Freitag, 19. April 2024

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Die schöne Belinda und ihr Erfinder

Ein Kinderbuch, sagt Jens Sparschuh, muß so beschaffen sein, daß man es als Erwachsener ohne Schamesröte vorlesen kann, nicht nur im Kinderzimmer, sondern auch vor Zeugen im vollbesetzten Intercity. Die Probe aufs Exempel besteht er sogleich, sozusagen mit den ersten Worten seines neuen Kinderromans - dem Titel.

Florian Felix Weyh | 01.01.1980
    "Die schöne Belinda und ihr Erfinder", erklärt Jens Sparschuh, "wurzelt völlig im Berliner Sprachraum, sonst würde der Titel gar nicht klappen. Der funktioniert tatschlich nur in Berlin, wenn "Erfinder" hinten mit "a" hochgeht, und dann steht der Reim schön ordentlich und genau im Raum.

    Lautmalerisch geht es weiter, denn außer der klangvollen kleinen Belinda, trägt der zweite Held der Geschichte einen musikalischen Namen. Curt Caruso heißt der Erfinder, der ihr aus der Patsche helfen soll, und man kann sich gut vorstellen, daß er in der Nähe von Daniel Düsentrieb wohnt. So manche Figur könnte auf einer Klingeltafel in Entenhausen verzeichnet sein, doch ist das wirklich ihre Herkunft?

    "Es gibt eine lange Theorie darüber, wie Geschöpfe zu ihren Namen kommen", so Jens Sparschuh. Curt Caruso heißt Curt Caruso, weil er Curt Caruso ist, und Mimi Mäander ist so ein sprechender Name, da muß die Figur nur kaum in Erscheinung treten, und schon sieht man sie in Gänze. So eine Journalistin bei einem ganz schnellen Abendblatt, "Fix und fertig" heißt das, das ist die schnellste Zeitung der Welt. Sie kommt damit aber nicht klar, und in dem Buch gibt's dann so einen Dreh, wie man vielleicht die Zeit üerholen kann. Und das wird für diese Mimi Mäander ganz hilfreich sein.

    "Nur nicht zu viel verraten!" scheint Jens Sparschuhs Motto im Interview, damit hält er zweifelsohne die Spannung. Ein paar Worte zur Geschichte sollte man dennoch verlieren. Wer könnte das besser als der Autor? "Eigentlich ist das auch eine Looser-Geschichte von einem kleinen Mädchen, was an einem Tag wirklich so viel Pech hat, wie man's sich nur vorstellen kann, "Die Schöne und das Biest" soll einstudiert werden, und sie meint natürlich, daá die Schäne ihre Rolle ist, aber das kriegt dann Melanie, die blöde Zicke, und sie soll das Biest spielen ... und lauter solche Sachen, wie man das ja kennt im Leben. Und dann gerät sie in eine Traumwelt zu diesem Curt Caruso, der für alle Probleme sich Lösungen sucht ... wie heißt das Gedicht bei ihm an der Tür? "Schnell, preiswert und für Sie bequem, löst Curt Caruso Ihr Problem." Da ist sie natürlich an der richtigen Adresse, und er ist begeistert, als sie von ihren Problemen tränennaß erzählt, weil Probleme sind seine Spezialität, und er macht mir ihr folgenden Deal, daß sie ihm ein bißchen hilft, seine Fälle zu lösen, und er wird derweil ein "Ratgeberbuch für kleine Schwestern" schreiben. Dazu kommt das dann natürlich nicht, weil immer neue Sachen sich in sein Leben schieben, aber Belinda - im Handumdrehen und im Nebenbei - löst dann die verschiedensten Fälle, und ja ... so geht das dann weiter durch die ganze Geschichte."

    Also immer noch nicht zuviel verraten, doch soviel sei gesagt: Auch Erwachsene finden manches literarische Bonbon im Text. Günter Bruno Fuchs taucht als Trostspruchgeber für einen verzweifelten Polizisten auf, und der einsame Leuchtturmwärter mag einem bekannt vorkommen. Jens Sparschuh: "Hans Hansen heißt der Leuchtturmwärter, und wenn man Thomas Mann gelesen hat, dann ist das natürlich eine Schlüsselfigur. Aber hallo - warum soll ein Leuchtturmwärter nicht Hans Hansen heiáen? So ist die Welt, und die Welt besteht ja nun nicht nur aus kruder 1:1-Wirklichkeit, die besteht unter anderem auch aus literarischen Traditionen, die ja die Menschen auch umstellen. Nur das Schöne bei den Kindern ist: Wenn man für Erwachsene schreibt, auch zu Lesungen, kommen dann doch irgendwie literaturgeprüfte Menschen, die auch irgendwie geschlagen sind damit, und die haben ihr Repertoire. Und Kinder haben so von Natur aus noch mehr die Fähigkeit, sich auf ein Spiel einzulassen. Ob man Räuber und Gendarm spielt, oder ob man spielerisch mal in so eine Figurenperspektive wechselt, das geht bei denen ziemlich schnell, und da kommt man sonstwohin, und das ist das Schöne, wenn man für Kinder schreibt. Daß man da auf ein unendlich großes Reservoire an Spiel und Verwandlungsbereitschaft trifft.

