Dieses Gehirn weiß nicht, worüber es mehr staunen soll: Welche kruden Thesen man in ein deutsches Sachbuch packen kann? Oder wie man es als Verfasser von Werken wie "Blender" oder "Scheißkerle" zum Berater von Kanzlerkandidaten bringt. Hat sich der Unterleibsexhibitionismus von Charlotte Roche jetzt auch in Politikerhirnen festgesetzt?
Die aktuelle Spiegel-Bestseller-Liste Sachbuch:
Diesmal mit Büchern von Bluffern und Apokalyptikern, frommen Katholiken und komischen Heiligen, Wall-Street-Bankern, die das Geld, und Psychiatern, die den Computer verteufeln, dem Comeback eines Hunds und eines Elefanten, die aus der Unterhaltungsbranche der 70er-Jahre nicht wegzudenken waren, sowie einer Exklusivmeldung aus dem März Jahr 1913: Rilke hat Schnupfen!
In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Sachbücher der Deutschen 2466 Gramm auf die Waage: zusammen 3041 Seiten.
10. Greg Smith: "Die Unersättlichen"
Deutsch von Petra Pyka, Christoph Bausum und Thorsten Schmidt, 368 Seiten, 19,95 Euro
Zwölf Jahre hat der Südafrikaner Greg Smith für Goldman Sachs an der Wall Street gearbeitet und gelangt nun zu dem überraschenden Befund: Denen geht's doch nur um unser Geld. Greg Smith mit seinem unfreiwillig komischen Insider-Enthüllungsbuch allerdings auch. Wer Tugend und hohe moralische Standards bei Investmentbankern erwartet, geht im Bordell auf die Suche nach Unschuld.
9. Philippe Pozzo di Borgo: "Ziemlich beste Freunde"
Deutsch von Dorit Gesa Engelhardt, Marlies Russ und Bettina Bach, Hanser Berlin, 220 Seiten, 14,90 Euro
Ein bewegendes, ein kitschfreies Buch von einem sehr privilegierten, sehr bedauernswerten Mann über das, was im Leben wirklich wichtig ist: Liebe, Freundschaft, Mut und Zuversicht im Bewusstsein von Krankheit und Tod.
8. Manfred Spitzer: "Digitale Demenz"
Droemer, 368 Seiten, 19,99 Euro
Manfred Spitzer, der Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm, ist mit diesem Sachbuch über die vermeintlich desaströsen Nebenwirkungen der Computerisierung unserer Lebenswelt ein Paradebeispiel dafür, wie die Überspitzung einer an sich bedenkenswerten These auch kluge Menschen in dämliche Vereinfachung treibt. Sicher ist es eine gute Idee, Computer- und Internetnutzung insbesondere von Kindern einzuschränken. Aber die pauschale Verteufelung von Computer und Internet, wie sie Spitzer hier betreibt, erinnert doch fatal an jene Warnungen von Medizinern im 19. Jahrhundert, die Eisenbahnfahrten mit Geschwindigkeiten von über 30 Stundenkilometern als für das menschliche Hirn unaushaltbar ablehnten.
7. Helmut Schmidt und Giovanni di Lorenzo: "Verstehen Sie das, Herr Schmidt?"
Kiepenheuer & Witsch, 272 Seiten, 16,99 Euro
Was Wum und Wendelin für die 70er-Jahre waren, sind Altkanzler Schmidt und "Zeit"-Chefredakteur di Lozenzo für das Deutschland der Gegenwart: launige Kommentatoren des Weltgeschehens, nicht immer ganz nachvollziehbar, aber sehr, sehr knuffig.
