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Die Stimmvielfalt Venedigs

Max Emanuel Cencic hat sich das Ausgraben vergessener Opern auf die Fahne geschrieben. Auf seiner neuen CD mit dem Fokus auf Venedig werden nahezu unbekannte Arien vorgestellt - darunter Werke von Antonio Caldara, Giovanni Porta, Giuseppe Selitto, Geminiano Giacomelli, Tomaso Albinoni und nicht zuletzt Antonio Vivaldi.

Von Christiane Lehnigk | 10.02.2013
    Im Mittelpunkt steht heute die neueste CD des Countertenors Max Emanuel Cencic, die er zusammen mit dem Ensemble Il Pomo d'oro unter der Leitung von Riccardo Minasi im August und September des vorigen Jahres in Italien aufgenommen hat. Diese Produktion erschien jetzt unter dem Titel 'Venezia. Opera Arias of the Serenissima' bei Virgin Classics. Im Studio begrüßt Sie dazu Christiane Lehnigk.

    Wenn es auch inzwischen eine ganze Riege hochkarätiger Countertenöre gibt, so ist doch die Stimmkultur von Max Emanuel Cencic, mit der er sich seine Sopranstimme unbeschadet in das Erwachsenenalter hinüberretten konnte, einzigartig. Er begann, sich ab 2001 als Countertenor zu etablieren und mit einer Reihe von CD-Produktionen hat der Deutschlandfunk seinen kometenhaften Aufstieg begleitet.

    Inzwischen werden auch Countertenöre wie ihre Gesangskollegen als Stars vermarktet, und es rückt immer wieder eine neue Generation nach, der die Technik noch leichter zu fallen scheint, deren Ausbildung noch perfekter ist. Aber anstatt diese jungen aufstrebenden Diven als Konkurrenz zu empfinden, haben Cencic und seine Agentur 'Parnassus Arts Productions' die Situation umgekehrt und jetzt suchen und fördern sie den internationalen Nachwuchs. Dazu gehört auch das Erkunden nach immer neuem Repertoire, das Ausgraben vergessener Opern, die zu den Paradestücken der Kastraten im 18. Jahrhundert gehörten. Ein Beispiel ist hier 'Artaserse' von Leonardo Vinci, in der alle fünf Hauptpartien mit Countertenören besetzt sind, eine unvergleichlich erfolgreiche Koproduktion mit dem Deutschlandfunk, die dem Stimmfach noch einmal mehr zum Aufschwung verholfen hat.

    Max Emanuel Cencic hat auch auf dieser CD mit dem Fokus auf Venedig wieder unbekanntes Repertoire erstmals vorgestellt, darunter Opern-Arien von Antonio Caldara, Giovanni Porta, Giuseppe Selitto, Geminiano Giacomelli, Tomaso Albinoni und nicht zuletzt Antonio Vivaldi.

    Antonio Vivaldi
    'Anche in mezzo a perigliosa'. Arie
    Max Emanuel Cencic, Countertenor
    Il Pomo d'oro
    Leitung: Riccardo Minasi


    Wenn auch Antonio Vivaldi im Mittelpunkt des neuen 'Venezia'-Programmes von Max Emanuel Cencic steht, so gruppiert sich doch um ihn eine illustre Schar teils kaum bekannter Komponisten, die entweder aus Venedig stammen oder hier gearbeitet haben. Dabei ging es ihm darum, die unterschiedlichen Stilrichtungen und Affekte von Vivaldi und einigen Konkurrenten, in ihrer farblichen Vielfalt darzustellen, die alle die sechs Theater der Lagunenstadt mit jährlich um die 450 verschiedenen Opern belieferten.

