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Die schwimmende Oper

Der Humor greift dort zu, wo das Vernunftprinzip am Ende ist und sein Unvermögen zutage tritt, mit einer Sache fertig zu werden. Zugleich ist es die Struktur der Sache, die das mit ihr Fertigwerden verbietet. Darum ist die Geschichte des Todd Andrews so herzzerreißend und so komisch. Der Technokrat des Lebens hat weiter keine Probleme. Er ist erfolgreich und genießt das Ansehen seiner Mitmenschen. Sein Problem ist das Leben selbst.

Sibylle Cramer | 28.10.2001
    Die Geschichte seiner Vervollkommnung beginnt mit seiner Ausmusterung im Jahre 1919 und dem Eintritt in die Universität. Er beschließt, noch einmal richtig zu lernen und halbwegs beherrschte Fertigkeiten zu perfektionieren, darunter die Technik klaren Denkens.

    Ich stelle beispielsweise fest, daß ich wenig Befähigung für Tennis besaß, obwohl ich mit einem Tennisschläger durchaus richtig umgehen konnte. Andererseits verbesserte ich mein Golfspiel erheblich. Das Klavierspielen gab ich auf. Und als ich 1935 wieder ein leichtes Interesse für Boote entwickelte, machte ich alles von Anfang an richtig. Nicht weil ich etwa wie viele andere glaube, daß es irgendeinen inhärenten Wert hätte, Dinge richtig zu tun anstatt nur halbherzig. Als ethische Prämisse lehnte ich die Behauptung ab, daß sich lohnt, gut zu tun, was sich lohnt, getan zu werden. Es ist einfach so, daß ich seit 1918 von meinem Wesen her nicht mehr fähig bin, Dinge anders als richtig zu tun, genauso wie ich vor dieser Zeit beinahe nicht fähig war, irgend etwas vollkommen richtig zu tun. Mein Boot ist ein fünfunddreißig Fuß langes, schnittiges Arbeitsboot, mit abfallendem Heck im Stil der Austernkutter, die in dieser Gegend verwendet werden.

    Todd Andrews hat einen akrobatischen Verstand. Aber der Verstand, einmal souverän geworden, wehrt sich gegen alles, was seine Ausübung behindert. Sein ausschließlicher Gebrauch endet im Taumel von Problemen, Fragen, Ratlosigkeit, Ohnmacht, Jammer. Der Rechtsanwalt gewinnt alle seine Prozesse vor Gericht, weil er seine Vorgehensweise berechnet und Irrtümer ausschließt, indem er die Handlungszüge der Gegner und Richter durchkalkuliert. Sein Leben besteht aus einer nicht endenden Prozession sorgfältig durchdachter, argumentativ gewonnener Lebensentscheidungen und konsequent durchgeführter Korrekturen. Jetzt verbringt er den Rest seiner Tage damit, die eine einzige, die Frage seines Lebens zu klären. Der Vernunftapostel ist herzkrank im physischen wie psychischen Sinn, ein Opfer der Ideologiegeschichte der Vernunft und Invalide des Gefühls, sinnlichen Lebens, seiner menschlichen Natur, die sich in seiner Meereslust, seiner Leidenschaft für den Bootsbau, seiner Sehnsucht ausgerechnet nach der ungeheuerlichsten, menschenfernsten Form des Elementarnatürlichen doch so überdeutlich ausspricht. So ist Todd Andrews zum Statisten des Lebens und seiner Reichtümer geworden. Sein Roman heißt Die schwimmende Oper.

    Wieso "Die Schwimmende Oper"? Ich könnte es bis zum Jüngsten Tag erklären und es immer noch nicht vollständig erklärt haben. Ich glaube, um eine Sache vollständig verstehen zu können, egal wie unwichtig sie ist, muß man erst alles andere verstehen, das es in der Welt gibt. Aus dem Grund kapituliere ich manchmal vor den einfachsten Dingen. Aus dem Grund macht es mir auch nichts aus, mein Leben mit meiner Vorbereitung zu meiner Untersuchung zu verbringen. Nun, "Die Schwimmende Oper".

    Er kann es nicht erklären, weil Die Schwimmende Oper eine Lebensmetapher ist. Sie erfaßt die Einheit von endlichem menschlichen Dasein und unendlichem natürlichen Sein. Todd Andrews hat das Bild nicht erfunden. Die "Schwimmende Oper" ist ein Showboot, das in seiner Heimatstadt Cambridge/Maryland gastiert.

