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Die Sehnsucht nach der Welt von gestern

Nun liegen fast tausend Seiten vor über das Leben von Wolf Jobst Siedler. Zwei weiße Bände mit jeweils literarisch anspielungsreichen Titeln: "Ein Leben wird besichtigt. In der Welt der Eltern" und das neue Buch "Wir waren noch einmal davongekommen. Erinnerungen". Siedler war Journalist, Autor, aber vor allen Dingen Verleger. Um seine Verlagstätigkeiten bei Ullstein und Propyläen und dann natürlich im eigenen Siedler-Verlag erschöpfend darzustellen, müsste ein dritter Band folgen. Ob er dieses Buch jemals schreiben wird, ist fraglich. Bei der Lektüre hat man zumindest das Gefühl, das Wesentliche hat er gesagt.

Von Angela Gutzeit |
    Hier hat jemand sein Leben besichtigt und für gut befunden. Das Leben als gelungener Wurf. Und das im 20. Jahrhundert? Was ihn offenbar unbeschadet hinweg getragen hat über die Katastrophengeschichte seiner Zeit, das ist, um es mit Rüdiger Safranski zu formulieren, Siedlers Bewusstsein, Teil einer "bürgeraristokratischen Tradition" und dieser verpflichtet zu sein. Und das ist das Faszinierende an dieser umfangreichen Selbstbetrachtung: Siedler verkörpert ein Bewusstsein, das seine Wurzeln im Berlin der preußischen Ära hat und ungebrochen, nicht unreflektiert, aber von Schwermut und Trauer umweht, eine fremdartige Spur zieht bis in unsere Tage.

    Wolf Jobst Siedler wurde am 17. Januar 1926 in Berlin Dahlem geboren, wo er auch heute noch im Haus seiner Eltern am Falkenried lebt. Sein Vater war vor dem Ersten Weltkrieg Konsul, also Kolonialbeamter, in Konstantinopel und Alexandria. Zu den Vorfahren der Eltern gehören mütterlicherseits der Altphilologe Adolf Stahr, die beiden Lieblingschülerinnen von Franz Liszt, Anna und Helene Stahr, die jüdische Familie Gerson mit dem größten Kaufhaus Berlins während der Kaiserzeit. Väterlicherseits der Bildhauer Johann Gottfried Schadow wie auch der Komponist Karl Friedrich Zelter. Auf diese glanzvolle familiäre Herkunft immer wieder hinzuweisen, ist Wolf Jobst Siedler spürbar ein Anliegen. Er leitet aus ihr nicht nur sein Traditions- und Geschichtsbewusstsein ab, sondern sieht hier auch die Resistenz seiner Familie gegen politische Massenhypnose, Rassenwahn und ideologische Vereinnahmung begründet. Bildung, Anstand, Standesbewusstsein als Schutzwall gegen die Erosionen der Zeit. Wolf Jobst Siedler beschreibt die Atmosphäre seiner Herkunft in für ihn typischer Weise so:

    Als Hitler 1933 die Macht übernahm, war ich ganze sieben Jahre, in den dreißiger Jahren war ich unmerklich aus dem Kindesalter in die Schulzeit übergewechselt, und seit meinem zwölften Lebensjahr hatte ich in einem Internat in Thüringen gelebt. So war zwar der Falkenried mein Zuhause, aber im Grunde kannte ich ihn und unsere Nachbarn wenig. Das galt nicht nur für mich; auch meine Eltern lebten in höflicher Distanz zu den Bewohnern der angrenzenden Häuser. (...) Nur in Ausnahmefällen grüsste man sich über den Zaun hinweg, ich erinnere mich nicht, dass irgendein Verkehr von Familie zu Familie stattgefunden hätte. Das wäre
    als Zudringlichkeit empfunden worden, wie denn auch mein Vater auf der Strasse lediglich den Hut zog, wenn er Nachbarn begegnete. - Übrigens begrüßte mein Vater später auch unsere Haushälterin Hildegard Klopsch, indem er den Hut zog. (...) Er machte keinen Unterschied zwischen Damen der Gesellschaft und Hausangestellten. Seine mit ihm altgewordene Chefsekretärin Lisa Pollmächer erzählte mir 1963 bei der Trauerfeier für ihn, dass er, selbst als er Dutzende von Angestellten hatte, jedes Mal aufgestanden war, wenn er eine Sekretärin, und sei sie die jüngste, morgens zum ersten Mal den Raum betrat. Auch das ein Brauch der alten Welt.


