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Die Schwächen der ersten deutschen Republik

War die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 die ebenso schreckliche wie logische Konsequenz der von Krisen geschüttelten Weimarer Republik? Nein, meint die Historikerin Ursula Büttner. In ihrem neuen Buch zur Weimarer Republik zieht sie vielmehr den Schluss, die erste deutsche Demokratie habe sich gerade durch ihre neuen und ungewohnten politischen Freiheiten letztendlich selbst kannibalisiert.

Von Michael Stürmer |
    Die überforderte Republik - das ist These und Titel dieser 800-Seiten-Studie über Deutschland in den 14 Jahren vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Nationalsozialistischen Diktatur. Es ist eine Geschichte zuerst der Hoffnung und dann des Scheiterns, das angesichts seiner Folgen bis heute immer wieder die Frage aufwirft nicht nur nach Ursachen und Bedingungen, sondern auch nach Schuld und Verantwortung, bis in alle Phasen der deutschen Geschichte nach 1945 und bis heute.

    Denn es ist daran zu erinnern, dass die Architekten des Grundgesetzes 1948/49 in die verwüstete deutsche Landschaft nicht nur einen konstitutionellen Schutzwall gegen die Vergangenheit Hitlers und die Gegenwart Stalins errichten wollten, sondern auch den Wiedergängern von Weimar das Haus verriegelten: Das Grundgesetz begreift nur, wer die Schwächen und Widersprüche der ersten deutschen Republik begreift.

    Zugleich gilt, dass zu jeder Zeit in der Geschichte der Bundesrepublik der Blick im Zweifel zurückging mit der bangen Frage, ob Bonn doch Weimar werden könne - und heute Berlin. Die Weimarer Republik enthält das Memento Mori der Demokratie, und wann immer die zweite Republik einen Fieberanfall hat, blickt sie in den Spiegel von damals.

    Niemand kann die Unsummen erklären, die in der gegenwärtigen Finanzkrise in Staatsgarantien und Staatsbeteiligungen ging ohne das dauerhafte Trauma der Großen Depression, die 1929 begann, die Republik zermürbte und Hitler an die Macht brachte.

    Ursula Büttner hat beides in einem versucht, Nachschlagewerk und Geschichtserzählung.

    Als Leitkonzept dient die politische Sozialgeschichte, da sie es durch die Frage nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen politischer und kultureller Entwicklungen am besten ermöglicht, die historischen Ereignisse in den verschiedenen Bereichen in ihrem Zusammenhang zu sehen.

    Leicht zu lesen ist das nicht. Aber was mühsam klingt, ist dennoch ein sinnvolles Prinzip, Ereignisgeschichte und Strukturgeschichte zu verbinden. Und so entstand ein gründlich-gelehrter Forschungsbericht, gefolgt von erzählend-berichtenden Kapiteln und solchen, die einzelne Leitmotive, vor allem solche der Geistes- und Kulturgeschichte verfolgen.

    Tatsächlich ist die Politik von Weimar sehr früh und sehr eingehend untersucht worden, um aus der Geschichte, trotz aller Enttäuschungen, endlich doch einmal etwas zu lernen: Die Ortsbestimmung der Bundesrepublik zwang dazu, es kamen nie eröffnete Akten auf den Schreibtisch der Historiker, und auch das Scheitern barg Faszination. Die Demographie zum Beispiel ist selten in den großen Teppich so eindrucksvoll verwoben worden, wie es hier geschieht:

    Der Krieg und die Gebietsabtretungen nach dem Versailler Vertrag hatten zu erheblichen Bevölkerungsverlusten geführt. Die Zahl der ums Leben gekommenen Soldaten wurde auf 2,4 Millionen berechnet, von denen 30 - 35 Prozent verheiratet gewesen waren. Das Potenzial der erwerbsfähigen Männer im Alter von 16 bis 65 Jahren wurde dadurch reduziert, die verbleibenden hatten einen größeren Anteil von noch nicht oder nicht mehr erwerbsfähigen Personen zu tragen. Viele Frauen im gebärfähigen Alter von 16 bis 45 Jahren waren wegen der Dezimierung der Männer zu Ehelosigkeit oder einem frühen Witwendasein gezwungen - was wiederum Geburtenausfälle zur Folge hatte.
    Die nüchterne Sprache der Sozialgeschichte verdeckt die unendliche Traurigkeit, die zerstörten Lebenspläne, die ausweglose Verzweiflung, die der Krieg hinterlassen hatte. Konnte die Republik die Tränen trocknen, die Menschen mit ihrem Schicksal versöhnen, aus dem Waffenstillstand mit dem Schicksal einen Frieden machen? Man würde sich wünschen, dass die Autorin mehr die Romane und die zeitgeschichtlichen Zeugnisse herangezogen hätte, um der unfassbaren Geschichte der großen Menge hier und da ein menschliches Gesicht zu geben. Hans Fallada "Kleiner Mann, was nun?" fällt einem da ein, die Depression als Einzelschicksal. Oder die Heidelberger Vorlesungen des Philosophen Karl Jaspers "Die geistesgeschichtliche Lage der Gegenwart", von 1931, die nackte Verzweiflung widerspiegeln ebenso wie den Versuch, sich intellektuell darüber zu erheben. Fallada, Feuchtwanger, Thomas Mann - sie werden zwar kurz erwähnt, aber eigentlich nur als knappes Stichwort. Ernst Jünger werden ein paar Zeilen gegönnt:

