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Die Stimme der Minderheit

Die Romas sind sind die größte Minderheit in Ungarn: 800.000 von zehn Millionen Menschen. Ihre größten sozialen Probleme: mangelnde Bildung und Arbeitslosigkeit. In den Medien des Landes hingegen tauchen sie meistens in Verbindung mit Straftaten auf. Stereotype Berichterstattung über sie war vor zehn Jahren der Anlass für die Gründung eines Roma-Pressezentrums - einer Nachrichtenagentur, die seriös über die Probleme der Roma berichten wollte. Von Keno Verseck.

    Über 3.000 Artikel und Reportagen produzierte das Roma-Pressezentrum in zehn Jahren. Meistens erschienen die Texte in den überregionalen Qualitätszeitungen, manche Recherchen lösten landesweite Aufmerksamkeit aus und beschäftigten Regierung und Parlament. Doch nun, im Jubiläumsjahr, muss das Roma-Pressezentrum wegen Finanzschwierigkeiten möglicherweise schließen. Aus Budapest berichtet Keno Verseck

    Budapest, achter Bezirk. Das Viertel um den Ostbahnhof ist bei den Hauptstädtern verschrien, weil hier viele Roma wohnen. Ein paar Schritte vom Bahnhof entfernt, in einem großen Hinterhofbüro, sitzt Andrea Tóth am Schreibtisch, blättert die Zeitungen durch und berät mit einem Kollegen über neue Themen.

    In dem Hinterhofbüro befindet sich die Redaktion des Roma-Pressezentrums, abgekürzt RSK. Zum Leidwesen der Chefredakteurin Andrea Tóth herrscht zurzeit nur wenig Betrieb im Büro der Nachrichtenagentur, von zehn Mitarbeitern haben gerade vier gekündigt.

    " Das Roma-Pressezentrum stand in den letzten Jahren immer mal wieder kurz vor dem finanziellen Zusammenbruch. Jetzt stecken wir wieder in so einer Situation. Letztes Jahr haben wir von Stiftungen und Institutionen nicht genügend Fördergelder bekommen und haben daher keine finanzielle Sicherheit für 2006. Wenn wir nicht noch Geld bekommen, dann müssen wir diese traditionsreiche Institution vielleicht sogar schließen."

    Das Roma-Pressezentrum hat viele Verdienste. Aus ihm ging beispielsweise die erste Generation wirklich professioneller Roma-Journalisten in Ungarn hervor. Bekannt geworden ist das Roma-Pressezentrum jedoch vor allem durch seine investigativen Recherchen zur Bildungssituation der ungarischen Roma. In jahrelanger Kleinarbeit, manchmal durch verdeckte Ermittlungen, bewiesen RSK-Journalisten, dass Roma-Kinder überall im Land systematisch aus Grundschulen herausgedrängt und oft auf Sonderschulen geschickt werden. Der jüngste Fall, der landesweit für Schlagzeilen sorgte, ist der einer Schule in dem Ort Jászladány, achtzig Kilometer östlich von Budapest. Andrea Tóth:

    " Der Bürgermeister wollte die Kinder von Roma und Nicht-Roma trennen. Deshalb gründete er für die Kinder der Nicht-Roma eine Privatschule. Dort war das Schulgeld so hoch, dass Roma-Familien es nicht bezahlen konnten. Wir haben den Fall vor zwei Jahren aufgedeckt. Daraufhin erhob das Bildungsministerium Anklage gegen das Projekt, wegen Diskriminierung und Segregation. Der Prozess hat Ende Januar begonnen."

    Die 38jährige RSK-Journalistin Elza Lakatos hat den Fall Jászladány mitrecherchiert. Sie war von Anfang an im Roma-Pressezentrum dabei und ist heute eine der bekanntesten Roma-Journalistinnen Ungarns.

    Elza Lakatos in einer Sendung im Budapester Radió C - C steht für das ungarische Wort cigány, zu deutsch Zigeuner. Die kleine, schwarzhaarige Frau stammt aus dem Städtchen Orosháza in Südostungarn. Sie lernte Buchhalterin und arbeitete jahrelang als Tagelöhnerin in einem Landwirtschaftsbetrieb. Vor zehn Jahren hörte sie zufällig vom Roma-Pressezentrum und wurde bald darauf mit Leib und Seele Journalistin.

    "Mein erster Artikel war eine Geschichte über das Leben einer Roma-Familie in einem südungarischen Ort nach einem Pogrom. Das Haus der Familie war von anderen Bewohnern des Ortes angezündet worden. Ich bin dahin gefahren, habe mit den Leuten geredet und mich stundenlang damit herum gequält, eine kurze Nachricht zu schreiben. Und die habe ich dann per Fax nach Budapest geschickt."

    Zurzeit schreibt Elza Lakatos nicht nur Nachrichten und Reportagen - wegen der prekären finanziellen Situation beim Roma-Pressezentrum muss sie sich auch um die Buchhaltung kümmern. Doch an Kündigung denkt sie nicht.

    "Wenn ich zu Roma fahre, wundern sie sich immer über mich als Frau und als Roma-Journalistin. Sie fragen, ob ich verheiratet bin und wieso mein Mann es erlaubt, dass ich von Zuhause wegfahre. Am meisten berührt mich jedes Mal das Elend der Roma-Ghettos. Ich bin ja selbst nicht in einem solchen Ghetto aufgewachsen. Ich spreche immer sehr viel mit den Leuten und erzähle auch viel über mich selbst. Diese Gespräche bedeuten mir sehr viel, und zugleich ist die Reise in die Elendsviertel jedes Mal wie ein Reise in eine andere Zeit."