Die Sintflut ist ein uralter Mythos – auch, aber nicht nur in der Bibel. Die Geschichte liefert Hinweise darauf, wie Menschen in der Menschheitsgeschichte mit dem Grauen in der Natur umgegangen sind. Thomas Naumann, Professor am Seminar für Evangelische Theologie der Universität Siegen, hat sich als Alttestamentler immer wieder mit der Sintflut im Buch Genesis der Hebräischen Bibel beschäftigt.
Naumann sagt: Den Bibel-Autoren geht es um die Zukunft, um "Rettung und das Versprechen, dass es eine Sintflut nie wieder" geben werde. Dafür stehe der Regenbogen als Symbol. Der theologische Kerngedanke des Textes sei: "Gott gibt eine Bestandsgarantie für die Welt." Dieses "Urvertrauen in die Welt" könne aber auch "eine Illusion sein". Auf die Frage, wie die Sintflutgeschichte Menschen heute und angesichts zunehmender Naturkatastrophen geistig wappnen könnte, sagte Naumann: "Der christliche Glaube hält mit der Sintflut-Erzählung an der Hoffnung fest, dass Gott seiner Schöpfung treu bleibt und sie nicht preisgibt, weil er sie geschaffen hat."
Das vollständige Interview im Wortlaut:
Andreas Main: Herr Naumann, aus bibelwissenschaftlicher Sicht – was lässt sich mutmaßen: Was wollten die Autoren der Sintflutgeschichte ihren Lesern sagen?
Thomas Naumann: Vielleicht ist ganz wichtig zu sehen: Es geht bei der biblischen Sintflut nicht um einen katastrophalen Regen, der immer wieder mal hereinbrechen kann, so wie wir das gegenwärtig erleben. Es ist ein Mythos von einer weltumspannenden Flutkatastrophe. Dieser Mythos wird erzählt, um die Angst vor solchen Katastrophen zu bannen. Denn an ihrem Ende steht Gottes Zusage: Das wird nicht mehr passieren, solange die Erde besteht.
Die Bibel kennt zwei Varianten der Sintflut-Geschichte
Main: Wann ist der Text entstanden?
Naumann: Im biblischen Text verbergen sich eigentlich zwei unterschiedliche Varianten der gleichen Story. Die werden jeweils etwas anders erzählt.
Main: Sie sind auch ein bisschen widersprüchlich…
Naumann: Genau. Es gibt zwei Schlüsse, zwei unterschiedliche Angaben über die Dauer der Flut und über die Anzahl der Tiere. Das ist zusammengearbeitet wie bei einem Reißverschluss. Zwei Hälften – zusammengearbeitet wurde das erst spätestens 400 vor Christus im frühen Judentum, wahrscheinlich in Jerusalem. Die Erzählungen selber sind etwas älter, die ältere vielleicht im achten Jahrhundert, die jüngere im sechsten Jahrhundert entstanden.
Aber vielleicht ist wichtig zu sehen: Die biblischen Autoren haben sich diesen Mythos nicht ausgedacht, sondern sie haben ihn aus dem Zweistromland übernommen. Dort hat man schon tausend Jahre früher ganz ähnliche Sintflut-Erzählungen erzählt, mit anderen Helden und anderen Göttern. Überhaupt sind solche Sintflutgeschichten, weil sie Mythen elementarer Gefährdung darstellen, weltweit verbreitet. Aber die biblische Geschichte hat ihre engsten Parallelen in Mesopotamien.
"Geprägt von Fluterfahrungen"
Main: Wir reden hier also über mehrere tausend Jahre alte Mythen. Ist davon auszugehen, dass der historische Kontext von Fluten geprägt war – oder anders gefragt: Gab es eine historische Sintflut und eine historische Arche zur Rettung?
Naumann: Also der historische Kontext ist sicher geprägt von Fluterfahrungen, von katastrophalen Wasser-Katastrophen. Aber die Sintflut, wie sie die Bibel erzählt, hat es historisch nie gegeben. Denn die setzt ja voraus, dass die ganze Erde überschwemmt ist - bis über die höchsten Berge. Aber Anlass zu solchen Katastrophenschilderungen geben eben Erfahrungen von Überschwemmungen, von Tsunamis oder – gerade im Schwemmland Mesopotamien: wenn die Flüsse über die Ufer treten und es furchtbare Gewitter gibt. Solche Katastrophen gibt es natürlich in der Vergangenheit, in geschichtlicher wie auch in vorgeschichtlicher Zeit, also in der Erdgeschichte gibt es natürlich solche Wasser-Katastrophen zuhauf, die Meeresspiegel steigen und so weiter.
