche Schildkröte aus dem Terrarium hin zur mutigen Begleiterin des gefürchteten Tieres. Es stellt sich heraus, dass es sich nicht um einen Wolf, sondern um einen entlaufenen Wolfshund handelt. Klug und still begleitet die Schildkröte den ängstlichen Hund. Beide haben eins gemeinsam: Sie zählen gegen die Angst.
"Und wenn du zählst?, fragte Törtel. Vielleicht traust du dich ja raus, wenn du zählst." "Wie? Zählen?", fragte Boris, als wüsste er von nichts. Er klang trotzdem, als fühlte er sich ertappt. "Na, du zählst doch", sagte Törtel. "Gegen die Angst. Ich habe es gehört. Als ich hergekrochen bin. Sechs, sieben, acht, hast du gezählt. Und wenigstens bis zwanzig." "Du hast es gehört?'" Boris klang richtig entsetzt. Oh, das ist mir so peinlich!", rief er."
Der Wolfshund wird in die Gruppe aufgenommen und schon ändert sich die Gruppenkonstellation. Grrmpf verliert seinen Status als Oberhaupt, Törtel hat jetzt was zu sagen und die anderen Tiere müssen ihre Rolle neu finden. So spiegelt sich der Mensch im Tier – und umgekehrt. Auch um Grenzen geht es in den beiden Büchern. Die vielen Zäune schützen und grenzen ab. Zäune oder Mauern entstehen auch im Kopf und beengen den Blick. Ohne Zäune geht es nicht, weder für die Tiere noch die Menschen. Diese wunderbare Tiergeschichte ist auch ein Buch über die Freiheit. Die Freiheit ist kompliziert. Törtel weiß das und mit viel Herz zeigt er, dass Freiheit und Gemeinschaft vereinbar sind. Wieland Freund sind zwei wunderbar leichte und zugleich tiefgründige Bücher für Kinder ab acht Jahren gelungen.
Wieland Freund: Törtel, die Schildkröte aus dem McGrün, 2009
Wieland Freund: Törtel und der Wolf, 2010
Beide Bücher sind bei der Verlagsgruppe Beltz erschienen.