    Das ist schon Grund genug, es als Buchtitel zu benutzen. Aber es gibt noch einen besseren Grund. Ich fand immer schon, daß es eine großartige Idee wäre, ein Showboat zu bauen, das nur ein einziges offenes Deck hat und auf dem ein immerwährendes Theaterstück aufgeführt wird. Das Schiff würde nie anlegen, sondern mit Ebbe und Flut auf dem Fluß hin und her treiben, und die Zuschauer würden an beiden Ufern sitzen. Sie könnten sich dann den Teil der Handlung ansehen, der sich gerade ereignet, während das Schiff vorbeischwimmt. Um die Handlungslücken zu schließen, müßten die Zuschauer entweder ihre eigene Phantasie benutzen oder den Berichten lauschen, die von flußabwärts oder flußaufwärts her weitergegeben würden. Meistens würden sie gar nicht mitbekommen, was vor sich geht, oder sie würden meinen, sie wüßten es, obwohl sie es tatsächlich gar nicht wissen. Sehr oft würden sie die Schauspieler zwar sehen, aber nicht hören. Ich brauche nicht zu erklären, daß es im Leben größtenteils genauso zugeht. Unsere Freunde ziehen vorbei, und wir haben mit ihnen zu tun. Sie ziehen weiter, und wir müssen uns aufs Hörensagen verlassen oder verlieren sie völlig aus den Augen. Sie ziehen wieder vorbei, und entweder erneuern wir unsere Freundschaft - holen das Versäumte nach - oder stellen fest, daß wir einander nicht mehr verstehen.

    Er spricht von sich selbst. Das ist seine Geschichte, eine Geschichte der vernünftig gedämmten, kanalisierten planierten und technisch geregelten Gefühle und eine Gegengeschichte zur großen Oper der lodernden Leidenschaften und dramatischen Ereignisse. Der mutterlos aufgewachsene Sproß einer alteingesessenen Ostküstenfamilie schließt während seiner Studienjahre Freundschaft mit einem Bruder im Geist, Harrison Mack, dem Erben eines Industrie-Imperiums, der Kommunist ist. Jahre später, als Todd Andrews nach Hause zurückkehrt und in die väterliche Anwaltskanzlei eintritt, trifft er Harrison wieder, der inzwischen verheiratet ist und sein Elternhaus bewohnt, das er nach dem Bankrott und Selbstmord des Vaters verkaufen mußte. Dem einvernehmlichen Entschluß zum erotischen Zusammenschluß und Dreierbund folgt nach Jahren einer glücklichen ménage à trois und der Geburt eines Kindes der einvernehmliche Entschluß zur Beendigung des Verhältnisses. Die Harrisons verschwinden nach Europa. Am Vorabend ihrer Abreise besuchen sie die "Schwimmende Oper", auf der sich die ganze Stadt versammelt. Todd macht Anstalten, das Showboot in die Luft zu sprengen, die effektvolle Scheinexplosion der Schwimmenden Oper am Ende des Programms in ein Ende seiner selbst, der Macks und der ganzen Stadt zu verwandeln. Doch sein Anschlag misslingt.

    "Wenn Sie nicht sofort verstehen, daß der Schluß meiner Geschichte von der "Schwimmenden Oper" undramatisch sein muß, dann liegt schon wieder ein Fall von mangelhafter Kommunikation vor. Sie können über die formalen Erfordernisse des Geschichtenerzählens sagen, was sie wollen - dies ist meine Oper, und ich werde Sie ebenso sanft aus ihr herausführen, wie ich Sie hineingeführt habe. Ich habe aus Prinzip wenig Verwendung für einen krachenden Schluß wie den von Burley Joe ... Wieso sprang ich, nachdem mein erster Versuch gescheitert war, nicht einfach vom Landessteg hinunter in den Choptank? Weil ich allmählich erkannte, daß ich um die Ecke gebogen war ... Das war eine Ecke, kann ich Ihnen sagen! ... Wir trafen Harrison, Jane und Jeannine am Fuße des überfüllten Landestegs.

