Volker Wagener: Herr Ministerpräsident, der Union geht es gut, man könnte fast sagen zu gut. Man kann sogar so weit gehen und feststellen: Die Demoskopen könnten einige Spitzenpolitiker Ihrer Partei oder die Partei als Ganzes vielleicht ein bisschen verrückt gemacht haben. Jedenfalls scheint es so, dass der Unterhaltungswert innerhalb der Union, auch innerhalb der Schwesternparteien CDU und CSU, größer ist als man selbigen erwarten könnte in der Konfrontation des Herausforderers mit den Amtsinhabern. Wie erklärt sich das?
Jürgen Rüttgers: Die Umfragen sind gut, da haben Sie recht. Aber ich warne vor Euphorie. Wahlen hat man am Wahlabend gewonnen, und bis dahin muss gekämpft werden, und zwar geschlossen gekämpft werden, gemeinsam gekämpft werden. Der Start dieses Wahlkampfes war vielleicht nicht ganz elegant, aber inzwischen sind die Anfangsschwierigkeiten überwunden. Wir haben uns entschieden, auch nicht auf die Strategie von Herrn Schröder reinzufallen, über alles und jedes zu diskutieren, TV-Duelle zu Fragen, die mehr der medialen Präsentation dienen, sondern uns um die zentralen Zukunftsfragen des Landes zu kümmern: Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, mehr Wachstum, Sicherheit auch im sozialen Bereich. Und Sie werden sehen, dass die gesamte Führung von CDU und CSU kämpfen wird, damit Angela Merkel Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland wird. Das ist wichtig, damit wir eine andere Politik bekommen und es im Land wieder aufwärts geht.
Wagener: Was aber noch zu fehlen scheint, ist die zentrale Zuspitzung auf ein oder zwei, vielleicht sogar drei Kernthemen. Ich will mal stellvertretend Roland Koch, stellvertretend für viele andere Stimmen aus der Union erwähnen, der jetzt eine Zuspitzung im Wahlkampf auf der Zielgeraden fordert. Er sagte, zwei, drei Wochen vorher muss die Zuspitzung kommen. Wir haben jetzt diesen zeitlichen Korridor erreicht. Mit was ist zu rechnen? Kriegen wir nochmal eine ganz spezifische Steuerdebatte oder eine Türkeidebatte, oder vielleicht etwa Diskussionen über die zukünftige Familienpolitik?
Rüttgers: Ich glaube, dass die Zuspitzung schon da ist. Wir erleben ja bei der SPD einen Links-Ruck unter dem Druck von Lafontaine und Gysi. Die Union wird sich mit dem Thema Wirtschaft und Beschäftigung, Arbeitsplätze und soziale Sicherheit auseinander setzen. Und die Berufung von Professor Kirchhof in das Kompetenz-Team hat ja auch die Debatte der letzten Tage schon stark geprägt.
Wagener: Edmund Stoiber fordert noch mehr und sagt: Wir brauchen unbedingt jetzt eine härtere Gangart. Er selbst praktiziert das ja schon seit längerem, was auch zum Disput innerhalb der Unions-Schwesternparteien geführt hat. Ist die härtere Gangart nicht trotzdem wirklich wichtig für das Finale vor dem 18. September - allein schon mit Blick auf die Mobilisierung?
Rüttgers: Die Unionsanhänger sind, wie alle Umfragen zeigen, jetzt schon - und das ist gut und richtig und auch sehr schön - zu einem Großteil mobilisiert. Dennoch muss gekämpft werden um jede Stimme. Deshalb sind wir uns auch einig, und wir haben das unter Leitung von Angela Merkel auch so diskutiert, dass wir es nicht akzeptieren werden, dass der Bundeskanzler und Rot-Grün so tut, als ob sie mit den desaströsen Ergebnissen einer verfehlten Wirtschaftspolitik fünf Millionen Arbeitslose, jeden Tag tausend Arbeitsplätze weniger, eine Pleitewelle und eine gigantische Verschuldung nichts zu tun haben. Das ist das Erbe von Rot-Grün. Da erleben wir ja im Moment schon die merkwürdige Wahlkampfsituation: Schröder greift die Union für die Vorschläge an, legt aber selbst keine Vorschläge mehr vor. Er tut so, als ob er schon Opposition ist, und die Union soll sich verantworten für die Ergebnisse seiner Arbeit. Das werden wir nicht akzeptieren. Das wird am deutlichsten dann auch für die Menschen, die sich auch nicht jeden Tag von morgens bis abends mit Politik beschäftigen, wenn man die Alternativen klar gegeneinander stellt. Und das ist damit gemeint, dass es auch ein Stück zugespitzt wird.
