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Die Sorge vor der Flut

Der Klimawandel lässt die Gletscher abschmelzen. Große Seen bilden sich; so beispielsweise am Grindelwaldgletscher in den Alpen. Wenn der neue See weiter anschwillt, könnte er die Orte Grindelwald und Interlaken in wenigen Stunden unter Hochwasser setzen.

Von Pascal Lechler |
    Dreimal pro Woche begutachtet Geologe Hans Rudolf Keusen den Grindelwalder Gletschersee aus der Luft. So voll und so groß wie jetzt war er noch nie. Seine Oberfläche entspricht 18 Fußballfeldern. Der Gletschersee ist eine Folge des Klimawandels. Die Zunge des Grindelwaldgletschers liegt nur auf 1400 Meter Höhe. Sie verliert jeden Sommer massiv an Dicke und an Länge, erklärt Keusen.

    "Wir bekommen an den verschiedenen Orten in den Alpen Probleme mit Geltscherseen; auch im Himalaya, Südamerika. Überall, wo Geltscherschwund ist in Folge der Klimaerwärmung, gibt es solche Gletscherseen, die nachher Probleme machen können. Aber das ist hier jetzt besonders spektakulär hier in Grindelwald."

    Geröll ist auf den vorderen Teil der Gletscherzunge gefallen. Hier ist quasi ein Damm entstanden. Waren es 2007 nur 400.000 Kubikmeter Wasser, die sich hier stauten, sind es inzwischen schon 2,6 Millionen Kubikmeter. Die Hitze der letzten Tage hat die Schneeschmelze noch beschleunigt. Der See ist randvoll. Die Gefahr für das darunter liegende Lütschinental und Interlaken war noch nie so groß, sagt Nils Hählen vom Tiefbauamt des Kantons Bern.

    "Es ist so, dass der See auf zwei Arten eigentlich ausbrechen kann: unterirdisch, eine spontane Variante, wo sich Hochwasser im Lütschinental ergeben kann. Dort bricht das gesamte Volumen innerhalb von wenigen Stunden aus. Und dann eine gemächliche Variante, wo dann auch das ganze Becken entleert wird, aber über mehrere Tage."

    Den Damm abzutragen und damit den See zu entleeren, geht nicht. Bagger müssten zerlegt und per Helikopter ins alpine Gebiet gebracht werden. Zudem wären die Arbeiter ständigen Lawinenabgängen und Steinschlägen ausgesetzt. Einzige Lösung sei der Bau eines unterirdischen Stollens, erklärt Nils Hählen.

    "Man muss sich den See als eine Badewanne vorstellen, die keinen Abfluss hat. Und mit diesem Stollen wird - möglichst an tiefster Stelle - dieser Badewanne ein Abfluss geschaffen, sodass der See nicht mehr hoch ansteigen kann."

    Der Stollen wird aber erst im Herbst fertig. Bis dahin überwacht Geologe Keusen mit automatischen Kameras, Sonden im See und Messstellen auf dem Gletscher alle Veränderungen. Ob es zur Spontanentleerung kommt, könne keiner vorhersagen, meint Fachmann Keusen.

    "Ich habe letztes Jahr mal den Ausdruck gebraucht: Der See ist launisch. Er verhält sich launisch, völlig unberechenbar. Also, folglich muss ich mit Messungen, Beobachtungen versuchen, die Sache im Griff zu halten."

    Seit 2006 brach der Gletschersee bereits sechsmal aus, dreimal spontan und dreimal gemächlich. Insbesondere Grindelwalds Gemeindepräsident Emanuel Schläppi hofft, dass er sich auch diesmal wieder langsam entleert. Den Notfallplan hat Schläppi dennoch in der Schublade.

    "Das ist eine Betroffenheit, was da für ein Naturschauspiel sich abspielt. Auf der anderen Seite leben wir damit – und haben nicht immer Angst, konstante Angst. Aber wir wollen vorbereitet sein. Wir wollen gut informieren. Wir sind überzeugt, dass das Alarmierungssystem funktioniert. Deswegen schlafen wir gut und wir leben damit hier."

    Für die nächsten Tage ist kühleres Wetter vorhergesagt. Das sollte zumindest die Schneeschmelze verlangsamen und dafür sorgen, dass nicht mehr viel neues Wasser in den Gletschersee fließt.