"Gott ändert während der Sintflut seine Haltung"
Main: Sie haben eben ganz klar gesagt, dass es dieser Sintflutgeschichte um Rettung geht und nicht um Strafen. Dennoch ist die Bestrafung ja auch ein Element dieser Geschichte. Ein Gott, der eine Sintflut schickt, ein allmächtiger Gott, der zornig ist und straft, weil die Menschen sündig geworden sind – würden Sie ein solches Gottesbild verabschieden wollen? Oder sehen Sie etwas Bedenkenswertes auch an diesem Aspekt der Sintflutgeschichte?
Naumann: Ja, das ist natürlich in zwei Sätzen schwer zu sagen. Aber die Sintflut-Erzählung will auf eine naive, mythologisch-märchenhafte Weise etwas von Wert über Gott mitteilen. Denn Gott hat die Welt erschaffen, indem er sie dem chaotischen Wasser abgerungen hat als ein Lebenshaus für Tiere und Menschen, für alle.
Dann kommt es zur Gewalt. Die Menschen bringen einander um: Kain den Abel. Gott muss reagieren, wenn er gerecht sein will. Er trauert und bereut, dass er die Menschen erschaffen hat, und schickt diese Flut. Aber auch er geht mit Gewalt vor. Als aber alle ertrunken sind und die Arche allein auf den Wellen schaukelt, ändert Gott seinen Sinn. Wenn er nämlich immer auf die Bosheit im Menschen als Gerechter reagieren würde, würde er am Ende seine eigene Schöpfung zerstören. Deshalb ändert er während der Sintflut seine Haltung.
Man könnte sagen: Gott kehrt um und lernt, dass es sich lohnt, die Schöpfung auch dann zu erhalten, dauerhaft, obwohl die Menschen zum Bösen fähig sind und bleiben.
Wir haben hier eine dramatische Wende in Gott: Aus Zorn und Strafe, aus Gründen der Gerechtigkeit wird Mitleid und Erbarmen – ein Erbarmen, das der ganzen Erde und allem Leben gilt. Das ist gewissermaßen die Gnadentheologie, die die Sintflutgeschichte entwickelt.
Noah steht für "Tatkraft und Gottesbindung"
Main: Es geht also um Rettung. Mal zur Figur des Noah: Der macht ja mit. Also wenn ich diese Geschichte richtig verstehe, braucht Gott den Menschen. Er rettet, aber Noah muss sozusagen mitspielen. Welche Haltung darüber hinaus wird Noah zugeschrieben?
Naumann: Der biblische Noah organisiert das Leben der wenigen Menschen und der vielen Tiere. Er ist also ein Flutheld, ein Schiffsbauer, ein Tiereversteher, ein Organisator im Chaos und vieles mehr. Tatkraft und Gottesbindung – das wird von ihm erzählt. Aber er ist nicht ein Held. Denn später erfindet er den Weinbau und liegt nackt und betrunken in seiner Hütte. Alle lachen über ihn.
Interessant ist sein Name. In hebräischen bedeutet Noah ein Mensch, der jemanden dazu bringt, wieder aufzuatmen, getröstet zu sein, neue Hoffnung zu schöpfen. Ich stelle mir vor, dass Noah diese Fähigkeit besonderes brauchte, sonst wäre die Arche sicherlich auseinandergeflogen. Auch heute werden solche Noahs gebraucht.
"Die Taube drückt unsere Sehnsucht nach Frieden aus"
Main: Dann gehen die Fluten zurück, und die biblische Geschichte erzählt von jener Taube mit dem Olivenzweig. Das ist schon spannend, wie solche Bilder wie die Taube mit dem Olivenzweig sich ins kollektive Gedächtnis einprägen.