    Und an anderer Stelle zur Haltung des Bürgertums gegenüber Hitler:

    Die Anhängerschaft des Mannes mit seiner fremdartig-gutturalen Stimme kam, was immer die Forschung sagt, vorzugsweise aus dem Kleinbürgertum. Das Wort von der 'Revolution des Plüschsofas' kommt aus dieser Anfangszeit. "Don't speak in front of the maids", wurden die Kinder noch ein paar Jahre später bei Tisch ermahnt, was vielleicht auch damit zusammenhing, dass der Freund von Gertrud, unserem Hausmädchen, bei der SA war...

    Bei diesen Schilderungen - wie auch bei vielen anderen Passagen in seinen beiden Büchern - kommt einem der Verdacht, Wolf Jobst Siedler habe nicht so recht über den Gartenzaun der heilen, übrigens im Krieg unzerbombten Berlin- Dahlemer Idylle hinausblicken wollen. Sicher - seine Familie hat kritischen Abstand zu den Nationalsozialisten gehalten. Und sicher ist aus dieser Anti-Haltung herzuleiten, dass der junge Siedler zusammen mit dem jungen Ernst Jünger, dem Sohn des Schriftstellers, lockere Reden über die Verachtenswürdigkeit des Naziregimes führten. Sie wurden belauscht, denunziert, ins Gestapogefängnis eingeliefert und wären möglicherweise hingerichtet worden, wenn sich nicht mächtige schützende Hände über sie gelegt hätten. Ernst Jünger junior hat das nicht viel genützt. Er fiel bei der so genannten 'Frontbewährung' in der Mamorschlucht von Carrara. Das letzte Buch eines Vaters, dass er laut Siedler gelesen haben soll, heiß: "Auf den Marmorklippen".
    Von diesen ehrenhaften Geschichten aber auf eine ideologische Immunität des gebildeten Bürgertums gegenüber dem Nationalsozialismus zu schließen, wie Siedler es in beiden autobiografischen Büchern tut, ist verfehlt. Die Schicht, die am stärksten versagt hat während der Nazizeit und gerade auch zu Beginn der Nazizeit, das ist das Bürgertum. Die Bücherverbrennung von 1933, der kulturelle Bruch mit dem humanen Menschenbild überhaupt in der neueren Geschichte, wurde maßgeblich von Universitätsangehörigen getragen. Und Bildungsbürger aus den besten Kreisen innerhalb und außerhalb der Universitäten haben nicht gezögert, die Positionen ihrer verjagten jüdischen Kollegen einzunehmen. Moralisch gesehen war das für die konservative Welt des Bürgertums ein Fiasko. Ihre sittliche Substanz hat darunter nachhaltig gelitten. Deshalb ist es einfach ein Fehlschluss, wenn Siedler schreibt, dass die bürgerliche Epoche erst mit der Studentenrevolte Ende der 60er Jahre untergegangen sei, mit Adorno und Habermas und diesen Lieblingsfeinden des deutschen Konservatismus. Die 68er haben lediglich einer maroden Fassade einen Stoss gegeben. Dahinter war alles längst hohl.

    Anderseits ist Wolf Jobst Siedler kein engstirniger Konservativer. Und schon gar kein Reaktionär. Seine beschriebene Herkunft, seine umfassende Bildung, seine sprühende Intelligenz haben ihn dazu befähigt, unzeitgemäße Denkanstösse zu geben zu historischen Fragen oder zur Architektur Berlins. Außerdem schuf er Freiräume für verlegerische Großprojekte. Davon soll noch die Rede sein.

    Ein weiteres großes Feld, das Siedler erfolgreich bearbeitet hat, ist das der Memoiren und der Biografien. Fast alle deutschen Staatsmänner und interessanten politischen Köpfe haben unter seiner Regie im Springer-eigenen Propyläen- und auch dann im Siedler-Verlag ihre Erinnerungen verlegen lassen. Auch Gorbatschow und Boris Jelzin sind hier zu finden. Dem Genre der Biografie wurde unter Siedlers Regie zur Blüte verholfen Es wurde gepflegt, wie sonst nirgends. Das Spektrum der Autoren von Konrad Adenauer, Franz Josef Strauss , über Helmut Schmidt bis Bruno Kreisky zeigt, dass Siedler an politischer Einseitigkeit nicht interessiert war. Aber es gibt durchaus Memoirenprojekte, die heikel waren und vor allen Dingen zu denen er in seinem zweibändigen Erinnerungswerk keinen kritischen Abstand gefunden hat.