    Daß dieses ironische Spiel nicht nur beim Erwachsenen funktioniert, belegen für Jens Sparschuh die Lesungen aus dem Buch. Denn manchmal warten die jungen Zuhörer mit verblüffenden Konnotationen auf: "Ich hatte eine Lesung aus dem Buch, und da fragte mich ein kleiner Junge, der sehr gut deutsch verstand, der kam aus der Türkei offenbar, der fand das alles sehr einleuchtend, aber er wunderte sich immer über die Stelle mit dem Fernsehsender. Und ich fragte: "Welcher Fernsehsender spielt da eine Rolle?" Und der spielte auf "Premiere" an. Im Buch gibt's eine Anekdote, wo's um eine Theaterpremiere geht, die beinahe geplatzt wäre, und er hat das mit diesem Kabel-TV Premiere verwechselt und das war die einzige Stelle, die er nicht verstand. Da war mir plötzlich wieder klar, daß nicht nur die Kinder ihre eigene Semantik haben, sondern daß bei mir vielleicht auch einiges fehlt. Ich hab bei Premiere nicht als erstes den Gedanken an Premiere-TV."

    Die Phantasie eines erwachsenen Menschen bezieht sich, wenn er kindlich denkt, auf die Lebenswelt seiner eigenen Kindheit. Die eine oder andere Selbstverständlichkeit wird dann für die Kids von heute kaum nachvollziehbar - oder eben gänzlich anders interpretiert. Ein Erwachsener würde sicher auch den "Streichelzoo bizarr" - eine Haupterfindung Curt Carusos - in anderen Milieus ansiedeln als ein Kind. Sparschuh hat mit dieser Unberechenbarkeit keine Probleme: "Was mir vor allem wichtig war, ist: Es gibt ja in Kinderbüchern oft so die Tendenz, Phantasie unter der Rubrik rosaroter Elefant und sprechender Goldhamster abzubuchen. Das ist dann Phantasie genug, da wird der Verstand und das Denken vom Dienst suspendiert, dann läßt man alle Fünfe geradesein, da steht die Welt mal Kopf, und irgendwann beginnt der Alltag wieder. Mir ist viel wichtiger, daß man Phantasie so entwickelt im genauen Schauen auf die Dinge, daß man neben dem ersten Blick den zweiten, den dritten, die andere Dimension der Dinge erkennt. Und auf die Weise löst ja die kleine Belinda die verschiedensten Probleme. Also so eine Phantasie, die im gründlichen Zuendedenken der Dinge wurzelt. Das ist mir viel wichtiger."

    So alltagsnah und schulfern die Aufgaben sind, die Curt Caruso seinem weiblichen Lehrling stellt - ohne Dialektik gehen sie allemal schief. Eine schiefe Dialektik freilich, wie sie Clowns, Zauberer und Kinder praktizieren. Im Schulalltag ist die meistens nicht gefragt, erst später, wenn aus den Kindern Manager geworden sind, müssen sie in teuren Kursen auffrischen, was sie als Kinder einmal konnten. Gegen diesen Umweg ist die "Schöne Belinda" angeschrieben, und Jens Sparschuh erzählt, wie es ihm selbst mit dem Problemlösen ergeht: "Es so eine schöne Aufgabe aus der Kreativitätsforschung, an die denke ich immer, weil ich das selber auch nicht rausbekommen habe. Eine ganz einfache Sache, da ist so ein geometrisches Gebilde abgebildet auf einem Din-A4-Blatt, und man muß irgendwelche Linien verlängern, und alle Leute sitzen davor und scheitern. Die ganz einfache Lösung besteht darin, daß der Schnittpunkt der Geraden eine Handbreit außerhalb des Blattes ist. Keiner traut sich, seine Gedanken außerhalb dieses deutschen Industrienormblattes zu suchen, die Lösung. Nein, macht man nicht! Man denkt, das geht nicht. Die Lösung ist ganz einfach. Irgendwo treffen sie sich auf dem Tisch, nicht auf dem Blatt."