    So bleibt seine Geschichte fast ohne Ereignisse. Sein Erzählen ist aber die embryonale Stufe des Romans. Der Tatsachenbericht leuchtet die Oberfläche des Geschehens aus, um seine Tiefenräume zu verhüllen. Die Löcher im Text, seine blinden Stellen legen sich wie Nebelschwaden über die Geschichte und verhüllen ihren Kern, einen geweihten Innenbezirk, der offenbar unbetretbar ist wie einst das Numen der griechischen Gottheiten. Der Erzähler folgt der archaischen Methode, das Allerheiligste zu bergen und zu verbergen. Aus den unendlichen Fluten des Bewußtseinsstroms, der seine Gegenstände vor sich hertreibt, dreht und wendet, löst sich wie ein Fels in der Erzählbrandung das Bild Janes. Jane ist die einfachste Figur des Romans, eine Gestalt der Schönheit, die mit Verstand gepaart ist. Er spricht von seiner "Affäre" mit ihr. Doch die Bilder der Augenblicke, die er nach Jahrzehnten noch heraufruft, visuelle und auditive Reminiszenzen, beschwören mit ihrer geradezu leibhaften Gegenwart eine Gestalt reiner Liebe und Unberührbarkeit, ein Idol und Andachtsbild.

    So verrät sich die Unfähigkeit des Prinzipienreiters, seiner Gefühlsnöte Herr zu werden. Seine Niederschrift hält das Gefühl wach und wendet es in maskierter Form nach außen. Er nutzt die unaufhebbare Nachträglichkeit und entschiedene Intentionalität ihrer Darstellung, um das verlorengegangene Liebesglück festzuhalten. Eine Totenbeschwörung und mitten in Verlust und Abschied der Triumph der Liebe.

    "Die schwimmende Oper ist eines der Bücher, die zeigen, daß die Zeit eines ganzen Lebens nicht ausreicht zu erzählen, wie jemand die Straße überquert. Die Geschichte des Tages, der erzählt wird, geht nicht in der Naturzeit des Tages auf. Der Romanheld bricht morgens in sein Anwaltsbüro auf und kehrt nach einem Mittagessen mit seinem Freund und einem abendlichen Besuch in seinem Haus und danach des Varietés in sein Hotel zurück. Das ist alles, was geschieht. Aber zwischen den Tag und seine Chronik schiebt sich das unendliche Reflexionspotential eines Bewußtseins, das in sein anscheinend eigensten Wesen und Leben eintauchen will und in reißendes Gewässer gerät. Einen unmittelbaren Zugang zur Vergangenheit sucht das erinnernde Bewußtsein vergeblich. Man steigt nicht zweimal in denselben Fluß. Das Ergebnis ist eine furchtbare, furchtbar komische Anarchie rekonstruierenden Denkens und der Prachtbau eines humoristischen Romans über ein gebrochenes Herz.

    John Barth gehört neben Thomas Pynchon zu den großen Gestalten der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Aber der Autor, der 1930 in Cambridge/Maryland geboren wurde und als Professor für Englische Literatur zunächst an der Pennsylvania State University, dann an John Hopkins lehrte, ist hierzulande verschollen. Wer Glück hat, findet das eine oder andere seiner wenigen übersetzten Bücher in der vergessenen zweiten Reihe der elterlichen Bibliothek. Der Tabakhändler erschien 1970 im Rowohlt Verlag. 1973 folgte ein zweites seiner Meisterwerke Ambrose im Juxhaus: Fiktionen für den Druck, das Tonband und die menschliche Stimme. Aber damals waren wir mit der Revolution und der Abschaffung der Literatur beschäftigt. In den achtziger Jahren wagte der Ullstein Verlag noch einen Versuch mit Ich bin Jake Horner. Damals schon hätte uns das Seitenwerk eine Vorstellung vom Rang des Autors verschaffen können. Nun hebt der Münchener Liebeskind Verlag sich selbst mit dem Debüt des Autors aus der Taufe. Damit weckt er Hoffnungen auf eine konsequente Pflege seines Werks, möglicherweise auf eine deutsche Barth-Ausgabe.

    Die schwimmende Oper ist 1956 in New York erschienen. Aus der Distanz der unerhörten Spiegel-, Spiral- und -Labyrinthkonstruktionen seiner Hauptwerke erscheint sein Anfang als exemplarische schriftstellerische Grundsteinlegung. Die Fundamente seines Werks baut er auf den Schultern jener Erzählriesen, die dem humoristischen Roman im 18. Jahrhundert eine seiner Blütezeiten bescherten: John Fielding und Lawrence Sterne. Ihre geistreiche Auseinandersetzung mit der Vernünftigkeit ihrer Zeit setzt Barth mit einer modernen Komödie der Gefühle fort.

