Freitag, 29. März 2024

Archiv


Die Stimme der Opfer

Um die 400.000 Menschen lebten im Warschauer Getto auf engstem Raum. Die Nahrungsmittel waren strikt rationiert, Hunger und Seuchen bestimmten den Alltag, Leichen lagen auf den Straßen. Heimlich dokumentierte eine jüdische Gruppe um Emanuel Ringelblum das Getto-Leben ausführlich.

Rezensiert von Willi Reiter | 19.07.2010
    Oneg Schabbat, die Freude am Schabbat, ist das wöchentliche Zusammensein nach dem Schabbat-Mahl: Familienmitglieder und Freunde sitzen zusammen, erzählen sich die Ereignisse der Woche, ruhen aus und feiern den beginnenden Ruhetag.

    Im Warschauer Getto erhielt der Ausdruck einen anderen Sinn – er wurde zum Decknamen für das Untergrundarchiv, das der Historiker Emanuel Ringelblum zusammen mit verlässlichen Mitstreitern gründete. Unter schlimmsten Verhältnissen, stündlich und täglich den Tod vor Augen, machten es sich der Historiker Ringelblum und sein Team zur Aufgabe, das jüdische Leben unter der NS-Besatzung minutiös für die Nachwelt zu dokumentieren und zu archivieren. Ringelblum gab die Weisung:

    "Sammelt so viel wie möglich ... Sortieren können sie es nach dem Krieg."

    Als im Juni 1942 die sogenannte Große Aussiedlung in das Vernichtungslager Treblinka begann, gab Ringelblum die Anweisung, das Archiv zu vergraben, um es für die Nachwelt zu retten.

    Während sie die Dokumente unter größtem Zeitdruck und größter Gefahr in Metallgefäßen und Milchkannen im Getto an verschiedenen Stellen versteckten, schrieb der 19-jährige David Graber, was die Welt später erinnern sollte:

    "Was wir nicht in die Welt hinausrufen und –schreien konnten, haben wir im Boden vergraben ... Nur zu gerne würde ich den Augenblick erleben, in dem der große Schatz ausgegraben wird und der Welt die Wahrheit ins Gesicht schreit. Damit die Welt alles erfährt. Damit diejenigen, die es nicht überleben, getröstet sein können, und wir uns wie Veteranen mit Orden auf unserer Brust fühlen können."

    David Graber steht zu diesem Zeitpunkt an der Schwelle des Todes. Verzweiflung und Hoffnung liegen gleichzeitig in seinen Worten:

    "Möge dieser Schatz in gute Hände fallen, möge er bis in bessere Zeiten überdauern, möge er die Welt alarmieren und auf das aufmerksam machen, was geschehen ist ... im 20. Jahrhundert. Wir können jetzt in Frieden sterben. Wir haben unseren Auftrag erfüllt. Möge die Geschichte für uns Zeugen."

    Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Dokumente 1946 im Trümmerschutt des ehemaligen Warschauer Gettos unter größten Anstrengungen gesucht und geborgen. Ein Teil des Archivs, der große Mengen an Informationen über den Widerstand im Getto und die Kämpfe des Aufstandes enthalten soll, konnte allerdings bis heute nicht gefunden werden. Die Dokumente der Sammlung Oneg Schabbat werden bis heute im Jüdischen Historischen Institut in Warschau aufbewahrt. Sie umfasst ca. 25.000 Seiten.

    Auf rund 750 Seiten beschreibt Samuel Kassow kenntnisreich, detailliert und engagiert die Entwicklung des Geheimarchivs. Dabei holt er weit aus und beleuchtet die tragisch-hoffnungsvolle Geschichte des mittel-osteuropäischen Judentums vor dem Zweiten Weltkrieg, um schließlich die dramatische und unvorstellbare Zeit im entmenschlichten Warschauer Getto darzustellen.

    Die im Warschauer Getto lebenden Juden wussten, dass ihr Ende bevorstand. Worin lag dann der Sinn des geheimen Archivs Oneg Schabbat? Kassow schreibt:

    "Zu ihrer Mission gehörte es ..., künftige Generationen daran zu erinnern, dass sie Individuen gewesen waren. Verständnis und Erinnerung sollten nicht nur die kollektive Katastrophe würdigen, sondern auch die individuellen Existenzen, die auszulöschen Absicht der Deutschen war."