    "Das Programm Venezia ist eine Auswahl an unterschiedlichen Komponisten, die in Venedig gewirkt haben, in den Jahren so zwischen 1720 und 1740, und die Idee war eigentlich weniger sich um die Personen, die das aufgeführt oder gesungen haben zu beschäftigen, sondern sich eigentlich eher mit der Frage zu beschäftigen über Venedig als Stadt, als Schmelztiegel der Kulturen und als sozusagen musikalisch stilistischen Topf. Und ich habe versucht, auf dieser CD eine Art, wie soll ich sagen, stilistische Bandbreite zu erörtern, die man dem eben Venedig oder dem venezianischen Musik- oder Opernstil zuschreiben kann. Deswegen habe ich mich jetzt nicht nur auf der CD nur auf Vivaldi zum Beispiel konzentriert, der natürlich auch dabei ist, aber ich wollte auch Komponisten aus Venedig haben, wie zum Beispiel Caldara, der aber nicht in Venedig gelebt hat, sondern in Österreich gewirkt hat, gleichzeitig aber auch Komponisten, die nicht in Venedig geboren wurden, wie Giacomelli, die aber in Venedig gewirkt haben und die venezianischen Komponisten wiederum sehr entschieden beeinflusst haben."

    Als Partner hat sich Max Emanuel Cencic für seine Venezia-Produktion ein italienisches Ensemble ausgesucht, stilgerecht in kleiner exquisiter Besetzung mit 17 Musikerinnen und Musikern. 'Il Pomo d'oro' heißt die junge Truppe, die der Geiger Riccardo Minasi letztes Jahr ins Leben gerufen hat und die in ihrer Arbeit einen Schwerpunkt auf der Oper hat. Der Name des Ensembles, 'Der Goldene Apfel', ist dem Titel einer Oper von Antonio Cesti aus dem Jahre 1666 entnommen, eine der aufwendigsten Produktionen des damals noch jungen Genres, mit einem riesigen Feuerwerk, Pferdeballett, 50 Sängerpartien (darunter neun Kastraten), unzähligen Bühnen-Effekten und einer Gesamtdauer von über zehn Stunden. Das Ensemble 'Il Pomo d'oro' ist hier ein kongenialer Partner für das Venedig-Programm von Cencic, stilsicher in der Phrasierung, sensibel in der Begleitung, unangestrengt im Duktus und mit einer federnden Leichtigkeit, die man gerne italienischen Musikern auf historischem Instrumentarium attestiert. Max Emanuel Cencic:

    "Ich bin gerne jemand, der experimentierfreudig ist und immer wieder mit neuen Leuten zusammenarbeitet, also, weil das auch sehr für mich bereichernd ist, mit neuen Künstlern in Kontakt zu treten um damit neue Erfahrungen zu sammeln. Dadurch wächst man, glaube ich, auch weiter. Die Zusammenarbeit mit Minasi ist eine komplett neue gewesen und sie war erfolgreich."

    Während der zehntägigen Aufnahme-Session im vorjährigen heißen venetischen Hochsommer spielte das Ensemble noch zwei weitere CDs mit den Countertenören Franco Fagioli und Xavier Sabata ein. Mit Cencic gibt Minasi in diesem Jahr noch 17 Konzerte zusammen, in Deutschland sind sie als nächstes am 28. Februar beim Bodenseefestival zu erleben. Cencic geht es auch in dieser Einspielung nicht um eine Aneinanderreihung von virtuosen Bravourstückchen, sondern vielmehr um die Auslotung dessen, was in der norditalienischen Oper zu Beginn des 18. Jahrhunderts alles angeboten wurde. Da gibt es natürlich die üblichen Wut- und Rache-Arien, aber nicht zuletzt sind es vor allem die langsamen, emotionsgeladenen und spannungsvollen Arien, quer durch die Register, in der sich die Stimme von Cencic unangestrengt entfalten kann. Wie hier in der der Arie "Sposa ... non mi conosci", "Gemahlin, Du kennst mich nicht. / Mutter ... du hörst mich nicht" aus dem 3. Akt der Oper 'La Merope' von Geminiano Giacomelli. Diese bekannte Arie im venezianischen Stil wurde lange Zeit Vivaldi zugeschrieben, weil dieser sie später in einem Pasticcio mit einem anderen Text verwendet hatte.