    Der Advokat ist ein Mann der Sachlichkeit. Er sammelt und ordnet die Fakten.

    Als ich mich vor sechzehn Jahren entschloß, darüber zu schreiben, wie ich es mir eines Abends im Juni des Jahres 1937 anders überlegte, schwebte mir kein Titel vor. Tatsächlich ist mir erst vor einer Stunde, als ich anfing zu schreiben, klar geworden, daß die Geschichte mindestens Romanlänge haben würde, und ich entschied mich daher, ihr einen Romantitel zu geben. 1938, als ich mich entschloß, die Geschichte aufzuschreiben, war sie ein Teilaspekt der Vorarbeit für ein Kapitel meiner Untersuchung gedacht, deren Aufzeichnungen und Unterlagen den größten Teil meines Zimmers füllen. Ich bin ein gründlicher Mensch. Sowie ich mir geschworen hatte, diesen Junitag zu Papier zu bringen, bestand meine erste Aufgabe darin, so vollständig wie möglich sämtliche Gedanken und Handlungen zu erfassen, die diesen Tag ausmachten, dafür zu sorgen, daß nichts ausgelassen wurde. Für diese kleine Aufgabe brauchte ich neun Jahre - ich habe mich nicht unter Druck gesetzt- , und die Aufzeichnungen füllen die sieben Pfirsichkisten da drüben am Fenster. Dann mußte ich ein bißchen lesen: ein paar Romane, um das Gefühl dafür zu bekommen, wie man so was macht, Dinge erzählen, sowie ein paar Bücher über Medizin, Schiffsbau, Philosophie, Dichtkunst, Meeresbiologie, Jurisprudenz, Pharmakologie, die Landesgeschichte von Maryland, die Zusammensetzung von Gasen und ein paar weiter Sachen, um mir etwas "Hintergrundwissen" anzueignen und um sicherzugehen, daß ich begriff, was passiert war.

    Der Dilettant des biographischen Gewerbes führt Kalender, datiert Entschlüsse, vermißt die Zeitabstände zwischen ihnen und setzt sie in Relation zur Gegenwart des Erzählens. Er verzeichnet die fünfundvierzig Minuten seines täglichen Frühstücks mit den Mitgliedern des Dorchester Entdecker-Clubs, die Uhrzeit seines Betretens der Straße, des täglichen Mittagessens mit seinem Freund, den Termin beim Arzt, hält das Jahr fest, in dem er begann, jeden Morgen die Hotelrechnung des Tages zu bezahlen. Der Erzählbürokrat weiß das Jahr, in dem er zum Lebemann wurde, später zum Heiligen und am Ende zum Zyniker und addiert die 673 Augenblicke seines Liebesglücks. Doch in dem Maße, in dem er Ordnung schafft, verliert er die Übersicht. So ist er außerstande, den Tag zu bestimmen, dessen Geschichte er erzählt. Die Folge ist, daß seine Datensammlungen wie eine Art Naturkatastrophe über sein Schreiben hereinbrechen. In der Hitze der Materialschlachten an der Schreibfront verliert er die Frage aus den Augen, derentwegen er das Buch schreibt. Ja, recht besehen fehlt auch die Frage selbst, die Lebensfrage, die erörtert werden soll. Das freilich ist kein Verlust. Wir kennen sie längst.

    Hamlets Frage ist in jeder Hinsicht bedeutungslos. Während ich meine Zigarre zu Ende rauchte, machte ich mir noch ein paar beiläufige Notizen für meine Untersuchung, die, wie sie verstehen werden, wieder eröffnet war. Sie sind hier von geringem Interesse - was heißt, daß sie von einigem Interesse sind. Zum Beispiel kam mir der Gedanke, daß ich, der ich mit einer unendlich großen Zahl möglicher Richtungen konfrontiert war und keinen triftigen Grund hatte, eine Richtung einer anderen vorzuziehen, mich aller Wahrscheinlichkeit nach, obwohl keineswegs notwendigerweise, genau so verhalten würde, wie ich es bis dahin getan hatte, so wie ein auf der Flucht angeschossenes Kaninchen in dieselbe Richtung weiterläuft, bis es vom Tod eingeholt wird. Möglicherweise würde ich bei einer zukünftigen Gelegenheit ein weiteres Mal versuchen, die schwimmende Oper, meine lieben Nachbarn und Kollegen und/oder mich selbst in die Luft zu jagen. Höchstwahrscheinlich würde ich es nicht tun.

