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Die SPD feiert sich

Mit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins am 23. Mai 1863 beginnt die Geschichte der SPD. Bis heute sind Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität jene Grundwerte auf die sich Sozialdemokraten berufen. Seit 150 Jahren sind sie die roten Fäden, die sich durch ihr Programm ziehen.

Von Frank Capellan | 22.05.2013
    "Wir sind die Partei, die nie an den Katastrophen und den Fehlentwicklungen dieser deutschen Geschichte mit Verantwortung trägt. Wir sind die einzige Partei in Deutschland, die seit 150 Jahren sich nie umbenennen musste!"

    "Die SPD ist die Partei in Deutschland schlechthin, die Freiheit und Gerechtigkeit miteinander verbindet. Die Kommunisten haben eine gerechte Gesellschaft versucht, und die Freiheit geopfert. Die Liberalen, denen ist die Freiheit so wichtig, dass sie sagen, Gerechtigkeit ist vergleichsweise weniger wichtig. Die SPD ist die Partei, die für den untrennbaren Zusammenhang von Freiheit und Gerechtigkeit steht."

    "Freiheit, dass jeder Mensch die Chance haben soll, aus seinem Leben etwas zu machen, dass man dafür Bedingungen schaffen muss, weil das nicht von allein geschieht!"

    "Ohne die SPD hätte es das aktive und passive Wahlrecht für Frauen nicht gegeben!"

    Peer Steinbrück, Wolfgang Thierse, Sigmar Gabriel, Egon Bahr – Sozialdemokraten mit einer ganz eigenen Vita, die eines verbindet: Jene Grundwerte, auf die sich die Partei bis heute beruft: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Seit 150 Jahren sind sie die roten Fäden, die sich durch ihr Programm ziehen. Es ist der 23. Mai 1863: Ferdinand Lassalle, Arbeiterführer aus bürgerlichen Kreisen, Schriftsteller aus gutem Hause, der die Welt verändern möchte, hat in den festlich geschmückten Saal des Pantheon geladen, einer Gaststätte im Herzen Leipzigs. Es ist der Gründungstag des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins. Morgen werden sie bei einem Festakt im Leipziger Gewandhaus daran erinnern, wie sich vor 150 Jahren einige Hundert Menschen versammeln, die es nicht länger hinnehmen möchten, dass die Arbeiter in den Fabriken gnadenlos ausgebeutet werden. In Bildungsvereinen hatten sich viele schon zuvor zusammengeschlossen, politisch standen sie den Liberalen nah, betont Erhard Eppler; der inzwischen 86-jährige Vordenker seiner Partei:

    "Und dann kam ein gewisser Ferdinand Lassalle, und der hat denen gesagt: Leute, wenn der Markt das letzte Wort hat, dann wird es immer mehr Reiche und immer mehr Arme geben. Und deshalb muss der Staat auch eingreifen, das ist eigentlich heute noch der Grundgedanke der Sozialdemokratie!"

    Fortan singen sie im Gedenken an Lassalle die Arbeitermarseillaise, die zum bekanntesten Arbeiterlied des 19. Jahrhunderts wird.

    "Das freie Wahlrecht ist das Zeichen in dem wir siegen, nun wohlan!" heißt es da: "Nicht predigen wir Hass den Reichen nur gleiches Recht für jedermann!"

    Anfangs ist die Arbeiterbewegung zersplittert. August Bebel und Wilhelm Liebknecht gründen die Sozialdemokratische Arbeiterpartei. In deren Eisenacher Programm steht die Forderung nach allgemeinen, gleichen und direkten Wahlen ganz oben. 1875 fusionieren beide Parteien - die Arbeiterbewegung wird zur Gefahr für die Regierenden. Zwei Attentatsversuche auf Kaiser Wilhelm I. nimmt Reichskanzler Otto von Bismarck als Vorwand für ein Parteiverbot. Von 1878 bis 1890 bleibt Sozialdemokraten nur die Arbeit im Verborgenen, getarnt als Lese-, Gesangs- oder Sportvereine. Damit wird eine sozialdemokratische Tradition gestärkt, auf die Peer Steinbrück bis heute gern verweist:

    "Wir sind immer auch Bildungsbewegung gewesen, Bildungsvereine, wir waren übrigens früher auch mal eine Art Sportbewegung, also es ging auch über Politik hinaus. Es war auch ein Gemeinschaftsgefühl."