Wagener: Ihre Partei hält Rot-Grün die vermeintlichen Fehler der letzten Jahre im Wahlkampf vor. Nun sagt aber Ihr Parteifreund Kurt Biedenkopf: Es ist langweilig für den Wähler, wenn er das immer wieder vorgerechnet bekommt. Sollte man da nicht die eigenen Vorschläge stärker in den Mittelpunkt rücken?
Rüttgers: Das haben wir ja gemacht mit unserem Zukunftsprogramm, und das ist ja das, was ich gerade angesprochen habe: Schröders Äußerungen zu politischen Fragen sind immer Angriffe auf die Konzeptionen der Union, selber keine Ideen mehr haben, keine Konzeptionen mehr haben, und andere angreifen. So hat die SPD, so hat Schröder den Wahlkampf angelegt. Wir haben den Versuch gemacht, eine Strategie auch in diesem Bundestagswahlkampf zu fahren und werden sie auch fortführen, die ja schon in Nordrhein-Westfalen erfolgreich war, den Leuten vor der Wahl klar zu sagen, was nachher auf sie zukommt, auch wenn es unangenehm ist, auch wenn es um Opfer geht. Denken Sie an die Ankündigung der Mehrwertsteuererhöhung. Es hat zuerst eine kontroverse Debatte gegeben, inzwischen weiß jeder im Land, dass sie kommen wird. Sie würde übrigens auch kommen, wenn - was der Wähler verhüten möge - Rot-Grün die Chance bekäme, fortzuführen. Angesichts der Schuldenfalle, in der das Land sitzt und in die Rot-Grün das Land geführt hat, werden wir nur dann wieder zu mehr Wachstum kommen. Wir werden nur dann auch wieder zu höheren Steuereinnahmen kommen, wenn wir die großen Reformen bei der Steuer - ein einfacheres und gerechteres System einzuführen. Bei dem sozialen Sicherungssystem jetzt auch anpacken, dafür braucht man aber auch ein Stück Geld, und die Arbeitskosten müssen herunter, sonst gibt es keine neuen Arbeitsplätze. Deshalb ist die Mehrwertsteuererhöhung ja auch gedacht für die Absenkung der Arbeitslosenversicherung..
Wagener: Stichwort 'Mehrwertsteuer', 'Steuermodell nach Kirchhof' - da will ich gleich nochmal etwas näher drauf eingehen. Aber zunächst mal: Das, was Angela Merkel von Ihnen nach dem 22. Mai hier in Nordrhein-Westfalen lernen könnte, ist das, dass man auch auf Samtpfoten - oder vor allem auf Samtpfoten - an die Macht kommen kann, also der ganz andere Stil, den Edmund Stoiber seit Wochen praktiziert im Wahlkampf?
