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Die sehende Pille

Moderne Endoskope dringen in die verwinkeltsten Öffnungen des Körpers, doch auch für die Ärzte gibt es immer noch unbekannte Gebiete, die sie nicht sichtbar machen können. Der meterlange Dünndarm gehört dazu. Amerikanische Wissenschaftler haben deshalb eine sehende Pille entwickelt, die Bilder aus dem Darm senden kann. Inzwischen wird das U-Boot im Dienste der Medizin auch in Deutschland erprobt, an der Charite in Berlin.

    Dr. Winfried Voderholzer sitzt mit seinem Patienten vor einem Computer an der Charite. Der Bildschirm zeigt eine Fahrt durch den Verdauungstrakt, genauer durch den Dünndarm, der sich mit einer gewöhnlichen Magen- oder Darmspiegelung nicht erreichen lässt. Der Patient leidet seit Jahren an massiven Durchfällen. Die Ärzte diagnostizierten Zöliakie, eine Getreide-Unverträglichkeit, die mit einer strengen Diät behandelt wird. Doch in seinem Fall brachte sie keine Verbesserung, die Durchfälle gingen weiter. Deshalb wandte er sich an die Charite. Hier experimentiert Winfried Voderholzer mit einem verschluckbaren Endoskop. Der freischwimmende Sensor ähnelt einem Miniatur-U-Boot, drei Zentimeter lang, einen Zentimeter dick. Vorne ist eine durchsichtige Kuppel unter der eine winzige Linse und vier Leuchtdioden zu sehen sind, die zweimal in der Sekunde aufblitzen. Außerdem enthält die Kapsel einen lichtempfindlicher Chip, leistungsstarke Batterien und einen Sender. Ein Wunderwerk der Miniaturisierung.

    Acht Stunden lang empfing eine Aufnahmegerät am Gürtel des Patienten alle zwei Sekunden ein Bild von der sehende Pille. Dann waren die Batterien leer und wenig später verschwand die 1.000 Mark teure Hightech-Kapsel auf nimmer wiedersehen in der Toilette. Am nächsten Tag begann Winfried Voderholzer mit der aufwendigen Auswertung des Darmvideos. Der Dünndarm ist mehrere Meter lang, es dauert ein bis zwei Stunden bis jede Rötung, jede Veränderung markiert ist.

    Wegen der hohen Kosten und der zeitraubenden Auswertung kommt die Untersuchung wohl nur in wenigen Fällen in Betracht. Dr. Winfried Voderholzer: "Gesicherte Indikationen sind unklare gasterointerstinale Blutungen, dass heißt, Patienten, die immer wieder bluten, und man findet mit der Magen- und oder Darmspiegelung keine Ursache."

    Auf dem Video sind immer wieder Rötungen sowie Dellen mit vorgewölbten Rand und mit weißem Zentrum zu erkennen. Für Winfried Voderholzer deutliche Hinweise, dass Michael Bansemer nicht an einer Zöliakie leidet. Statt dessen findet der Mediziner Veränderungen, wie sie für Morbus Chron typisch sind. Morbus Chron ist eine dauerhafte Entzündung des Darms, die nur schwer zu diagnostizieren ist. Für den Patienten bedeutet die neue Diagnose, dass er sich nicht mehr der strengen Diät unterwerfen muss. Mit anderen Medikamenten kann er nun auf die Besserung seines Leidens hoffen.

    [Quelle: Volkart Wildermuth, Winfried Voderholzer]