    Literarischen Rang hatte seine schon früher veröffentlichte Kriegsprosa, die jetzt verstärkt rezipiert wurde: "In Stahlgewittern", "Der Kampf als inneres Erlebnis". Ohne die Schrecken des Krieges zu verharmlosen, beschrieb er ihn doch als faszinierendes, rauschhaftes Erlebnis, aus dem der neue Menschentyp des Kämpfers als berufener Führer des Volkes hervorgehen sollte. In "Der Arbeiter" der das Erbe des Frontsoldaten antritt und die bürgerliche Welt zerschlägt, führte er 1932 den Gedanken weiter.
    Prophetische Visionen, wahrhaftig, die Jünger da den Überlebenden des Großen Krieges zuwarf und ihnen zugleich eine brutale antibürgerliche, heroische Welt in Aussicht stellte. Was dann, 1933, über Deutschland hereinbrechen sollte, hat sich wohl auch Jünger, nach eigenem Zeugnis, nicht vorstellen können. Mitunter schlägt die Wirklichkeit auch die kühnste Wette.

    Es ist schade, dass Ursula Büttner sich auf der Suche nach der allumfassenden Darstellung der Republik, die doch immer Illusion bleiben muss, keine Zeit zum Ausruhen gönnt. Sie weiß so viel und schreibt so viel, und doch bleibt das meiste, bei aller Gelehrsamkeit, abstrakt und blass. Die neue Sozial- und Strukturgeschichte hat noch nicht den Mut zum Erzählen gefunden. Zu viel Pflicht, zu wenig Kür.

    Und doch hat dieses Buch große Verdienste. Es ist Zusammenfassung der Forschung, es weist interessante neue Wege zwischen den Disziplinen und es verrät immer wieder Trauer, berechtigte Trauer, um die verlorene Republik. Bemerkenswert ist das Kapitel über die Juden in der Demokratie von Weimar:

    Nur wenige deutsche Juden setzten auf die Revolution. Über das starke Hervortreten jüdischer Politiker und Politikerinnen in der revolutionären Bewegung nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs...

    - Gemeint sind Eisner in München und Rosa Luxemburg in Berlin -

    ...waren die meisten im Gegenteil bestürzt. Aber sie waren bereit, der Republik eine Chance zu geben und ihre Chance in ihr zu ergreifen. Dass die Verfassung des neuen Staates im wesentlichen von einem Juden, Hugo Preuss, entworfen worden war, konnte als hoffnungsträchtiges Symbol gelten. Sie garantierte allen Staatsbürgern ohne Unterschied die gleichen Rechte und sicherte darüber hinaus ... volle Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie ungestörte Religionsausübung zu.
    Das Ende ist bekannt. Die Republik ohne Republikaner erlag ihrer eigenen Schwäche, der Angst vor dem Absturz, der Weltwirtschaftskrise und ihren inneren Feinden.

    Wie aber war es möglich, dass eine geschäftige Clique ohne nennenswerten gesellschaftlichen Rückhalt eine Entscheidung von welthistorischer Auswirkung herbeiführte?
    Ursula Büttner lässt ihr Buch mit dem 30. Januar 1933 enden, als die Top-Nazis die Reichskanzlei betraten und Goebbels sagte: "Lebend bringt uns hier keiner mehr "raus". Was ja in der Tat auch so eintrat, zwölf Jahre und einen Weltkrieg später. Das Buch ist, und das liegt in der Absicht, mehr Kompendium als erzählerische Darstellung. Es ist dafür ein Handbuch ersten Ranges, verlässlich und übersichtlich, unpathetisch, sachlich und von geradezu klinischer Nüchternheit und, zuletzt und vor allem, ohne das Bedürfnis, die deutsche Geschichte von Adam an nazibraun anzustreichen.

    Michael Stürmer rezensierte Ursula Büttners "Weimar - Die überforderte Republik". Der 864 Seiten umfassende Band kommt aus dem Klett-Cotta-Verlag und kostet 45 Euro.