Rüttgers: Wir haben hier in Nordrhein-Westfalen vor der Wahl klar gesagt, was wir tun werden. Und die hohe Zustimmung, das Vertrauen, das die neue Landesregierung jetzt hat, hat nach meiner festen Überzeugung und Einschätzung damit zu tun, dass wir jetzt genau auch das tun, was wir vorher gesagt haben. Übrigens ist das ein ganz interessanter Vorgang, dass es für die Leute schon wieder etwas Überraschendes ist, wenn Politiker nach der Wahl das tun, was sie vor der Wahl gesagt haben. Ich glaube aber, dass das richtig ist. Die Zeit der medialen Inszenierungen, da war Schröder ja ein Meister, ist vorbei. Die Leute können es nicht mehr sehen, die Leute können es nicht mehr hören. Sie wollen wissen, wie es weitergeht, weil sie auch das Gespür haben, dass die Zeiten eines Spaß-Wahlkampfes vorbei sind und nicht mehr angemessen sind. Ich habe vor der Landtagswahl angekündigt, dass wir Studiengebühren einführen, dass wir die Steinkohle-Subventionen halbieren, dass wir die Leistungsgesetze und die Förderprogramme um bis zu 20 Prozent zurückführen werden - dass jeder das merken wird, dass das Opfer kosten wird. Viele haben mir davon abgeraten. Die Tatsache, dass wir fast 44,8 Prozent bekommen haben und damit ein historisches Wahlergebnis bekommen haben, hat damit zu tun nach meiner festen Überzeugung. Deshalb finde ich es richtig, dass die Union jetzt im Bundestagswahlkampf das selbe macht. Und wer in Nordrhein Westfalen fast 45 Prozent gewinnen kann, der kann auch die Bundestagswahl gewinnen.
Wagener: Also, die bittere Medizin vorab scheint, wenn man nur auf das Wahlergebnis schaut, angekommen zu sein. Sie haben am 22. Mai vor allen Dingen den Durchbruch geschafft bei der unteren Mittelschicht - klassisches SPD-Wählerreservoir, vor allen Dingen bei der städtischen Arbeiterschaft. Sind das Erwartungen, die Sie auch im Bund hegen am 18. 9., oder sind dort die soziologischen Voraussetzungen doch andere als hier im Westen?
Rüttgers: Ich glaube, dass die Union klug beraten ist, auch da Volkspartei zu sein und zu bleiben. Wir brauchen Stimmen aus allen Bevölkerungsgruppen und wir brauchen sie überall aus Deutschland. Es ist völlig falsch, den Versuch zu machen, da das eine gegen das andere auszuspielen. Das bedeutet konkret: Man muss eine Politik machen, die wirtschaftlich vernünftig ist und gleichzeitig gerecht. Sonst wird man das Vertrauen der Menschen nicht bekommen. Deshalb finde ich es ja auch wichtig, dass wir in diesem Wahlkampf eine Debatte darüber führen, dass wir die soziale Marktwirtschaft wiederbeleben wollen, dass wir zurück wollen zu einer ökonomischen Ordnungspolitik, dass wir die aber ergänzen um eine soziale Ordnungspolitik. Es passt zum Beispiel nicht zu einer solchen sozialen Ordnungspolitik, wenn ich bei Hartz IV hingehe und zahle demjenigen, der 30 Jahre in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt hat, im Falle der Arbeitslosigkeit das selbe wie jemand, der noch nie etwas einbezahlt hat. Das widerspricht jeglichem Gerechtigkeitsgefühl und war deshalb ein Fehler. Das muss auch nach der Bundestagswahl korrigiert werden.
Wagener: In Ihrem Kabinett hier in Düsseldorf sitzt Karl-Josef Laumann als Arbeits- und Sozialminister. Er ist der Vorsitzende des Arbeitnehmer-Flügels. Wäre das sozusagen Ihre maßgeschneiderte Position nach einer gewonnenen Bundestagswahl, dass dieser soziale Impuls in einer möglicherweise neuen schwarz-gelben Regierungskoalition in Berlin aus Nordrhein-Westfalen kommt?
Rüttgers: Sozial ist, was Arbeit schafft. Und wir werden als nordrhein-westfälische CDU darauf achten, dass wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit zwei Seiten einer Medaille sind und bleiben.
Wagener: Nehmen wir einmal an, Angela Merkel obsiegt am 18.9., wie muss man sich denn dann die Konstellation im Bundesrat oder die Konstellation zwischen ihr als Kanzlerin und der großen CDU-Mehrheit im Bundesrat vorstellen. Die prominenten CDUler sitzen als Landesfürsten dann mit im Bundesrat. Diese Landesfürsten zeichnen sich bis jetzt nicht gerade dadurch aus, dass sie offensiv ihr zur Seite springen, wenn sie in Not gerät.