    Mit seiner Sozialgesetzgebung versucht Bismarck, Ruhe in die Arbeiterschaft zu bekommen. Doch die Unzufriedenheit bleibt. Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt erklärt das am Beispiel der Invaliden-Rentengesetzgebung Bismarcks.

    "Eine Rentengesetzgebung, wo man seine erste Rente mit 70 Lebensjahren bekam. Das heißt: Da war die Masse der Arbeiter längst gestorben!"

    1890 endet das Verbot und die Genossen geben sich den Namen, den sie bis heute tragen: Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Sozialistengesetze und Sozialgesetzgebung haben sie gestärkt, doch der drohende Erste Weltkrieg wird 1914 zur Belastung und führt zur ersten Spaltung.

    "Auf zu den Waffen. Jedes Zögern, wäre Verrat am Vaterlande!"

    Die Sozialdemokraten folgen dem Ruf des Kaisers, die Reichstagsfraktion stimmt mehrheitlich den Kriegskrediten zu. Doch die SPD ist zerrissen: Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht widersetzen sich. Vier Jahre später gründen sie die KPD, schon vorher versammeln sich enttäuschte Anhänger im Spartakusbund und bei den Unabhängigen Sozialdemokraten, der USPD. "Wer hat uns verraten? – Sozialdemokraten!" skandieren die Kommunisten, seit 1919 mit Friedrich Ebert ein Sozialdemokrat Verantwortung übernommen hat:

    "Ihr Vertrauen wird mir die Kraft geben für den neuen Lebensgrundsatz des deutschen Volkes. Für Freiheit, Recht und soziale Wohltaten!"

    Die Spaltung der Arbeiterbewegung gehört zu den schwierigen Kapiteln der Partei. Für Männer wie Hans Schwert war die SPD schon damals viel zu angepasst. Der 105-Jährige lebt heute in einem Altersheim in Frankfurt. Während der Weltwirtschaftskrise, so erzählt er mit klarem Kopf, habe er erkannt, wo für ihn, den Maurer und überzeugten Gewerkschafter, die politische Heimat ist.

    "Die Einzigen, die wirklich was gesagt haben, was einem zugegangen ist, das waren die Kommunisten. Und so bin ich zu den Kommunisten gekommen, und das habe ich nie bereut, wenn ich auch heute sage: Der Weg war nicht ganz richtig, wie er gegangen wurde, aber die Idee, die war richtig, und deswegen bin ich auch heute noch ein Anhänger von Marx. Die SPD war wie lauwarm Wasser. Die haben viel geredet, aber nichts gemacht!"

    Die SPD hat die Revolution an das Bürgertum verkauft. So denken damals viele Linke. Noch 1932 betont Clara Zetkin, einst Sozialdemokratin, dann prominente Frauenrechtlerin in der KPD, in einer Reichstagsrede:

    "Der Weg zur Überwindung aller imperialistischen Kriegsgefahren ist einzig und allein die proletarische Revolution!"

    Dass Frauen wie Clara Zetkin überhaupt dem Parlament angehören können, ist allerdings der Sozialdemokratie zu verdanken. Schon auf dem Erfurter Parteitag fordert Zetkin 1891 das aktive und passive Wahlrecht für Frauen. Mit Marie Juchacz redet im Februar 1919 erstmals eine Abgeordnete vor einer deutschen Volksvertretung.

    "Meine Herren und Damen. Wenn ich als Frau zu Ihnen spreche, so hoffe ich doch, dass sehr viele Männer auf meine Worte achten werden. Es gibt viel mehr Frauen im wahlfähigen Alter als Männer. Die Tatsache des Frauenwahlrechtes sollte jedem Freund der Sozialdemokratie zwingen, um die Frauenstimmen zu werben!"

    Heute noch betont das inzwischen 91-jährige SPD-Urgestein Egon Bahr: Wenn ich an die lange Geschichte meiner Partei denke, kommt mir zu allererst das Frauenwahlrecht in den Sinn.

    "Die Frauen haben es uns bisher mit den Wahlergebnissen nicht honoriert. Aber das ist völlig egal, das bleibt in meinen Augen das größte Verdienst!"

    Andere verbinden den eigentlichen Markstein ihrer Geschichte mit dem 23.März 1933; jenem Tag, an dem sich allein die Sozialdemokraten – die KPD ist bereits verboten – Hitlers Ermächtigungsgesetz widersetzen und SPD-Chef Otto Wels den berührenden Satz spricht:

    "Freiheit und Leben kann man uns nehmen. Die Ehre nicht!"