6. Peter Scholl-Latour: "Die Welt aus den Fugen"
Propyläen, 400 Seiten, 24,99 Euro
Achtung, dies ist keine der großen Reisereportagen des brillanten Welterklärers Peter Scholl-Latour, sondern lediglich eine chronologisch angeordnete Abfolge von Interviews, Kommentaren und Texten zu Fernsehdokumentationen. Der Preis für diese Zweitverwertung eigener Schriften ist Redundanz und mangelnde Stringenz. Aber selbst noch in seinen Gelegenheitsarbeiten bietet der 88-jährige Peter Scholl-Latour profunde historische Einsichten, breites Faktenwissen und stichhaltige politische Analysen.
5. Rolf Dobelli: "Die Kunst des klugen Handelns"
Hanser, 248 Seiten, 14,90 Euro
In dieser unterhaltsamen Fortsetzung seines ersten Bestsellers legt der Schweizer Rolf Dobelli wieder die Wurzeln unseres vermeintlich rationalen Handelns im Irrationalen frei. 52 Kurzkapitel enttarnen jeweils eine kuriose Abseitsfalle unseres Denkens – von der "Angst vor Reue" bis zur "Neomanie", die dafür sorgt, dass wir Gutes gegen Neues tauschen.
4. Florian Illies: "1913: Der Sommer des Jahrhunderts"
S. Fischer, 320 S., 19,99 Euro
Das Ende des langen 19. Jahrhunderts erzählt Florian Illies in einer Kette von Anekdoten über ein Figurenensemble, das von Charlie Chaplin über Franz Kafka bis Adolf Hitler reicht und dessen Handeln im Jahr 1913 ein wunderbares Stroboskoplicht auf die kulturelle Pracht der Epoche und das Grauen der Zukunft wirft. Mein Lieblingseintrag verzeichnet im März 1913 auf Seite 85:
"Rainer Maria Rilke hat Schnupfen."
Florian Illies hat kein historisches Meisterwerk geschrieben, dafür sind diese Tweets eines Jahres wahrlich zu unterkomplex, aber ein kurzweiliges Buch.
3. Rolf Dobelli: "Die Kunst das klaren Denkens"
Hanser, 256 Seiten, 14,90 Euro
Rolf Dobelli veranstaltet in dieser ersten Sammlung seiner Zeitungskolumnen ein amüsantes und erkenntnisträchtiges Gehirnjogging für Fortgeschrittene.
2. Heinz Buschkowsky: "Neukölln ist überall"
Ullstein, 400 S. 19.99 Euro
Zum Stichwort bildungsferne Parallelgesellschaft fällt mir seit vielen Jahren als Erstes immer Deutscher Bundestag ein. Ich tat mich zunächst schwer mit diesem Buch des Berliner Bezirksbürgermeisters Buschkowsky, was auch am Titel lag, den ich mit Verlaub nach wie vor für schlicht schwachsinnig halte: der Berliner Stadtteil Neukölln ist in Deutschland genauso wenig "überall" wie X das neue U oder Schwarzweiß das neue Bunt ist. Dennoch: Dies ist ein differenziert argumentierendes, faktenreiches und mit vielen Beispielen zum Selberdenken einladendes Buch zur Integrationsdebatte, dessen Höhepunkt auf Seite 138 bis 153 die Schilderung eines Besuchs Buschkowskys bei Thilo Sarrazin und seinem Kater ist. Sicher: Buschkowskys Thesen etwa über Hartz IV als Lebensstil sind ein Aufreger. Und gewiss werden sich auch manche Menschen über mein Lob für dieses Buch von Heinz Buschkowsky aufregen. Hier gilt: erst lesen, dann maulen.
1. Manfred Lütz: "Bluff! Die Fälschung der Welt"
Droemer, 189 Seiten, 16,99 Euro
Wer den Tod verdrängt, verpasst sein Leben, sagt der Psychiater Manfred Lütz und listet in flottem Trab durch die modernen Erfahrungsräume und Wissenswelten auf, wie etwa Castingshows und Esoterikschwurbler, Gesundheitsapostel, Körperkultler und Finanzjongleure durch immer raffinierte Täuschungsagenturen und Verdrängungssysteme an der Fälschung unserer Welt arbeiten. Als Alternative empfiehlt der gläubige Christ Lütz die katholische Kirche. Was soll ich als agnostischer Leser dazu sagen außer "Ja" und "Amen"?
