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Die "Spiegel"-Bestsellerliste Sachbuch

Diesmal mit Büchern von Pädagogen, Pathologen und Politikern, Fitnesstrainern fürs Gehirn, Weltreisenden und Welterklärern sowie einem kleinen Exkurs über erstaunliche Parallelen zwischen einem deutschen Comedian und Peter Handke.

Von Denis Scheck | 05.04.2013
    Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk: Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?

    Entgegen allen anderslautenden Gerüchten und trotz aller Zumutungen zwischen zwei Buchdeckeln bemüht sich dieses Gehirn auch nach über zehn Jahren um Fairness – doch, doch. Gefährlich nur, das Streben nach Gerechtigkeit mit einer Beißhemmung zu verwechseln.

    Die aktuelle "Spiegel"-Bestseller-Liste Sachbuch: Diesmal mit Büchern von Pädagogen, Pathologen und Politikern, Fitnesstrainern fürs Gehirn, Weltreisenden und Welterklärern sowie einem kleinen Exkurs über erstaunliche Parallelen zwischen einem deutschen Comedian und Peter Handke. In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Sachbücher der Deutschen federleichte 2843 Gramm auf die Waage: zusammen 3092 Seiten.
    Platz 10) Egon Bahr: "Das musst du erzählen" (Propyläen, 238 S., 19.99 €)
    Der über 90-jährige Egon Bahr erzählt so frisch von der Leber weg von Willy Brandt als Mann an der Spitze des Staates, der nicht befehlen kann, demontiert Herbert Wehner in so wunderbar klarer Sprache und vermittelt so anschaulich die Hintergründe der von ihm geprägten Devise des "Wandels durch Annäherung", dass man diesem Erinnerungsbuch sogar seine berlinbesoffene Perspektive auf Deutschland verzeiht.

    Platz 9) Rolf Dobelli: "Die Kunst des klugen Handelns" (Hanser, 235 S., 14.90 €)
    Allein schon die aus der Experimentalpsychologie entlehnte Begrifflichkeit dieses Buchs hat ihren Reiz: "Ambiguitätsintoleranz", "Handlungsaufschub", "Plappertendenz". Aus Dobellis Grundkurs im Gehirnjogging lässt sich erfahren, was Jürgen Habermas mit der Miss Teen South Carolina gemein hat und wie man Stolperfallen des Denkens meidet.

    Platz 8) Gerald Hüther und Uli Hauser: "Jedes Kind ist hochbegabt" (Knaus, 188 S., 19,99 €)
    Zur Melodie von Lasst-die-Kinder-an-die-Macht entpuppt sich dieser pädagogische Ratgeber als dreister Leitfaden zur Erzeugung unerzogener Rotzlöffel: "Die Kinder haben es satt, ständig korrigiert und kritisiert zu werden … Sie sind kompetent". Genau. Und dieses Sachbuch ist gewiss der Auftakt zu einer ganzen Buchreihe mit absurden Heilsversprechungen, deren weitere Titel nur lauten können: "Jeder ist schlank", "Jeder hat volles Haar" und "Jedem Deppen kann man einen Bären aufbinden."

    Platz 7) Michael Tsokos: "Die Klaviatur des Todes" (Droemer, 331 S., 19.99 €)
    Am Beispiel realer Kriminalfälle will der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Berliner Charité Einblick in sein Arbeitsgebiet geben. Leider verfällt Michael Tsokos dabei auf die unglückliche Idee, die Ermittlungen im Stil der "Aktenzeichen-XY"-Einspielfilmchen literarisch nachzuerzählen, wobei er gezwungen ist, ständig Dialoge zu protokollieren, die er unmöglich mitgehört haben kann, und erschüttert so mein Vertrauen in die deutsche Rechtsmedizin, "eines der nicht gerade zahlreichen Gebiete", so der Autor, "auf denen Deutschland weltweit führend ist". Mit Büchern wie diesem wird das nicht mehr lange so bleiben.

    Platz 6) Rolf Dobelli: "Die Kunst des klaren Denkens" (Hanser. 246 S., 14.90 €)
    Gehirnjogging Teil zwei: Aus diesem erkenntnisträchtigen Büchlein lässt sich erfahren, wie wir durch eingefahrene Denkmuster hinters Licht geführt werden und was wir dagegen tun können.