    Das Beispiel dafür ist Albert Speer. 1966, als Hitlers engster Vertrauter nach zwanzigjähriger Haft entlassen wurde, arrangierte Wolf Jobst Siedler ein Treffen, weil er an den im Spandauer Gefängnis verfassten Erinnerungen Speers interessiert war. Hören wir ihn selbst, wie er diesen Kontakt, den er später mit fachlicher Hilfe des Historikers und einstigen FAZ-Herausgebers Joachim Fest fortsetzte, beschreibt:

    Ich sah der Begegnung mit einiger Unruhe entgegen. Hitlers fast geliebter Chefarchitekt und später sein allmächtiger Rüstungsminister, gerade aus der Einzelhaft entlassen, war noch immer eine geheimsnisumwitterte Gestalt, und manche Zeitungen war schockiert, als sich die Nachricht herumsprach, Speer würde in den Kreis der Autoren des Propyläen Verlages treten. So waren wir wohl beide befangen, als wir uns das erste Mal begegneten. Aber der Umgang mit ihm war merkwürdig leicht, ein älterer Herr, erkennbar aus guten Kreisen, wie von langer Abwesenheit zurückgekommen. Nur an Details erkannte man, dass er gerade aus einer jahrzehntelangen Gefängnishaft entlassen worden war. So zum Beispiel, als er Wein zum Essen ablehnte: "Sie müssen bedenken, das in Spandau Alkohol verboten war.

    Und weiter:

    Als das Resultat unserer Mühen in Form des ersten Vorausexemplars vor uns lag, schlug Speer vor, dass wir alle zusammen - er und seine Frau Margarete, Fest mit einer Frau Ingrid und ich mit Imke - im Erbprinz in Ettlingen ein festliches Essen haben sollten. Am nächsten Tag würde das Buch der Öffentlichkeit und vor allem der Presse präsentiert werden, ein Ereignis, dem Speer mit ziemliche Sorge entgegensah. Seine Bedenken galten einem möglichen Misserfolg des Buches, das dann mit vierzehn Auflagen und mehr als einer halben Million Exemplaren einer der spektakulärsten Bestseller der Nachkriegszeit wurde. In einer gelösten Stimmung ärgerte ich Heinrich Böll bei einem meiner Besuche in seinem Landhaus in der Eifel: "Sie haben es zu unser aller Bedauern trotz des Nobelpreises nie zu einem solchen Erfolg gebracht.

    Auch ein Brief von Margarete Speer, in dem sie sich für das "freundschaftliche Beisammensein" bedankt und auf Fortsetzung hofft, ist abgedruckt. -

    Folgendes ist dazu zu sagen: Bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen hat Albert Speer sein Leben retten können, weil er die Richter davon überzeugte, ihm sei es zu verdanken, dass es beim militärischen Zusammenbruch im Reichsgebiet keine Kriegsführung der "verbrannten Erde" gegeben habe. Das ist ein Märchen und durch neuere Forschungen seit einigen Jahren weitgehend widerlegt. Der angebliche "Retter Deutschlands" hatte lediglich geschickt seine Spuren verwischt und Dokumente erfolgreich unterschlagen, die lange Zeit auch tatsächlich unbeachtet blieben. Seine von Siedler und Fest überarbeiteten Memoiren im Propyläen Verlag haben letztendlich dazu beigetragen, dass der "Mythos Speer" so lange bestehen blieb. - Es wäre erfreulich gewesen, wenn Wolf Jobst Siedler in seinem jüngsten autobiografischen Band "Wir waren noch einmal davongekommen" - zu Speer passt dieser Titel erheblich besser! - die längst bekannten Forschungsergebnisse in das Speer-Kapitel einbezogen hätte.