Rüttgers: Wir kämpfen alle für den gemeinsamen Wahlsieg. Und ich sage das ausdrücklich für die nordrhein-westfälische CDU und auch mich persönlich, dass wir nicht nur in der Vergangenheit Angela Merkel unterstützt haben sondern das auch tun werden, wenn sie Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland ist. Die CDU ist eine föderale Partei. Wir sind eine Partei, die von der Gründung her nie einen Einheitsstaat wollte. Und das wird es auch nach einer Regierungsübernahme nicht geben. Der Föderalismus ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Machtverteilung ein kluges und erfolgreiches Konzept, sondern er ist auch ein ökonomisch zukunftsweisendes Konzept. Länder, die zentralstaatlich ausgerichtet sind, sind ökonomisch nicht erfolgreicher, sondern im Zeitalter der Globalisierung muss man verstehen, dass die Menschen nicht global leben. Ein Leben, das davon ausgeht, dass man heute hier und morgen da lebt, ist kein erfülltes und menschliches Leben, sondern es braucht immer ein Widerlager in der Region oder in der eigenen Heimat.
Wagener: Sie haben jetzt ein wenig eine andere Antwort gegeben auf den Kernpunkt meiner Frage. Es täuscht ja nicht, dass Angela Merkel in den letzten Wochen und Monaten oftmals ein wenig alleine da stand. Ich will Sie mal konfrontieren mit einigen Presseschlagzeilen, zum Beispiel: 'Merkel bemüht sich vergeblich um Geschlossenheit' oder 'Merkel bremst Kirchhof aus' oder 'Team ohne Teamgeist'. Das kann ja jetzt nicht irgendwie eine einseitige Sichtweise einiger Pressevertreter sein. Es scheint so zu sein, dass sozusagen die ganz große Geschlossenheit auf der oberen Ebene noch nicht, sagen wir mal, vorhanden ist.
Rüttgers: Ich sehe das anders. Das waren Anfangsschwierigkeiten. Die sind überwunden und es gibt jetzt den notwendigen Korpsgeist und die notwendige Geschlossenheit, um die Bundestagswahl zu gewinnen.
Wagener: Bei der Aufstellung des Wahlkampfteams von Angela Merkel, sagen manche zumindest, war das Kriterium der Loyalität ein gewichtigeres als das der Prominenz oder Kompetenz. Würden Sie dem zustimmen?
Rüttgers: Loyalität ist etwas Gutes, Kompetenz ist in diesem Team in reichem Maße vorhanden. Die Umfragen zeigen, dass die Leute dem Kompetenzteam der Union mehr zutrauen als dem gesamten jetzigen Bundeskabinett.
Wagener: Stichwort Mehrwertsteuererhöhung. Sie sagten eingangs schon: Unumgänglich, sie wird kommen, egal unter welcher politischen Konstellation. Ein Plakat bei der SPD ist ein besonderer Renner in diesem Wahlkampf. Das lautet sinngemäß so: Mehrwertsteuererhöhung gleich Merkel-Steuer. Es ist ein Renner im SPD-Sortiment. Ist das nicht ein gefährliches Wahlvorhaben, an der Urne gleich mit einer neuen Erhöhung ins Rennen zu gehen?
Rüttgers: Im Anfang war das schwierig. Viele Wahlforscher und Werbeberater haben auch davon abgeraten. Die Strategie der Ehrlichkeit zahlt sich aus. Inzwischen ist das auch gar kein Thema mehr, und wenn die SPD das weiter klebt, dann geht sie an der eigenen Befindlichkeit ihrer Mitglieder vorbei. Die Leute diskutieren in diesem Wahlkampf das Thema Mehrwertsteuer kaum noch. Ich war inzwischen in vielen Teilen Deutschlands im Wahlkampf. Es ist nicht mehr das zentrale Thema. 80 Prozent der Leute gehen sowieso davon aus, dass das in der nächsten Legislaturperiode gekommen wäre. Das heißt, die SPD hat mit dieser Strategie den großen Fehler gemacht, dass sie ihre eigene Glaubwürdigkeit erschüttert hat, vor allen Dingen, wenn man bedenkt, dass so prominente SPD-Leute wie der ehemalige Ministerpräsident Steinbrück aus Nordrhein-Westfalen selber davon gesprochen hat. Und es gibt ja noch eine ganze Reihe aus den Führungskreisen der SPD, die sich ähnlich geäußert haben. Ich halte das, was die SPD da macht, für einen Wahlkampffehler zentraler Art.