    "Durch ihr Nein zum Ermächtigungsgesetz retteten sie nicht nur die eigene Ehre, sondern auch die Ehre der ersten deutschen Republik!"

    Urteilt der Historiker Heinrich-August Winkler heute rückblickend über die Rolle der Sozialdemokraten zum Ende der Weimarer Republik. Kommunisten wie Sozialdemokraten leiden schließlich unter der Verfolgung der Nationalsozialisten. Das Lied der Moorsoldaten aus dem Konzentrationslager Börgermoor steht für dieses gemeinsame Martyrium.

    Nach dem Krieg keimt kurz die Hoffnung auf, die Spaltung der Arbeiterbewegung könnte überwunden werden. Doch die Teilung Deutschlands und Europas bewirkt das Gegenteil. Die KPD gerät in völlige Abhängigkeit der Sowjetunion, in deren Einflussbereich geht die Verfolgung der Sozialdemokraten weiter, seit KPD und SPD am 22. April 1946 zwangsvereinigt werden.

    "Mit dem heutigen Tage gibt es keine Sozialdemokraten und keine Kommunisten mehr. Mit dem heutigen Tag gibt es nur noch Sozialisten!"

    So der spätere DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht. KPD-Gründungsmitglied Wilhelm Pieck und der ehemalige SPD- und USPD-Anhänger Otto Grotewohl besiegeln mit ihrem historischen Handschlag die Geburt der SED.

    "30 Jahre Bruderkampf finden in diesem Augenblick ihr Ende."

    Die Wahrheit aber ist, dass die Sozialdemokraten im Osten kaltgestellt sind und wieder der Unterdrückung einer Diktatur unterliegen. Im Westen der Republik landen sie erst einmal in der Opposition und fahren dort zunächst einen sozialistischen Kurs. Die Arbeitnehmerschaft muss den Wiederaufbau Deutschlands mitgestalten, lautet die zentrale Botschaft des Parteivorsitzenden Kurt Schumacher:

    "Wirtschaftliche Mitbestimmung, das ist ein Komplex, der für den sozialen Fortschritt nicht weniger wichtig ist wie das gleiche, geheime und freie Wahlrecht in den Tagen Ferdinand Lassalles."

    Den Wandel von der Klassen- zur Volkspartei wird der von den jahrelangen Qualen im KZ gezeichnete Schumacher nicht mehr erleben. 1959 wirft die Partei mit dem Godesberger Programm ideologischen Ballast über Bord und rüstet sich für die Regierungsfähigkeit.

    Auszug aus der Wochenschau von 1959:

    Wehner: "Der Glaube an den Sozialismus als eine Art von Ersatzreligion ist unserem heutigen Denken fremd" Kommentator unter Musik: In dieser Erkenntnis entwirft die Partei ihr Godesberger Programm. Ohne dass die Partei von dem Ziel abgewichen ist, das Lassalle einst gesetzt hat: Soziale Gerechtigkeit durch Demokratisierung des Staates!"

    Geprägt sind jene Jahre vor allem aber von der deutschen Teilung. Nach dem Mauerbau von 1961 prägt Egon Bahr das Wort vom "Wandel durch Annäherung", er wird zum Architekten der Ost- und Entspannungspolitik:

    "Wenn uns niemand half, dieses Ding wegzukriegen, mussten wir doch wenigstens in der aufgeheizten Stimmung der Menschen auf beiden Seiten der Stadt versuchen, die Mauer ein bisschen durchlässig zu machen!"

    Der charismatische Willy Brandt begeistert für Politik. Als er nach der Bundestagswahl 1972 erneut zum Kanzler gewählt wird, waren zuvor sage und schreibe 91 Prozent der Wahlberechtigten zu den Urnen gegangen.

    "Wir suchen keine Bewunderer. Wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mit entscheiden und mit beantworten. Wir wollen mehr Demokratie wagen!"

    Er, der im Exil den Terror der Nazis überlebte, kniet am Mahnmal für die Opfer des Warschauer Gettos, stellvertretend für das deutsche Volk. In jenen Tagen, davon sind nicht nur Sozialdemokraten überzeugt, wird der Grundstein für die Wiedervereinigung gelegt.

    ""Es gab Anhaltspunkte, dass mein Privatleben in Spekulationen über den Spionagefall gezerrt werden sollte. Es ist und bleibt grotesk, einen deutschen Bundeskanzler für erpressbar zu halten, ich bin es jedenfalls nicht!"

