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Die Sprache der Klassik

Dafür, dass sie den Bruder gegen das geltende Recht beerdigt, zahlt Antigone einen hohen Preis: Sie wird lebendig begraben. Hölderlin, der Dichter im Neckarturm, Verfasser des Briefromans Hyperion arbeitete sich an den antiken Stoffen und Themen ab. Fanatischer Einsatz für Ideale, Todessehnsucht und Existenzaufgabe, wenn das nicht Themen fürs Theater sind? Jan Bosses riskantes Rendezvous von Antigone und Hyperion bescherte dem Gorki-Publikum endlich einmal einen ernsthaften, und vor allem ernstzunehmenden Abend.

Von Eberhard Spreng | 19.12.2008
    Wir treten ein ins Reich der Toten: Mit schwarzen Paneelen sind die Seitenwände des Zuschauerraums kaschiert, schwarze Stoffbahnen überziehen die Sitzreihen. Einzelne Kleidungsstücke hängen über den Lehnen. Auf der Bühne liegen regelrechte Stoffberge, so als wäre eine Installation von Christian Boltanski zu besichtigen. Hier ist das Leben vergangen, aber es hat deutliche Spuren hinterlassen. Selbst die an diesem Abend unbenutzten Scheinwerfer an den Seitenwänden lassen ihre Köpfe hängen wie tote Seevögel nach einer Ölpest, nur einige orangefarbene Neonröhren tauchen gleichermaßen Bühne und Zuschauerraum in ein krankes Licht.

    Die Kleiderberge sind Spuren eines Krieges, an dessen Ende Kreon eine neue Politik dekretiert hat. Der Hass auf den Gegner von einst soll sich auch auf seinen Leichnam erstrecken. Der tote Polyneikes darf nicht ruhen. Jan Bosse hat Sophokles und seine Protagonistin Antigone auf überraschende Art und Weise ernst genommen. Wer einem Toten die letzte Ruhe verwehrt, verurteilt ihn zum untoten Herumspuken im Reich der Lebenden. Plötzlich erwacht also dieser tote Bruder in den Armen der liebenden Schwester Antigone wieder zum Leben und schleudert als Hölderlins Hyperion dem Publikum seine Schmachrede an die Deutschen entgegen.

    "Ich kann kein Volks mir denken, das zerrissner wäre, wie die Deutschen. Handwerker sieht du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Junker und gesetzte Leute, aber keine Menschen - ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergossne Lebensblut im Sande verrinnt?"

    Jan Bosse verbindet die Antigone-Geschichte, die er in der schwierigen Übersetzung des Friedrich Hölderlin spielen lässt, mit einigen Motiven des berühmtes Briefromans "Hyperion"; aber nicht indem er diesen auf der Bühne nachzuerzählen versucht, sondern indem er die Antigone-Tragödie aus der Perspektive von Hyperions Lebensskepsis und Todessehnsucht erzählt. Sebastian Rudolph spielt diese Doppelrolle überzeugend, mal als Schmerzensmann, mal als furiosen Ankläger.

    Kleine magische Momente gelingen Jan Bosse, wenn er aus den Kleiderbergen plötzlich eine Horde junger Männer auferstehen lässt, die sich auf einer Plattform als ein stummer Chor der Toten auf der Hinterbühne versammeln. Der Regisseur hat ihm das Wort genommen und anderen Figuren zugeteilt. Zu diesem Chor der Toten gesellt sich Antigone gerne, hier ist der geliebte Bruder, zu dem die Neigung stärker ist als zum Verlobten, dem Kreon-Sohn Haemon.

    Augenfällig wird hier die Todesbereitschaft einer Frau, ihr lebensgefährlicher Ungehorsam, weil für sie und in dieser Regie auch für uns das Vergangene und dessen Tote schwerer wiegen als das Gegenwärtige und seine Überlebenden. Diese erleben unter Kreons Herrschaft ihre Gegenwart nur noch als verzerrtes Sein. Ismene, die autoritätshörige Antigone-Schwester, verfällt in einen zuckenden, abgehackten, forcierten Tanz; Spaß und Ausgelassenheit wird es also hinfort nur noch als Krampf geben.

    Wenn der von Roland Kukulies gespielte, ruppig handgreifliche Kreon an ein Katheder mit einem altmodischen Mikrophon tritt, dann klingt Hölderlins poetische Sprache plötzlich falsch, weil politisch, hohl und rhetorisch. Wenn die Politik ins Leben des Menschen tritt, und mit ihr die Revolutionen, der Kampf, das Handeln, dann gerät er auf die, wie Hölderlin sie nannte, "exzentrische Bahn", und verliert das göttliche Einssein mit der Welt.

    Das ist das Drama des Hyperion. Wenn der Mensch eigenes Recht über das Gesetz der Götter stellt, dann wird er zum Täter, der schließlich selbst unter den Folgen zu leiden hat. Den Tod der Antigone und dann auch den seiner Frau und seines Sohnes hat der hoffärtige Herrscher zu beklagen. Soweit die Tragödie des Kreon.

    Und Antigone? Sie wird in dieser Inszenierung zur Traumtänzerin und Mittlerin zwischen den Welten. Eine hybride Gestalt, die Anja Schneider, ein bisschen verbohrt, ein bisschen verklärt als junge Schwärmerin anlegt.

    Jan Bosses riskantes Rendezvous von Antigone und Hyperion, einer antiken Tragödie und einem klassisch-romantischen Briefroman stiftet eine überraschende, morbid-idealistische Liebesgeschichte, erzählt vom Wahnsinn des Krieges und der Zeit danach und beschert dem Gorki-Publikumendlich einmal einen sehr ernsthaften, und vor allem sehr ernstzunehmenden Abend.