    Daraus nun eine Geistesverwandtschaft Siedlers mit der einstigen Nazigröße schließen zu wollen, wäre allerdings verfehlt. Aber der traditionsbewusste Konservative aus gutem Hause ist da wohl gründlich geblendet worden, durch das, was ihm als bürgerliche Tugenden so heilig ist: Gute Herkunft und Manieren, nobles Auftreten und gebildete Reden. - Aber Etikette ist eben nicht alles!

    Wolf Jobst Siedler ist kein Historiker. Er ist eher ein gebildeter , leidenschaftlicher Traditionalist. Seine größte Begabung liegt im Schreiben und hier insbesondere in der Essayistik, in der genauen Skizzierung von Menschen, die ihm imponierten, und städtischen Milieus, die ihn prägten. Verleger ist Wolf Jobst Siedler wohl geworden, weil einerseits, das ist herauszuhören, sein Vater das journalistische Schreiben eher verachtete. Zum anderen wollte er Berlin nicht verlassen. Auf journalistischem Gebiet konnte er da kaum mehr erreichen als Feuilleton-Chef des "Tagesspiegel" zu werden, was Siedler von 1955 bis 1963 denn auch war. Aber vielleicht gibt es ja auch noch einen anderen Grund: Siedler liebt die Literatur über alles, aber kaum ein zeitgenössischer Schriftsteller der 50er und 60er Jahre, also in der Zeit, in der er journalistisch tätig war, konnte ihn zufrieden stellen. Er wollte sich auf die Literatur der Nachkriegszeit nicht einlassen. Zu den wenigen Ausnahmen zählte Uwe Johnson, weil er quer lag zu dem damaligen deutsch-deutschen Lagerdenken. Siedler beschreibt seine damalige Haltung im zweiten Band seiner Erinnerungen so:

    Aber im allgemeinen stand ich quer zu den Büchern meiner Zeit. Die jungen deutschen Lyriker von Günter Eich über Ilse Aichinger bis zu Ingeborg Bachmann beeindruckten mich nicht wirklich, denn ich war ganz und gar im Bann der Autoren der zwanziger Jahre, Gottfried Benn und Bertold Brecht. Jedes Jahr erschienen neue Bücher der so genannten Trümmerliteratur. Ich aber hielt Musil, Broch und Thomas Mann die Treue.

    Es war nicht Kritik an der politischen Haltung der meisten Autoren, die in linksliberaler Opposition zur Adenauerwelt standen, was mich zu einem Außenseiter machte. In meiner Sicht war es genau umgekehrt. Die Bücher der deutschen Autoren waren mir nicht politisch genug, und ihrer kleinstädtischen Welt war ich überdrüssig. Unsere Generation hatte Ungeheures erlebt, mehr als hundert Millionen waren in die Kriege gerissen worden, mit denen Hitlers Deutschland Europa überzogen hatte. Fünfzig Millionen waren Opfer seiner Eroberungskriege, sechs Millionen waren in den Vernichtungslagern des Osten ermordet worden. Aber die deutschen Romane beschäftigten sich mit Kleinbürgern im Rheinland, Fabrikanten in Württemberg und unappetitlichen Affären der Provinz.

    ... womit Siedler so manchem Autor auch unrecht tut. Die Zeit für Antikriegs- oder KZ- Romane war in der Nachkriegsära ungünstig. Die Verlage scheuten diese Themen. Heinrich Böll wie auch Erich Maria Remarque wurden mit ihrer Prosa von Verlagen zurückgewiesen oder im Falle Remarques nur stark verändert veröffentlicht. Und Autorinnen wie Ingeborg Bachmann mit ihrer subtilen Kritik an Faschismus und männlicher Gewalt wollte er wohl nicht zur Kenntnis nehmen.

    Wolf Jobst Siedler liebt die französische und die italienische Literatur. Ausführlich erwähnt er Ignazio Silone, Carlo Levi, Giorgio Bassani. Aber über allen schwebt der Name eines großen deutschen Romanciers: Thomas Mann. Die Familiengeschichte aus dem Hamburger Großbürgertum in den "Buddenbrocks", "Der Zauberberg", "Joseph und seine Brüder" - diese Romane hatten Siedler als junger Journalist in den Bann geschlagen und die Faszination hält bis heute an. In seinen Memoiren setzt sich Siedler jedoch überraschend wenig mit seinen literarischen Vorlieben oder Abneigungen inhaltlich auseinander. Warum er Gottfried Benn, Robert Musil, Thomas Mann bedingungslos gutheißt, Ernst Jünger in eingeschränktem Maße, - Böll, Grass und Bachmann aber ablehnt - das kann der Leser nur erahnen.
    Dafür leistet Siedler in seinen Erinnerungen etwas anderes: Er skizziert meisterhaft Haltungen von Autoren, die ihm nachstehen. Bei Thomas Mann ist es die Selbstinszenierung eines Großschriftstellers, der gewohnt ist, bei Lesungen geradezu Andacht zu verbreiten.

