Samstag, 04. Mai 2024

Archiv


Die Schönheit der Melancholie

In Finnland wird der Tango langsam getanzt, die Melodie erklingt traurig in Moll. Der Tanz gehört zu dem nordischen Land wie das Meer und die Schären. Tanztreffen und Tangowettbewerbe gibt es in zahlreichen Städten und Dörfern.

Von Christiane Zwick | 28.03.2010
    Langsam, langsam, schnell, schnell, langsam. Dieser Rhythmus bewegt in Finnland Generationen. Und eine Melodie kann fast jeder darauf singen:

    "Jenseits des weiten Meeres, liegt versteckt ein Land, in dem du alle Sorgen vergisst, das keinen Kummer kennt. Satumaa, das finnische Märchenland. Satumaa, das Reich des Tango."

    Überall in der Welt wird entweder Standard- oder der argentinische Tango getanzt. Wirklich überall? Ein kleines Land im Norden leistet sich seinen eigenen Tango; meist in Moll statt in Dur. Seine Wurzeln, zugegeben, reichen nach Argentinien, doch in 75 Jahren trieben eigene Blüten. Die Paare, die an diesem Samstag in Westernboots, Turnschuhen oder schwarz glänzendem Leder über den Boden einer Kleinstadtturnhalle schieben, sehen ihren Tango als etwas Urfinnisches an. Wer Finnland und den Finnen näher kommen will, sollte seine Geschichte kennen und ihn tanzen lernen. Tanzlehrer Åke Blomqvist demonstriert, wie es geht.

    "In Deutschland tanzen Sie internationale Stile; und das ist englisch. Das ist immer: Slow - quick - quick - slow, aber in Finnland, wir tanzen: Langsam - langsam - schnell - schnell. Slow - slow - quick - quick. Das ist langsamer, unsere Tango, mit Gefühl. Und die Vokalisten sagen alle die hübschen Wörter, die der Mann sagen möchte zu der Frau oder dem Mädchen."

    Mitteleuropäerinnen dürfen jetzt neidisch werden: Gestandene finnische Männer braucht man nicht zu überreden, einen Fuß auf die Tanzfläche zu setzen. Sie fordern unaufgefordert auf. Und es sind die Männer, die die innigsten Worte für diese Musik finden, seien sie Amateurtänzer oder Profisänger wie Amadeus Lundberg.

    "Die Musik macht dich einfühlsam. Als ich gestern sang, hätte ich beinahe geweint. Ich mag Tango, weil er ehrlich ist und von Herzen kommt."

    Wikingertyp Kauko Isomäki hört Uriah Heep und Deep Purple. Aber an diesem Wochenende sind der Bauingenieur und seine Frau 150 Kilometer über Land gefahren, um Standard zu tanzen.

    "Meine Frau ist Krankenschwester und ich habe meine eigene Firma und wir können Urlaub nehmen, so wie wir wollen. Und wir kommen hierher, 18 Male sind wir hier gewesen, Tango tanzen."

    Und zwar hier in Seinäjoki, einem funktionalen Städtchen mit 70er-Jahre Appeal. Es gibt zwar überall im Land Tanzböden, aber nur ein Festival, das jedes Jahr mehrere zehntausend Finnen auf die Beine bringt: der Tangomarkkinat. Das bedeutet: Tango aus allen Lautsprechern. Auch beim Caravanplatz. Bankangestellte Tarja Kesti findet das toll.

    "Weil hier was los ist. Wir mussten ins Zentrum kommen, die Atmosphäre macht das Ereignis."

    Hinter den Plastikplanen ragt das Wahrzeichen von Seinäjoki auf: der schlanke weiße Glockenturm der Stadtkirche von Alvar Aalto. Auf dem Campingtisch häufen sich die Schalen grüner Erbsen und Berge von Erdbeeren.

    "Wir essen Erdbeeren, das gehört zum finnischen Sommer. Die Sonne scheint und überall ist Musik."

    Auch in der vierspurigen Kirkkokatu. Hier steht die Hauptbühne. Auf dem Asphalt davor wiegen und biegen sich die ersten Tanzpaare. Einen Dresscode gibt es nicht. Man trägt Cowboylederhut oder schwarz und rot gefärbtes Haar. Jeans trifft auf Engelstattoo, Petticoat auf Seidenblouson. Auch zwei Schweizer haben sich unter die Finnen gemischt. Katrin Kummer und Klaus Hofer aus Bern.