    Die Aufgabe des Geheimarchivs erschöpfte sich nicht nur darin, eine Chronik des Verbrechens zu erstellen, es sei auch ein Bestandteil des Kampfes um eine bessere Zukunft gewesen. Der amerikanische Historiker charakterisiert Ringelblum:

    "Ähnlich wie fromme Juden an das Erscheinen des Messias glaubten, hoffte Ringelblum, dass nach dem Krieg auf den Trümmern des europäischen Kapitalismus eine andere gesellschaftliche Ordnung erstehen würde ... Geschichtswissen und Geschichtsbewusstsein würden die Waffen im Kampf um eine bessere Welt sein."

    Die Mitarbeiter von Oneg Schabbat sammelten aber nicht nur Plakate, Ausweise oder NS-Verlautbarungen. Sie initiierten das Abfassen von Zeugenberichten, führten Interviews und protokollierten das enthumanisierte Geschehen. Auch ermutigte Ringelblum viele Gettoinsassen, ihre Erlebnisse aufzuschreiben. Denn, so konstatiert Samuel Kassow:

    "Im Angesicht des Schreckens konnte Sprache sowohl ermutigen als auch trösten. Schreiben hieß, sich kostbarer Individualität zu vergewissern, selbst in der Gegenwart des Todes, hieß Widerstand leisten, und sei es nur, um die Mörder ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Schreiben hieß, die Niederlage der Mörder zu vollenden, indem man sicherstellt, dass künftige Historiker unter Berufung auf die Schreie der Opfer die Welt verändern."

    Ringelblum wollte jede Phase der traumatischen Entwicklung festhalten. Ihm war bewusst, dass die Erinnerung oft unvollständig ist und das selektive Gedächtnis, besonders im Getto, die Vergangenheit verfälscht. Die Momentaufnahmen sollten detailliert festgehalten werden. Der Historiker Kassow:

    "Unter dem Druck beispielloser Ereignisse veränderte sich die jüdische Gettogesellschaft in atemberaubender Geschwindigkeit. Während des Krieges vergingen Monate wie Tage, Jahre wie Monate. Im Dezember 1939 wirkte die Vorkriegszeit im Rückblick fast wie ein Picknick. Ein Jahr später, nachdem die Nazis die Juden in Gettos gesperrt hatten, löste die Erinnerung an die deutsche Besatzungszeit vor der Gettoisierung fast schon Wehmut aus. Als im Juli 1942 die Deportationen nach Treblinka einsetzten, erschien vielen die Gettohölle von 1941 – 42 wie eine gute alte Zeit."

    Oneg Schabbes schickte auch Berichte an die polnische Exilregierung in London und deren Verbündete, den Alliierten. Damit war die internationale Öffentlichkeit über den Genozid gut informiert. Rettungsmaßnahmen wurden aber nicht eingeleitet.

    Samuel Kassow hat sich mit seinem Buch "Ringelblums Vermächtnis" die Aufgabe gestellt, herauszufinden, wer Emanuel Ringelblum war, was ihn antrieb, woher er seine unermüdliche Kraft nahm und wie seine Persönlichkeit, seine politischen und wissenschaftlichen Überzeugungen, die Entwicklung des geheimen Archivs des Warschauer Gettos prägten. Es ist aber ebenso ein Buch über das mittel-osteuropäische Judentum, über das polnisch-jüdische Verhältnis sowie über viele einzelne Menschen, die von Nazis ermordet wurden und bisher namenlos blieben. Der Historiker Kassow:

    "Hätte Ringelblum überlebt, so wäre er der Erste gewesen, der gefordert hätte, dass sich die Historiografie des Holocaust nicht nur mit den Tätern und den Duldern, sondern auch mit den zum Schweigen gebrachten Stimmen der Opfer beschäftigen müsse."

    Mit seinem Buch führt Samuel Kassow die Arbeit von Emanuel Ringelblum fort. Kassow gibt den Opfern ihre Stimme und ihre Namen zurück. Ein lesenswertes Buch.

    Samuel D. Kassow - Ringelblums Vermächtnis: Das geheime Archiv des Warschauer Gettos.
    Rowohlt Verlag,
    704 Seiten, Euro 39,95
    ISBN: 978-3-49803-547-1