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Die Schneeammer überlebt es

Halldór Laxness schrieb eine vollblütige, farbige Prosa ohne alle aufgesetzten Schnörkel oder biedermeierlichen Betulichkeiten, freilich getränkt in Poesie reinsten Wassers von der ersten bis zur letzten Zeile. Als ein Meister realistischer Erzählkunst gilt Laxness, und das nicht zu Unrecht - nur liegt die Betonung dabei auf Kunst, und die Realistik läßt sich nie auf’s oberflächlich Faktische festnageln. "Wenn die Welt in den Augen unserer Kinder nicht mehr voller Wunder ist", so lesen wir in "Das wiedergefundene Paradies", "dann ist nicht mehr viel übrig."

    In einer Szene des Romans "Sein eigener Herr", Mitte der dreißiger Jahre geschrieben, wird ein Begräbnis bei unwirtlichem Wetter geschildert, wie wir es Laxness nicht wünschen wollen; der Sarg muß bei Schneegestöber über einen beschwerlichen Paß geschafft werden zur Kirche, wo der Pfarrer ungeduldig wartet. "Von draußen aus dem Schneegestöber kamen die Leute einzeln in die Kirche, scheu vor dem Tod, der nie so unwiderruflich erscheint wie inmitten der weißen, kalten Weiten des sinkenden Tages bei Glockenklang dieser Art." Eilig bringt der Pfarrer die Prozedur hinter sich; das Thema seiner Leichenpredigt lautet: "Was ist das Schaf?"

    Das Gegenstück zu dieser Szene finden wir in denm Altersroman "Am Gletscher" aus den späten sechziger Jahren. Auch hier treffen wir auf einen Pfarrer, der sich schwer tut mit seinem Amt, dies allerdings nicht aus Eile, sondern weil er sich den formellen Gottesdienst seit langem abgewöhnt hat. Die Kirche hat er zugenagelt, statt dessen macht er sich mit dem Beschlagen von Pferden nützlich. Entsprechend ungewohnt fällt seine Leichenrede aus: "Wenn es im Weltraum eine Allmacht gibt, dann ist sie in der Schneeammer. Was für Wetter auch immer hereinbricht, die Schneeammer überlebt es; kaum sind die Stürme vorbei, so ist sie der Sonnenvogel." Und die Predigt endet mit den Worten: "Allah ist groß."

    Wollten wir Halldór Laxness die Grabrede halten, so wären wir nicht schlecht beraten, von Allah und der Schneeammer zu sprechen, von der Schneeammer vor allem. So wie sie aus jedem Wetter etwas macht, hat auch Laxness viele Möglichkeiten ausprobiert und aus allen Schlüssen gezogen. Auf Geradlinigkeit war sein Lebensweg nicht angelegt, eher schon auf die Akkumulation wiederstreitender Erfahrungen; die Suche nach dem einen Weg machte bald der Erkenntnis Platz, daß jeder Weg, den zu gehen sich lohnt, auf einen offenen Horizont hinführt. In der "Islandglocke" steht zu lesen:"Suchet, so werdet ihr finden - alles andere denn das, was ihr suchet." Im selben Buch steht aber auch: "Was man nicht bei sich selber findet, findet man nirgends."

    Halldór Kiljan Laxness, am 23. April 1902 unweit von Reykjavik geboren, war gerade 17, als er mit einer bauerromantischen Erzählung debütierte. Mit 18 Jahren geht er nach Dänemark; mit 20 bereist er Deutschland, Franreich und Italien; mit 21 konvertiert er in einem luxemburgischen Benediktinerkloster zum Katholizismus, eine nur kurze Leidenschaft. Später gilt seine Begeisterung dem Taoismus ebenso wie dem Surrealismus, für längere Zeit dem Kommunismus und schließlich einem allumgreifenden Antidogmatismus, der den abgeklärten Skeptizismus seines Spätwerks speist. 1955, mit der Verleihung des Nobelpreises, wird Laxness zum bejubelten Nationalhelden seiner lesefreudigen Heimatinsel; noch zwei Jahre zuvor, als er den Stalin-Preis in Empfang nahm, hatte er sich statt dessen wüsten Beschimpfungen ausgesetzt gesehen.

    Ähnlich vielfältig wie die Lebensstationen Laxness’ sind seine Romane - was freilich von keinem simplen Kausalzusammenhang herrührt; keins von seinen vielen Büchern nämlich ist bloß Sprachrohr irgendeiner Idee oder Weltanschauung. Vielmehr gewinnt die Laxnessche Prosa ihre Kraft gerade aus den Brüchen zwischen den verschiedenen Welterfahrungen, wozu nicht zuletzt die Brüche zwischen welthaltigem Engagement und poetischen Kunstbewußtsein gehören. Selbst in den frühen dreißiger Jahren, als Laxness sich für die amerikanischen Sozialkritiker um Upton Sinclair begeisterte, fand er diese als Erzähler doch keineswegs sonderlich faszinierend - und das war es doch, was er selbst wollte: als Erzähler faszinieren.

    Laxness hat es verstanden, seine Texte aus inneren Widersprüchen wachsen zu lassen. Zu schätzen wußte er die reiche isländische Sagaliteratur der Vergangenheit - aber gerade da, wo er auf deren überliefertes Formen- und Figurenrepertoire zurückgriff, in Romanen wie "Die glücklichen Krieger" oder der "Islandglocke", krempelte er die Tradition schonungslos um. Archaische und moderne Erzählgesten verbinden sich zu Prosatonlagen, die robust und geschmeidig daherkommen. Und Laxness blieb zeitlebens seiner Muttersprache treu, schreib im Gegensatz zu den meisten Landsleuten all seine Bücher auf isländisch - und schöpfte vielleicht gerade aus diesem Beharren die Kraft, Weltliteratur zu schreiben.