    "Wir haben Bekanntschaft gemacht mit dem finnischen Tango durch die Filme von Kaurismäki und fanden dann eigentlich immer: Das wär doch mal was, sehr wahrscheinlich ein Erlebnis der dritten Art."

    "Zuerst bin ich mit der Meinung gegangen: Wir gehen zum Schauen. Wir schauen da zu, was sie machen. Und dann habe ich den Leuten ein bisschen auf die Füße geschaut und dann haben wir gedacht: 'Ja wir könnten doch mal probieren.' Und dann haben wir eigentlich ziemlich lange zusammen getanzt und hatten viel Spaß dabei."

    Und der ist noch nicht zu Ende. Radioreporter streifen durch die Menge. Es riecht von den Verpflegungsständen her nach frittiertem Fisch. An der Karaokebar wird voll aufgedreht. Heute Abend wird auch das staatliche Fernsehen aus Seinäjoki senden.

    Zur selben Zeit in Helsinki ist es auf der zentralen Aleksaterinkatu vergleichsweise ruhig. Selbst vor dem Kaufhaus Stockmanns, dem bekanntesten Treffpunkt des Landes, herrscht kein Gedränge. Aus dem Helsinkier Restaurant "Börs", wo ein dänisches Showtanzpaar auftrat, hat der Tango 1913 seinen Siegeszug durch Finnland angetreten. Für die Mittzwanziger im Straßencafé allerdings ist er der Hype ihrer Eltern und Großeltern.

    "Ich wusste mal die Schritte. So vor zehn Jahren."

    "In der Oberstufe wird Tango gelehrt, aber ich hab da wohl was anderes gemacht."

    "Ich komme vom Land. Da hatten wir diese Dorftänze. Jeder ging zum Tango, auch ohne die Schritte zu kennen. Es war so melancholisch, einfach finnisch."

    Vor dem Flagship-Store von Nokia ein paar Schritte weiter, spielen Straßenmusiker aus Sankt Petersburg nun argentinischen Tango. Den quirligen Tango der Metropolen. Es war Krieg, als die sehnsüchtigen und leidenschaftlichen Melodien bei den Bauern auf dem Land Anklang fanden.

    1939 hatten die UdSSR ihr Nachbarland überfallen. Finnland war gerade 22 Jahre unabhängig gewesen, nach vielen Jahrhunderten Besatzungsgeschichte. Die Tangosänger beklagten "Kohtalon", das Schicksal. Die Trennung von den Liebsten. Die finnischen Texte boten emotionalen Rückzugsraum. Das war Widerstand genug. Die Finnen erhielten Tangotanzverbot, was ihre Liebe zum Tango nur stärkte.

    Wer heute in Helsinki finnischen Tango tanzen will, muss wissen, wo. Auf dem Land gibt es noch rund 1000 Tanzböden, in Helsinki genau zwei. Einer davon ist der Vanhan Tanssikellari. Das klassizistische Gebäude mit den Stuckgestalten der Nationalsage Kalevala neben dem Eingang liegt zwar genau gegenüber von Stockmanns, aber im Hauptsaal ravt die Jugend. Zwei Mal rechts um die Ecke führt eine Schiebetür zur Treppe in den Keller. Der ist groß und rappelvoll. Mit 50-, 60-Jährigen, aber auch Jüngeren. "Mit 40 fängst du spätestens an, dich für Tango zu interessieren", sagt man hier. Denn:

    "Es der natürlichste Weg, Frauen kennenzulernen."

    Oder Männer.

    "Wenn du einen attraktiven Mann siehst, fragst du ihn: 'Wollen Sie mit mir tanzen?'"

    Im Fernsehen läuft jetzt der Vorausscheid im Gesangswettbewerb, live aus der Arena in Seinäjoki. Der 20-Jährige Amadeus Lundberg aus Helsinki ist einer der Favoriten. Er trägt Smoking und eine violette Fliege.

    Das Fernsehpublikum hat im Voting entschieden: Amadeus Lundberg steht im Finale. Sein Vater war mit einer Gipsy-Band erfolgreich, er selbst hat sich ganz bewusst für den Tango entschieden.

    "Wenn ich damit Karriere mache, kann ich singen, so viel ich will. Dann bekomme ich Auftritte in Finnland, vielleicht im Ausland, nehme CDs auf. Und mache, was ich will."

    Hanna Talikainen hat es bereits geschafft. Sie wurde letztes Jahr Tangokönigin, was die 27-Jährige mit den strahlendblauen Augen zu einer nationalen Berühmtheit macht. Da Finnen Bescheidenheit schätzen, ist sie sich nicht zu fein, im Einkaufszentrum von Seinäjoki Autogramme zu geben. Was ist noch typisch finnisch für sie?