Die aktuelle Spiegel-Bestseller-Liste Sachbuch:
Diesmal mit Büchern von Bluffern und Apokalyptikern, frommen Katholiken und komischen Heiligen, Wall-Street-Bankern, die das Geld, und Psychiatern, die den Computer verteufeln, dem Comeback eines Hunds und eines Elefanten, die aus der Unterhaltungsbranche der 70er-Jahre nicht wegzudenken waren, sowie einer Exklusivmeldung aus dem März Jahr 1913: Rilke hat Schnupfen!
In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Sachbücher der Deutschen 2466 Gramm auf die Waage: zusammen 3041 Seiten.
10. Greg Smith: "Die Unersättlichen"
Deutsch von Petra Pyka, Christoph Bausum und Thorsten Schmidt, 368 Seiten, 19,95 Euro
Zwölf Jahre hat der Südafrikaner Greg Smith für Goldman Sachs an der Wall Street gearbeitet und gelangt nun zu dem überraschenden Befund: Denen geht's doch nur um unser Geld. Greg Smith mit seinem unfreiwillig komischen Insider-Enthüllungsbuch allerdings auch. Wer Tugend und hohe moralische Standards bei Investmentbankern erwartet, geht im Bordell auf die Suche nach Unschuld.
9. Philippe Pozzo di Borgo: "Ziemlich beste Freunde"
Deutsch von Dorit Gesa Engelhardt, Marlies Russ und Bettina Bach, Hanser Berlin, 220 Seiten, 14,90 Euro
Ein bewegendes, ein kitschfreies Buch von einem sehr privilegierten, sehr bedauernswerten Mann über das, was im Leben wirklich wichtig ist: Liebe, Freundschaft, Mut und Zuversicht im Bewusstsein von Krankheit und Tod.
8. Manfred Spitzer: "Digitale Demenz"
Droemer, 368 Seiten, 19,99 Euro
Manfred Spitzer, der Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm, ist mit diesem Sachbuch über die vermeintlich desaströsen Nebenwirkungen der Computerisierung unserer Lebenswelt ein Paradebeispiel dafür, wie die Überspitzung einer an sich bedenkenswerten These auch kluge Menschen in dämliche Vereinfachung treibt. Sicher ist es eine gute Idee, Computer- und Internetnutzung insbesondere von Kindern einzuschränken. Aber die pauschale Verteufelung von Computer und Internet, wie sie Spitzer hier betreibt, erinnert doch fatal an jene Warnungen von Medizinern im 19. Jahrhundert, die Eisenbahnfahrten mit Geschwindigkeiten von über 30 Stundenkilometern als für das menschliche Hirn unaushaltbar ablehnten.
7. Helmut Schmidt und Giovanni di Lorenzo: "Verstehen Sie das, Herr Schmidt?"
Kiepenheuer & Witsch, 272 Seiten, 16,99 Euro
Was Wum und Wendelin für die 70er-Jahre waren, sind Altkanzler Schmidt und "Zeit"-Chefredakteur di Lozenzo für das Deutschland der Gegenwart: launige Kommentatoren des Weltgeschehens, nicht immer ganz nachvollziehbar, aber sehr, sehr knuffig.
6. Peter Scholl-Latour: "Die Welt aus den Fugen"
Propyläen, 400 Seiten, 24,99 Euro
Achtung, dies ist keine der großen Reisereportagen des brillanten Welterklärers Peter Scholl-Latour, sondern lediglich eine chronologisch angeordnete Abfolge von Interviews, Kommentaren und Texten zu Fernsehdokumentationen. Der Preis für diese Zweitverwertung eigener Schriften ist Redundanz und mangelnde Stringenz. Aber selbst noch in seinen Gelegenheitsarbeiten bietet der 88-jährige Peter Scholl-Latour profunde historische Einsichten, breites Faktenwissen und stichhaltige politische Analysen.