    Der Autor hat hinter dem Rücken seines Erzählers dafür gesorgt, daß wir das alte Schauspiel erkannt haben, das vor neuen Kulissen gespielt wird. Todd Andrews erzählt seine Geschichte, indem er Hamlets Monolog deklamiert, der die Frage nach dem Sein oder Nichtsein erörtert. Hier, am Ende des Buchs trennt er sich von seiner Rolle. Der Tag, an dem er es sich anders überlegte, endet, wo er begann, in seinem Hotelzimmer. Morgenfrüh wird er wie immer aufstehen und nach einem Schluck aus der Whiskeyflasche und einem Guß Wasser ins Gesicht seine alten Freunde im Dorchester Entdecker-Club aufsuchen, um nach fünfundvierzig Minuten des Kaffeetrinkens und der Unterhaltungen über Sein oder Nichtsein seinen pünktlichen Kurs durch die Tage seines Lebens fortzusetzen. Nicht Todd Andrews wird in der allmorgendlichen Runde alter Leute fehlen, die ihre Tage damit verbringen, ihre Tage zu zählen. Den Selbstmord hat Mr. Hacker verübt, den Todd zuvor von der Richtigkeit des Entschlusses überzeugt hat. So umgibt der Autor seine Figur mit Spiegeln, aus deren Brechungen er das Bild des modernen Hamlet zusammensetzt. Er lebt in einer Abstraktion von der Gegenständlichkeit, die so weit fortgeschritten ist, daß das Leben vom Nachsinnen aufgezehrt wird und die Gegenwart nur noch gedanklich erreichbar ist.

    Nun, das war sie eigentlich, meine Meinungsänderung im Jahr 1937: Es ging einfach nur darum, meine Prämissen vollständig bis zu ihrer letzten Konsequenz zu verwirklichen. Der Konvention zuliebe würde ich die Vorstellung ja gerne mit großen Gefühlen zu Ende gehen lassen, doch obwohl mein Denken zwischen 1919 und 1937 in vielerlei Hinsicht eine stürmische Entwicklung durchgemacht hatte, war die Essenz meiner Schlußfolgerung, daß Gefühle dabei nicht zwangsläufig eine Rolle spielen mußten. Es ist überwältigend zu erkennen, daß letztlich nichts wichtig ist. Aber wenn man es dabei beläßt und aus Prinzip Heiliger, Zyniker und Selbstmörder wird, dann hat man die Sache nicht vollständig zu Ende gedacht. Die Wahrheit ist, daß nichts wichtig ist, einschließlich der Wahrheit.

    Der Fluchtpunkt des Romans ist Todd Andrews "Untersuchung". Die "Untersuchung" befasst sich mit dem Selbstmord des Vaters, der ein angesehener Anwalt war, bevor er sein Vermögen an der Börse verspielte. Der Vater zog die Konsequenzen. Der Roman, der entsteht, ist sein Gegenstück. Todd Andrews faßt am Morgen jenes Junitages den Entschluß zum Selbstmord. Es ist eine Augenblick der Ekstase. Wo aber sonst die Macht der Stunde das Handeln final strukturiert, vereinbart er einen Termin beim Arzt.

    Zwischen dem, was passiert, und den gängigen Vorstellungen von Verstehen und Sinn klafft ein Riß. Deshalb entsteht an ihren Berührungsstellen im Text eine Art Zeitnot der Prosa. Es ist eine Differenz der Lebensgeschichte mit sich selbst, ein prinzipielles Auseinanderlaufen von konkreter Wirklichkeit, Reflexion und Darstellungsform. Den Höhepunkt solcher Zerrissenheit bildet die Darstellung seiner ersten Liebesnacht und der letzten mit Jane, vor allem aber seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg.