    Ausgerechnet ein Agent aus dem Osten, aber auch Intrigen aus den eigenen Reihen bringen Willy Brandt zu Fall. Nachfolger Helmut Schmidt wird später darüber stolpern, dass er die Aufrüstung der NATO befürwortet – seine Partei verweigert ihm die Gefolgschaft. Die ersten Regierungsjahre Schmidts aber werden vom RAF-Terror und der Ölkrise bestimmt.

    "Es war eine Rezession der gesamten Weltwirtschaft, ausgelöst durch eine mutwillige Erhöhung der Ölpreise durch Saudi-Arabien. Sie wollten den Westen nötigen, in den Krieg zwischen Israel und den Arabern einzugreifen. Das ist ihnen nicht gelungen, wohl aber ist es ihnen gelungen, die ganze Weltwirtschaft durcheinanderzubringen."

    Die Entspannungspolitik setzt Schmidt konsequent fort.

    1989, Mauerfall. Christdemokrat Helmut Kohl erarbeitet sich schnell den Titel des Kanzlers der Einheit, doch es sind auch und gerade Sozialdemokraten, die den Erfolg ihrer Entspannungspolitik nun feiern dürfen.

    "Die Neue Mitte hat sich entschieden. Sie ist von der SPD zurückgewonnen worden."

    Nach 16 Jahren Opposition wird mit Gerhard Schröder 1998 wieder ein Sozialdemokrat Kanzler. Atomausstieg, doppelte Staatsbürgerschaft, erste Kriegseinsätze der Bundeswehr – all das bringt neue Herausforderungen. Die Reform des Sozialstaates aber wird die Volkspartei SPD 2003 - im 140. Jahr ihres Bestehens - in eine Existenzkrise führen.

    "Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fordern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen."

    Die Agenda 2010 rüttelt an den Grundfesten der Partei. Plötzlich ist die SPD für viele nicht mehr Anwältin der kleinen Leute und Kämpferin für soziale Gerechtigkeit. Bitter enttäuschte Anhänger, darunter viele Gewerkschafter, wenden sich ab, gründen unter Führung des ehemaligen Vorsitzenden Oskar Lafontaine eine neue Partei, die schließlich den Weg zu einer gesamtdeutschen Linken ebnet. Die Große Koalition schwächt die SPD weiter, am Ende steht 2009 ein historisches Wahldebakel von 23 Prozent.

    Im Jubiläumsjahr haken sich die Genossen wieder unter, suchen den Schulterschluss mit den Gewerkschaften. Gerade erst ist IG Bau-Chef Klaus Wiesehügel – erbitterter Gegner von Hartz-Reform und Rente mit 67 – zum möglichen Arbeitsminister auserkoren worden. Es scheint, als besinne sich die Partei wieder auf ihre Wurzeln: Soziale Gerechtigkeit, Umverteilung zwischen Reich und Arm, gleiche Bildungschancen für alle – mit diesen Themen will Parteichef Sigmar Gabriel die Schmach von 2009 vergessen machen.

    "Ich glaube, dass diese Idee von Sozialdemokratie, dass Freiheit und Verantwortung, die Chance, aus dem Leben was zu machen, aber auch Solidarität mit anderen, dass die es wert war, sich dafür zu engagieren, dass diese Tradition der SPD nicht mit einem solchen schlechten Wahlergebnis sozusagen beendet wird, sondern dass man sich darum kümmert und sich bemüht, die SPD zu modernisieren, zu reformieren, neuen Aufbruch zu wagen, und ich bin natürlich froh, dass uns das in so kurzer Zeit doch ziemlich gut gelungen ist."

    Geschlossen wie selten stehen die Sozialdemokraten zusammen, dafür hat Sigmar Gabriel zweifelsohne sorgen können. Dass allerdings ist wohl auch der Tatsache geschuldet, dass die Genossen ausgerechnet im Jubiläumsjahr erheblich unter Druck geraten sind. Peer Steinbrück will als vierter Sozialdemokrat nach dem Krieg Kanzler werden. Noch aber scheinen die Wähler - ungeachtet aller Verdienste ausgerechnet im 150. Jahr der langen SPD-Geschichte - nicht so recht zu verstehen, warum sie der ältesten Partei Deutschlands wieder ihr Vertrauen schenken sollten.