    Geminiano Giacomelli
    aus: Merope. Oper, 3. Akt, 7. Szene
    Arie "Sposa ... non mi conosci",
    Max Emanuel Cencic, Countertenor
    Il Pomo d'oro
    Leitung: Riccardo Minasi


    Eine Kunst, die man bei der Gestaltung dieser dramatischen venezianischen Musik, wie hier bei Giacomelli, perfekt beherrschen muss, ist neben der zeittypischen Affekt-Darstellung die Verzierung und Ornamentik der Vokal- wie der Instrumentalstimmen. Max Emanuel Cencic sieht darin allerdings keine formelhafte Kür, sondern eher eine ganz individuelle Fertigkeit, die man sich durch die Kenntnis der Partituren und Schriften der Zeit aneignen muss und virtuos beherrschen sollte.

    "Ich glaube, dass die Verzierung und die Interpretation halt immer eine Sache ist, die individuell für jeden Sänger stimmen muss. Ich weiß es ja, dass es damals genauso war. Es gab Sänger, die einen bestimmten Verzierungsstil hatten, und das kann man nicht nachmachen. Man muss es individuell für sich selbst entwickeln, das ist nur eine Form des Ausdrucks. Während der venezianische Stil an sich selbst jetzt im musikalischen Sinne gesehen ein Stil ist, der sehr sich sehr mit der Frage des dramatischen Ausdrucks beschäftigt hat. Also in Venedig könnte man durchaus sagen, dass man sehr viele vorklassizistische Ansatzpunkte hatte, die stark vertreten waren. Vor allem Vivaldi ist ja jemand, der ein sehr großer Verfechter der venezianischen Oper war. Wenn man schaut, in der Zeit als Metastasio von fast allen Komponisten vertont wurde, war Vivaldi einer der wenigen Komponisten, der sich eigentlich diesem Trend sich widersetzte und der eigentlich nur L'Olympiade von Metastasio vertonte, aber alle anderen Opern, die er geschrieben hat, sind von Venezianern geschrieben und sind überhaupt nicht nach der Metastasianischen Form der Oper seria aufgebaut. Was natürlich beweist eben, dass Vivaldi ein Querdenker war. Und Galuppi natürlich, der sozusagen als der große Nachfolger Vivaldis in Venedig angesehen wurde, war auch jemand, der dann auch zunehmend sich mehr der Opera buffa zuwandte, die von Goldoni halt sehr stark geprägt wurde. Und Goldoni ist, wie gesagt, der große venezianische Librettist des mittleren 18.Jahrhunderts, der wie gesagt, aus der venezianischen Oper. Wo man eben die Komödie mit der Tragödie vermischte, eben nur die Komödie herausgeholt hat und die Komödie sozusagen zum Hauptaugenmerk seines künstlerischen Schaffens gemacht hat."

    Giuseppe Sellitto
    aus: Nitocri. Oper, 1. Akt, 3. Szene
    Arie "Anche un misero arboscello"
    Max Emanuel Cencic, Countertenor
    Il Pomo d'oro
    Leitung: Riccardo Minasi"


    Die Neue Platte im Deutschlandfunk. Wir stellten Ihnen heute die neueste, mit Virgin Classics produzierte CD des Countertenors Max Emanuel Cencic vor, die er zusammen mit dem Ensemble 'Il Pomo d'oro' unter der Leitung von Riccardo Minasi unter dem Titel 'Venezia. Opera Arias of the Serenissima' veröffentlichte. Im Studio verabschiedet sich, mit Dank fürs Zuhören, Christiane Lehnigk.

    Links ins Netz:

    www.virginclassics.com

    www.cencic.com

    www.il-pomodoro.ch