    "Da kommt mir ein Lied in den Sinn, das vom blauen Himmel erzählt, vom frei sein, unabhängig sein. Wenn ich an Finnland denke, sehe ich die Seen, die Wälder und die Natur. Das bedeutet mir viel."

    Und weil das den meisten Finnen so geht, beschreiben finnische Tangos nicht nur die Liebe, sondern auch die Natur: den Vollmond, ein Plätzchen am See, das unendliche Meer.

    Winzige Wellen jagen über die blaue Weite vor Turku wie ein wohliger Schauder. Bucklige graue Felsen ragen aus dem Wasser, kleine und große. Nur die zwischen Kiefern versteckten Holzhäuschen verraten, welche Schären vor der Westküste bewohnt sind.

    Tapani Heinonen kehrt nach Jurmo zurück. Er lebt auf einem Inselchen am äußeren Rand der Schärenringstraße. Der Lehrer bewirtet im Sommer Feriengäste in seinem 200 Jahre alten Bauernhaus und kennt sich ebenso gut in der Umgebung wie in der Geschichte aus.

    "Nur ein paar 100 Meter hinter unserem Haus gibt es einen Felsen, auf dem die Leute aus diesem Dorf für die Feste tanzen übten. So vorbereitet segelten sie alle zusammen los. Der Ausflug konnte drei Tage dauern. Einen Tag hin, dann die Nacht des Tanzvergnügens und einen Tag zurück. In der älteren Generation gibt es viele Frauen und Männer, die nach Tanzvergnügen in dieses Dorf heirateten."

    Auch im kleinen Hafen von Bergshagen gibt es einen kleinen Tanzboden, ein halboffenes Häuschen mit rundum laufender Holzbank und Plankenboden mit Aussicht auf rote Bootsschuppen und weiße Kajütsegler und natürlich die anderen Schären. Drei Mal im Jahr wird hier gefeiert, zusammen mit den Urlaubern. An den anderen Wochenenden fährt man für Tango und Walzer auf die Nachbarinseln. Tapani Heinonen hat eine Theorie, warum es zwischen Tanzpärchen so zuverlässig funkt.

    "Wenn du mit jemandem tanzt, erzählst du deinem Partner eine Menge von dir. Wahrscheinlich deswegen findet man beim Paartanz eher zusammen als in der Disco, wo man anonym bleibt. Paartanz ist Kommunikation. Du musst zeigen, wer du bist."

    Es gibt zwar noch einen Ort, wo man in Finnland viel von sich zeigt, doch hier schwitzt man nach Geschlechtern getrennt. Es hat angefangen zu regnen, das ist das Signal.

    Der sportliche Blonde heizt seinen Gästen den Holzofen in der Saunahütte ein. Die bereitgelegten Birkenzweige verbreiten balsamischen Duft. Während draußen die welligen grünen Wiesen ins Pastell verblassen, werden vier Quadratmeter zum gemütlichsten Ort der Welt. Die kleine Insel scheint weit weg von allem zu sein, was natürlich nicht stimmt. Auch Tapani Heinonen kennt einen Tangosänger, der in Seinäjoki im Finale stand.

    "Einer meiner Freunde hat am Wettbewerb teilgenommen. Und so saß ich vorm Fernseher. Tangosänger werden in Finnland so etwas wie Pop-Idole. Sie kommen in die Zeitung und die Leute verfolgen das Leben ihrer Stars."

    In der Areena von Seinäjoki ist es soweit. Gleich wird der neue Tangokönig gekrönt. Amadeus Lundberg hat seinen großen Auftritt vor rund einer Million Zuschauern. Etwa jeder dritte erwachsene Finne sitzt gerade vorm Fernseher.

    Er sieht gut aus, der dunkellockige junge Mann mit dem goldenen Ohrring. Das mögen die Frauen. Er gibt sich uneitel. Das mögen die Männer. Und er hat eine Botschaft, die sich gegen Veränderungen des Finnischen Tango richtet.

    "Die denken, wenn sie den Tango verändern, werden die Menschen ihn mehr lieben. Das glaube ich nicht. Ich singe Tango wie in den 60ern, 70ern, das berührt die Menschen."

    Lundberg scheint, damit den Nerv des Publikums zu treffen. Er gewinnt das Finale. Finnland hat einen neuen Tangokönig.