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Die Schweizermeister: Sachs auf dem Sockel

Noch die Aufstände gehen hier gesittet vonstatten. Die nächtliche Prügelei auf Nürnbergs Gassen erscheint als zeitlupenhaftes Schlafmützenballett, bis endlich der Nachtwächter zur Ordnung ruft, mit einem Hornstoß ist die Ruhe wieder hergestellt. Wagners Humor sei von jener Art, der nicht zu trauen ist, lautet ein gern zitiertes Bonmot, diese Schweizermeistersinger aber sind garantiert kreditwürdig und gewaltfrei, und hat man je einen melancholischeren, so angenehm unjovialen Schusterphilosophen erlebt als den Hans Sachs des reifen José van Dam?

Von Holger Noltze |
    Ein Mann der Bücher, mehr als der Schuhe. In seiner Stube ist ein ganzes Bücherbabel aufgetürmt, ein Berg des Wissens, der Tradition, des Erbes, aber auch der Vergeblichkeit. Denn deren beste Lehre lautet ja Entsagung: - dem jungen Junker Stolzing das süße Evchen lassen, dem überkühnen Sänger der neuen Töne, die die alten Meister so sehr erschrecken. Als der Foliantenturm dann abgeräumt wird, in offener Verwandlung zur Festwiesenschlussszene, wird offenbar, dass der Bücherberg auf die Basis einer Säule getürmt war, die wiederum Teil des großen Schlussgemäldes ist. Und das ist, ins Riesenhafte projiziert, Schinkels "Blick in Griechenlands Blüte", will sagen in eine kulturelle Ideallandschaft: schöne Körper richten in freiem Miteinander das erhabene Säulenwerk auf. Es könnte so schön sein.

    Indem Nikolaus Lehnhoff den Blick in Griechenlands, und das will hier natürlich meinen des Alten Europas Blüte lenkt, lenkt er ihn weg von den ewigen Peinlichkeiten der Sachs'schen Schlussansprache, für echte deutsche Kunst, gegen falschen welschen Tand. Aus dem Zürcher Opernhaus soll die Botschaft ins Neue Europa dringen: auf Kultur sollt ihr gründen, nicht auf Politik, und angesichts dieser unserer so genannten Zeiten, in denen die Politik sich die Kultur am liebsten sparen will, möge jedes Theater, das es sich noch leisten kann, die "Meistersinger" ins Programm nehmen, als Fanal gegen "Kulturverdrossenheit", gegen ignorante Kulturpolitik, gegen Spaßkultur. So steht es im Programmheft, über die Aktualität der "Meistersinger".

    Wie durch einen Timetunnel werden wir also von den chronologisch korrekten Renaissancehosen und -hüten des ersten Bilds über Burschenschaftler und Gründerväter des 19. Jahrhunderts durch die bürgerliche Emanzipationsgeschichte gezogen, bis zu den Freizeitkleidungsbürgern von heute, und von "Nürnberg" bekommt man bloß am Rande mal ein paar Türmchen zu sehen, und eine fast wielandwagneresk ausgeleuchtete Treppe. Streng und mätzchenfrei choreographiert Lehnhoff nun seine Europameister auf die große Botschaft hin, und ganz am Schluss, das Volk der Freizeitkleidungsbürger singt gerade davon, dass, zerginge auch in Dunst "das heil’ge röm’sche Reich, uns bliebe doch die heil’ge deutsche Kunst", da zögert sein Sachs einen Moment lang, und dann tut er es doch und steigt auf den Sockel. Dann aber wendet er sich um und schaut aufs Schinkel-Bild, zurück in die Zukunft, in Griechenlands Blüte.

    Mittelstimmenselig, mit Akzent auf Holzbläserfinessen und einen edel-samtigen Streichersound, folgt das Orchester dem zumindest vorderhand unheroischen Ansatz der Regie. Sanft trägt Franz Welser-Möst seine Sänger durch den langen Abend, nachdem das Vorspiel noch etwas verhastet geraten war. Besser als die instrumentalen Prunk- und Ausstellungsstücke gelingen die Momente der Verhaltenheit, etwa in den Sachs-Monologen, und zu fast psychedelischer Innigkeit findet er im Quintett der seligen Morgentraumdeut-Weise..

    Peter Seifferts Stolzing hat Kraft und Schmelz, vielleicht der beste, den man gerade hören kann, Petra-Maria Schnitzer singt ein nicht eben blühendes, aber sehr passables Evchen, der David von Christoph Strehl wirkt nach der Prügel-Nacht geläutert. Matti Salminen gibt einen enorm respektablen Meister Pogner, und der Beckmesser von Michael Volle, mit entschieden sängerischem Zugriff, dabei immer textverständlich bei intelligent gezügeltem Spielwitz, erweist sich als Entdeckung.

    In Zürich stellen sie den Sachs auf den Sockel, und wenn man am Schluss den kleinen José van Dam da stehen sieht, ein bisschen verloren, nimmt man dieses Bild, diese seltsam unzeitgemäße Demonstration von der Rettung Europas durch seine Kultur mit nach draußen. Still und dunkel ruht da der Zürichsee. Blick in die blühende Schweizerwelt. Es könnte so schön sein, denkt es in einem, ohne Politik.