    Platz 5) Meike Winnemuth: "Das große Los" (Knaus, 329 S., 19,99 €)
    Als die Journalistin Meike Winnemuth eine halbe Million Euro in einer Quizshow gewinnt, beschließt sie, mit dem Geld zwölf Städte in zwölf Monaten zu bereisen. In diesem locker geschriebenen, aber dennoch einsichtsreichen Buch erzählt sie davon. Winnemuths vielleicht überraschendste Erkenntnis: "Ich hätte das Geld von 'Wer wird Millionär?' gar nicht gebraucht." Ein schönes Buch, das Mut und Lust aufs Leben macht.

    Platz 4) Florian Illies: "1913" (S. Fischer, 319 S., 19.99 €)
    Florian Illies taucht die Epoche vor dem Ersten Weltkrieg ins Stroboskoplicht seiner Anekdoten: Der Habsburgische Thronerbe Franz Ferdinand organisiert für Kaiser Wilhelm II. eine Fasanenjagd, auf der dieser 1200 Vögel abknallt, Katia Pringsheim leidet in den Kältekammern ihrer Ehe mit Thomas Mann, Franz Kafka arbeitet beim Gemüsebauern. Tiefe Erkenntnisse wird man aus dieser historischen Nummernrevue nicht ziehen, unterhaltsam ist sie aber allemal.

    Platz 3) Frank Schirrmacher: "Ego" (Blessing, 352 S., 19,99 €)
    Sachbuchautor Schirrmacher hat eine Spezialität: erst erfindet er einen Drachen, den außer ihm niemand sehen kann, dann lässt er sich, nach erfolgter Bannung des von keinem Menschen Aug geschauten Monsters, als Sankt Georg feiern. Schirrmachers aktueller Drache heißt "Nummer 2", unser aller dunkler Zwilling, der fies eigennützige homo oeconomicus. "Der Mensch wird User, der User wird Konsument und der Konsument wird Nummer 2: auf der Suche nach den besten Preisen, Kontakten, kurz: den besten Informationen in der neu entstandenen angeblichen ‚Informationsökonomie’",
    so Frank Schirrmacher. Mag sein. Allerdings würde ich diesen Wandel in etwa in die Zeit des Auftauchens der Phönizier datieren. So werden wir in diesem wirren, aber lustigen Buch Zeuge, wie Frank Schirrmacher einen Papiertiger konstruiert und souverän zur Strecke bringt. Halali!

    Platz 2) Michail Gorbatschow: "Alles zu seiner Zeit" (Deutsch von Birgit Veit, Hoffmann und Campe, 547 S., 24.99 €)
    Nicht die ersten Memoiren von Michael Gorbatschow, aber die anrührendsten, denn er hat für sie die Form einer posthumen Liebeserklärung an seine verstorbene Frau gewählt: "Für mich war Raissa die Frau, die ich liebte. Wir waren Freunde." Wer mit dem erstaunlich uneitlen Ermöglicher der demokratischen Revolution in Mittel- und Osteuropa seine entscheidenden Lebensstationen aufsucht, wird viele Einsichten in den politischen Prozess in der Endphase der Sowjetunion nehmen und Dankbarkeit für den Mut und die Lebensleistung dieses Mannes empfinden.

    Platz 1) Dieter Nuhr: "Das Geheimnis des perfekten Tages" (Lübbe, 307 S., 14,99 €)
    Das Minutenprotokoll eines arbeitsfreien Tages, in dem Dieter Nuhr festhält, was ihm so alles durch die Birne rauscht: Todesangst, Geschlechtslust, Gedanken über Paketdienste oder warum Spechte beim Hämmern keine Kopfschmerzen bekommen. Meine Verdrossenheit über diese Ansammlung bisweilen doch recht flauer Witze wich bald dem Verdacht, es könnte sich bei diesem Unternehmen um den Versuch handeln, Literatur zu produzieren. Sagen wir so: Mit diesem buchlangen Stream-of-Consciouscness ist Dieter Nuhr zum Peter Handke der deutschen Comedians geworden.