    Damals in Bad Gastein las Thomas Mann aus dem Manuskript der gerade entstehenden Fortsetzung des "Felix Krull". Er machte nicht ohne Eitelkeit das Publikum darauf aufmerksam, wie ungewöhnlich es sei, dass er ein Fragment wieder aufgegriffen hatte, das er noch vor dem Ersten Weltkrieg begonnen und dann zugunsten des "Tod in Venedig" abgebrochen habe. "Ich habe tatsächlich", eröffnete er seine Lesung, "den Faden dort aufgenommen, wo ich ihn vor vielen Jahrzehnten fallengelassen habe. Die Tinte auf dem Geschriebenen", dabei deutete er auf das auf seinem Pult liegende Manuskript", ist sozusagen noch nicht trocken. Das mag für Sie ein zusätzlicher Reiz sein." Das Publikum quittierte diese kokette Eröffnung mit Applaus, und der Dichter hinter seinem Lesepult verbeugte sich leicht. Tatsächlich schlug Thomas Mann die Hörer ganz und gar in seinen Bann. Nichts unterbrach die andächtige Stille. Bei keiner anderen Dichterlesung habe ich je etwas Derartiges wieder erlebt. Das leichte Vibrieren seiner modulationsreichen Stimme, die doch unverkennbar die eines alten Herrn war, verstärkte die Wirkung noch. Nach der Lesung erhob er sich, um mit altmodischer, fast übertriebener Verbeugung dem Publikum zu danken. Die Ovationen nahmen wohl zwanzig Minuten in Anspruch, bis er mit einer letzten Verbeugung im Künstlerzimmer verschwand.

    Das war 1954. Ein Jahr später starb Thomas Mann und mit ihm "das Geschlecht der Riesen", der großen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, wie es Thomas Mann selbst empfunden hat - und Siedler wohl auch.
    Siedlers journalistische Laufbahn hatte bei der legendären CIA-finanzierten Zeitschrift "Monat" des Melvin J. Lasky begonnen. 1963 beendete er sie beim "Tagesspiegel", um sich fortan als Verleger dem zu widmen, was auf dem Gebiet der Literatur so nicht aktuell war: Idealbilder der Vergangenheit zu beschwören, um sie für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Das tat er zum einen als Autor in essayistischer Form. Er verfasste zum Beispiel das zum Klassiker avancierte Buch "Die gemordete Stadt", ein Essay über das durch moderne Stadtplanung verschandelte Berlin. Robert Leicht schrieb einmal in der ZEIT sehr treffend, Siedler leiste in seinen Essays die subtilste Form der Trauerarbeit: "Eine ästhetische Kritik der Gegenwart aus dem Traum der Vergangenheit."