Naumann: Das wäre ohne Picassos geniale Zeichnung vielleicht nicht geschehen oder ohne das 20. Jahrhundert mit seinen furchtbaren Kriegen. Aber diese Taube drückt die Sehnsucht der Menschen nach Frieden aus. In der christlichen Bildtradition ist die Taube überdies auch ein Symbol für Gottes Gegenwart im Heiligen Geist. Schon die mittelalterlichen Darstellungen heben diese Taube Noahs hervor. Die Taube sagt ja nicht nur: ‚Die Flut ist vorbei, Ihr könnt wieder aufatmen!‘ Sie sagt auch: ‚Gott ist bei Dir, fürchte Dich nicht!‘
Regenbogen: "Eine Bestandsgarantie für die Welt"
Main: Ähnlich zentral oder womöglich zentraler als die Taube ist das Bild vom Regenbogen. Wofür steht das? Theologisch?
Naumann: Ja, in der Geschichte ist der Regenbogen das Zeichen Gottes, dass die Flut vorbei ist und nicht wiederkommt. Wenn es regnet und dann der Regenbogen erscheint, wissen die Menschen: Okay, es war nur ein Regen. Es ist nicht die Sintflut. Die wird es nicht mehr geben. Der Regenbogen ist das Zeichen dieses Bundes, den Gott mit der Erde geschlossen hat, nach der Sintflut. Eine Bestandsgarantie für die Welt.
Aus Schauder wird Urvertrauen
Main: In diesem Sinne wäre dann dieser Text ein Impuls, Vertrauen und Sicherheit zurückzugewinnen oder sich zu bewahren, trotz aller Unsicherheiten von Covid bis Hochwasser?
Naumann: Genau! Das ist der entscheidende Impuls der Geschichte. Es ist natürlich auch ein bisschen eine Schauergeschichte. Man leidet mit den Menschen mit, die ertrinken. Und auch mit den Überlebenden. Aber dieser Schauder über die Katastrophe soll münden in eine Art Urvertrauen in die Welt. Das kann eine Illusion sein. Wir wissen das nicht. Das ist nicht ausgemacht, dass die Welt das alles aushält, was wir ihr antun. Aber die Geschichte möchte dieses Urvertrauen sozusagen stärken.
"Dem Wasser mehr Raum geben"
Main: Wir wollten ja eigentlich keinen platten Bezug zur Katastrophe dieser Tage herstellen. Deswegen mehr auf der Metaebene: Wir alle müssen uns ja darauf einstellen, dass uns Naturgewalten immer wieder – und einige meinen stärker als je zuvor – beschäftigen und plagen werden. Wie könnten wir uns geistig wappnen?
Naumann: Auf der realpolitischen Ebene ist die Sache eigentlich klar: Hilfe für die Menschen in Not, den Katastrophenschutz an die zu erwartenden Natur-Katastrophen anpassen, dem Wasser mehr Raum geben, die Erderwärmung stoppen.
In gewisser Weise bearbeitet auch die alte Sintflutgeschichte eine aktuelle Erfahrung: dass menschliches Fehlverhalten katastrophale Auswirkungen haben kann auf das Gleichgewicht der Natur und die Stabilität der Welt. Und mit der Sintflutgeschichte kann man sich an die Hoffnung klammern, dass die Erde das aushält, weil Gott diese Weltordnung behütet. Das kann natürlich auch eine Illusion sein. Aber der christliche Glaube hält jedenfalls mit der Sintflut-Erzählung an der Hoffnung fest, dass Gott seiner Schöpfung treu bleibt und sie nicht preisgibt, weil er sie geschaffen hat.
Etwas flapsig formuliert: Wir könnten uns an der Sintflutgeschichte ein Beispiel nehmen, das Leben so umzugestalten, dass möglichst viele Tierarten überleben können wie einst in der Arche, oder unseren Ressourcenverbrauch so herunterzufahren, dass auch menschliche Gesellschaften der Zukunft, unsere Kinder und Kindeskinder eine reale Lebenschance bekommen. In der Bibel heißt es: solange die Erde besteht.
Die Sintflutgeschichte könnte uns ermutigen dazu, denn sie erzählt: Das Überleben ist schon einmal gelungen. Nur die Taube, die mit einem Olivenzweig davon kündet, dass die Welt wenigstens das Zwei-Grad-Ziel erreicht, ist an meinem Fenster noch nicht vorbeigeflogen.
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