    Er wird mit seiner Einheit abkommandiert, eine aufgeriebene Schützenkompanie zu ersetzen. Granaten explodieren, Offiziere brüllen, die Soldaten fallen hin und sind außerstande, sich zu erinnern, wie man schießt, das Sperrfeuer hört auf, plötzlich ist Nacht, ringsum zerfetzte Baumstümpfe, er ist taub, sieht in einer Mulde Männer, schießt, kriecht selber auf allen vieren durch einen schlammigen Bombentrichter, plötzlich, wie aus dem Nichts ein deutscher Landser, der hereinspringt, er überwältigt ihn, dann umarmt und küßt er ihn leidenschaftlich, verbindet seine Wunde, bewacht seinen Schlaf, und ersticht ihn mit dem Bajonett. Dem kurzen Frieden mitten im Krieg ist aber ein Augenblick in den Klauen der Angst vorausgegangen.

    Alles war wieder still, nur ein paar Leuchtraketen gaben ein zwischen Geräusch von sich., während sie durch die Luft herabschwebten. Und jetzt bekam ich richtige Angst, eine rein körperliche Empfindung. Sie überkam mich in bebenden Wellen, von meinen Schenkeln und meinem Gesäß bis zu meinen Schultern und meiner Kinnlade und wieder zurück, eine Schockwelle nach der anderen. Es war keine Feigheit mit im Spiel, mein Verstand war überhaupt nicht beteiligt - entweder dachte ich an etwas anderes, oder, was wahrscheinlicher war, ich war einfach benommen. Feigheit erfordert eine Entscheidung, doch Angst hat nichts mit Entscheidungen zu tun. Als die Wellen meine Hüfte und meine Schenkel erreichten, öffnete mein Körper seine Schließmuskeln; als sie über meinen Bauch und meine Brust wanderten, würgte und keuchte ich; als sie mein Gesicht trafen, klappte mir der Kiefer herunter, mir rann der Speichel aus dem Mund, und meine Augen tränten. Dann ließen sie nach, um mich erneut zu überfluten. Ich habe keine Ahnung, wie lange das so ging, vielleicht nur eine Minute lang. Aber es war das reinste und stärkste Gefühl, das ich jemals erlebt habe.

    Es sind, hier wie in den Schlüsselszenen seiner erotischen Erlebnisse, Bilder der ausgelieferten Kreatur, Urbilder menschlicher Ohnmacht. Sie werden vernunfttechnisch beantwortet, mit Entschlüssen, Lebensreformen und wechselnden hedonistischen, moralistischen und nihilistischen Programmen. Den Höhepunkt solchen Gegensinns von sinnlichem Erleben, Anschauen, Wahrnehmen und reaktivem Handeln meldet der Romanschluß.

    Als mir dies klar war, machte ich mir eine Notiz, die Mitteilung an Jimmy Andrews abzufangen, drückte (nun doch) meine Zigarre aus, zog mich aus, ging in einer ungeheuer tröstlichen Einsamkeit zu Bett und schlief ziemlich gut, trotz des lächerlichen Gewitters, das bald darauf überall um mich herum losbrach.

    So übersetzt Matthias Müller die Sätze. Doch sagt das Original, daß er nach dem Löschen der Zigarre ohne Zögern die Treppe hinuntergeht, um mit den Macks zu telephonieren, wobei er mit einem Lächeln das Gewitter übersieht, das im gleichen Moment über Cambridge hereinbricht.

    Demnach wäre Todd Andrews noch einmal um eine Ecke gebogen, wo das erlösende Wunder in Gestalt der Macks abermals auf ihn wartete. Gleichzeitig machte er sich über die Natur lustig, die für das falsche Programm die Kulisse liefert. Hier, in der Version des Originals, beschreibt der Roman einen großen Bogen zurück zum Anfang, die Zeit wird aufgehoben und das Buch einem letzten Höhepunkt zugeführt. Mag sein, daß John Barth den Text später überarbeitete und den Schluß umschrieb. Aber der Übersetzer, dessen Arbeit im großen und ganzen keinen Anlaß zu Tadel gibt, hätte gut daran getan, mit einer Fußnote darauf hinzuweisen.

    Im Vordergrund der Lektüre aber steht die Freude über das Wiedersehen mit John Barth, der zwischen Schreiben, Geschehen und Geschichte sein großes Thema entwickelt: der Abschiedscharakter allen Erinnerns, Erzählens, aller Kunst.