    Dieses Begehren steckt letzten Endes auch hinter der Vorliebe Siedlers für Quellenwerke der Zeitgeschichte, also für die Lebensläufe großer Männer in Form von Memoiren, oder für Biografien. Aber auch die großen historischen Überblickswerke wie zum Beispiel "Die Deutschen und ihre Nation" und "Deutsche Geschichte im Osten Europas", die er als Verleger im 1980 gegründeten Siedler-Verlag herausbrachte, zeugen von seiner Leidenschaft für vergangene Epochen. Ihren Untergang, besonders den der bürgerlichen Epoche und der Aristokratie mit ihren Standesunterschieden betrauert er. Das wirkt nicht selten antiquiert, vor allen Dingen, wenn er diese vermeintlich glanzvollen Epochen der heutigen "egalitären Massengesellschaft" gegenüberstellt - wie er nicht müde wird zu tun. Andererseits wehrt sich Siedler mit seinem ganzen Lebenswerk dagegen, deutsche Geschichte nur auf die Katastrophe der nationalsozialistischen Ära zu fokussieren und damit die "historische Fernerinnerung", wie es kürzlich Manfred Osten in seinem neuen Buch "Das geraubte Gedächtnis" formulierte, dem Verlöschen preiszugeben. Damit hat er Recht. Einer von Siedlers wichtigsten Weggefährten während seiner verlegerischen Laufbahn war Golo Mann. Mit ihm zusammen hat er insgesamt acht Jahre lang an der Edition der "Propyläen Weltgeschichte" gearbeitet. Das 12bändige Werk erreichte eine Auflage von über eine Million Exemplaren. Aber auch hier - wie in anderen Kapiteln seines zweiten Erinnerungsbandes - steht nicht das verlegerische Geschäft im Vordergrund, sondern die Persönlichkeit seines berühmten Mitherausgebers. Und wieder ist es eine bestimmte Haltung, die ihn interessiert: Der letztlich unnahbare, sperrige, manchmal schroffe Golo Mann, der seinen Vater Thomas Mann nur als "TM" bezeichnet, so wie er Adolf Hitler nur als "AH" tituliert. Der gebildete, versponnene, scheue Golo Mann, der auf gemeinsamen Wanderungen unentwegt rezitiert. Dieses Kapitel ist wohl das schönste des ganzen Buches.

    Ein Ausschnitt::

    Einmal mussten wir, eines gestürzten Baumes wegen, einen Umweg abseits des Weges machen. Ich erinnere mich noch, wie Golo Mann, der wegen seiner vielen Knieoperationen schwer durch das Unterholz ging, alle Strophen des Amaryllis-Zyklus von Friedrich Rückert vor sich her sprach, die ihm so ans Herz gewachsen waren, dass Rückert sein Autor gewesen wäre, wenn es so etwas bei Golo Mann gegeben hätte. (...) "Wenn man sechs oder acht Stunden zusammen wandert, so wird vieles gesprochen. Aber in meiner Erinnerung sind hauptsächlich Verse geblieben, die Golo Mann, ohne viel auf mich zu achten, gleichsam vor sich hin sagte - immer wieder August Platen, Eduard Möricke, Theodor Storm, vieles aus der 'Matratzengruft' von Heinrich Heine und dann ganze Szenen aus "Wallensteins Tod", wobei ihm die Augen feucht wurden, was er, den Kopf zur Seite drehend, zu verbergen suchte. Wenn uns ein Wanderer begegnet wäre - aber der Taunus war in diesen Morgenstunden menschenleer -, hätten wir ein sonderbares Bild abgegeben, ein Fünfunddreißigjähriger und ein wohl Fünfzigjähriger, die sich immer wieder ins Wort fallen und sich wechselseitig Verse sagen.

    Wolf Jobst Siedler, "Zeremonienmeister der großen Abschiede", wie er einmal ironisch genannt wurde, hatte 1998 die Leitung seines Siedler Verlages aufgegeben. Das nach Siedlers Verständnis urberliner Unternehmen , schon lange Zeit vorher an Bertelsmann/Random House verkauft, wurde 2003 nach München verpflanzt. Für Siedler wieder einmal ein Zeichen des geistigen und kulturellen Verfalls seiner Heimatstadt. Und so schließt er seine zweibändige Autobiografie mit dem melancholischen, auch ein bisschen eitlen Ton desjenigen, der mit seinem eigenen Verstummen auch das Verlöschen des letzten Glanzes vergangener Größe Berlins sichtet:

    Ich hielt die Fahne dieser Stadt jahrelang hoch, die mit einhundertzehn Buchverlagen einst die größte Verlagsstadt Deutschlands war, in der von Samuel Fischer über Ernst Rowohlt bis zu Kurt Wolff alle wichtigen Verleger zu Hause waren. Berlin ist auch in dieser Hinsicht verarmt. Die 'Verlagsstadt Berlin', wie Peter de Mendelsohn, seinen Buchtitel abwandelnd, Berlin oft nannte, gehört der Vergangenheit an. Nicht nur die Industrie und die Bankenwelt haben der Stadt den Rücken gekehrt, sondern auch Wissenschaftsinstitute wie die Max-Plack-Gesellschaft und eigentlich alle bedeutenden Bucherverlage. Aber ich will, vorläufig zumindest, von einer Fortsetzung nichts wissen, und so schreibe ich diese Sätze in dem Bewusstsein, dass es die letzten dieser Autobiografie sind.