5. Rolf Dobelli: "Die Kunst des klugen Handelns"
Hanser, 248 Seiten, 14,90 Euro
In dieser unterhaltsamen Fortsetzung seines ersten Bestsellers legt der Schweizer Rolf Dobelli wieder die Wurzeln unseres vermeintlich rationalen Handelns im Irrationalen frei. 52 Kurzkapitel enttarnen jeweils eine kuriose Abseitsfalle unseres Denkens – von der "Angst vor Reue" bis zur "Neomanie", die dafür sorgt, dass wir Gutes gegen Neues tauschen.
4. Florian Illies: "1913: Der Sommer des Jahrhunderts"
S. Fischer, 320 S., 19,99 Euro
Das Ende des langen 19. Jahrhunderts erzählt Florian Illies in einer Kette von Anekdoten über ein Figurenensemble, das von Charlie Chaplin über Franz Kafka bis Adolf Hitler reicht und dessen Handeln im Jahr 1913 ein wunderbares Stroboskoplicht auf die kulturelle Pracht der Epoche und das Grauen der Zukunft wirft. Mein Lieblingseintrag verzeichnet im März 1913 auf Seite 85:
"Rainer Maria Rilke hat Schnupfen."
Florian Illies hat kein historisches Meisterwerk geschrieben, dafür sind diese Tweets eines Jahres wahrlich zu unterkomplex, aber ein kurzweiliges Buch.
3. Rolf Dobelli: "Die Kunst das klaren Denkens"
Hanser, 256 Seiten, 14,90 Euro
Rolf Dobelli veranstaltet in dieser ersten Sammlung seiner Zeitungskolumnen ein amüsantes und erkenntnisträchtiges Gehirnjogging für Fortgeschrittene.
2. Heinz Buschkowsky: "Neukölln ist überall"
Ullstein, 400 S. 19.99 Euro
Zum Stichwort bildungsferne Parallelgesellschaft fällt mir seit vielen Jahren als Erstes immer Deutscher Bundestag ein. Ich tat mich zunächst schwer mit diesem Buch des Berliner Bezirksbürgermeisters Buschkowsky, was auch am Titel lag, den ich mit Verlaub nach wie vor für schlicht schwachsinnig halte: der Berliner Stadtteil Neukölln ist in Deutschland genauso wenig "überall" wie X das neue U oder Schwarzweiß das neue Bunt ist. Dennoch: Dies ist ein differenziert argumentierendes, faktenreiches und mit vielen Beispielen zum Selberdenken einladendes Buch zur Integrationsdebatte, dessen Höhepunkt auf Seite 138 bis 153 die Schilderung eines Besuchs Buschkowskys bei Thilo Sarrazin und seinem Kater ist. Sicher: Buschkowskys Thesen etwa über Hartz IV als Lebensstil sind ein Aufreger. Und gewiss werden sich auch manche Menschen über mein Lob für dieses Buch von Heinz Buschkowsky aufregen. Hier gilt: erst lesen, dann maulen.
1. Manfred Lütz: "Bluff! Die Fälschung der Welt"
Droemer, 189 Seiten, 16,99 Euro
Wer den Tod verdrängt, verpasst sein Leben, sagt der Psychiater Manfred Lütz und listet in flottem Trab durch die modernen Erfahrungsräume und Wissenswelten auf, wie etwa Castingshows und Esoterikschwurbler, Gesundheitsapostel, Körperkultler und Finanzjongleure durch immer raffinierte Täuschungsagenturen und Verdrängungssysteme an der Fälschung unserer Welt arbeiten. Als Alternative empfiehlt der gläubige Christ Lütz die katholische Kirche. Was soll ich als agnostischer Leser dazu sagen außer "Ja" und "Amen"?