Wagener: Aber in der Sache haben Sie auch einige Zeit gebraucht, darüber nachzudenken, soll man das machen, wie soll man das machen, wie soll man das vielleicht flankieren, wann soll man das machen. Jetzt im nachhinein: Wie erklären Sie sich Ihren Schwenk, durch was war er begründet? Sie waren erst klar dagegen, dann dafür.
Rüttgers: Ich war skeptisch, ich bin immer noch skeptisch. Das ist aber nicht eine Frage, die mit dem Wahlkampf und mit taktischen Überlegungen zu tun hat, sondern wer mit Wirtschaftsfachleuten diskutiert, weiß, dass eine Mehrwertsteuererhöhung, wenn man es falsch macht, dazu führen kann, dass Arbeitsplätze gefährdet werden. Das wollte ich verhindern. Wenn man so etwas macht, dann kann man die Gefahr minimieren, indem man das Geld braucht, um die Lohnzusatzkosten zu senken und in neue Arbeitsplätze zu investieren. Das ist inzwischen auch Grundlage des Wahlprogramms und der entsprechenden Aussage der Union. Insofern kann ich mit der Beschlusslage jetzt leben. Das muss aber dann auch genau so umgesetzt werden.
Wagener: Sie haben das Stichwort Ehrlichkeit jetzt schon zweimal ins Felde geführt. Wenn wir dieses Mal vor dem Hintergrund des Kirchhof-Steuermodells noch mal neu diskutieren, das wäre ja ein sehr radikaler Abschied von diversen, zahlreichen Steuerprivilegien. Ist es nicht unehrlich, dem Wähler etwas anzukündigen, was abzuschaffen sehr, sehr schwierig ist, eigentlich fast aussichtslos erscheint?
Rüttgers: Ich schätze das anders ein. Wir brauchen ein einfacheres Steuersystem. Das einfache Steuersystem ist auch das gerechte Steuersystem, gerade auch für die Normalverdiener, die sich ja nicht die großen Steuerberatungsbüros leisten können, die jede Ausnahmevorschrift dann auch kennen und nutzen. Paul Kirchhof hat eine Diskussion mit seinem Steuermodell angestoßen, die eine unglaubliche Chance beinhaltet. Wir haben sie als Union aufgenommen, schon vor seiner Berufung. Er selber sagt, dass das, was im CDU-Zukunftsprogramm steht, etwa 70 Prozent seiner Vorstellungen sind. Das heißt, das wird jetzt nach der Wahl umgesetzt und dann sind wir schon einen ganzen Schritt weiter.
Wagener: Das heißt, man muss das Modell Kirchhof so verstehen, dass erst mal das Wahlprogramm, das dreistufige Steuermodell, gilt und dass das Kirchhof-Modell sozusagen eine Anschlussvariante sein könnte?
Rüttgers: So hat Kirchhof das ja selber gesagt, dass man dann sehen muss, wie weit man gekommen ist und dann gegebenenfalls Schritt für Schritt voran geht. Ich glaube, das kann man an einem kleinen Beispiel deutlich machen. Wenn am 18 September ein neuer Bundestag gewählt wird, dann wird es ja ein paar Wochen dauern, bis die Koalitionsverhandlungen zu Ende sind, die Kanzlerin gewählt ist, ein neues Kabinett gebildet ist, die Regierungserklärung gemacht wird. Schauen Sie, alleine daraus ergibt sich schon, dass bis zum 1. Januar eine so große Steuerreform nicht beschlossen werden kann und schon gar nicht umgesetzt werden kann. Denken Sie an all die Formulare und Durchführungsverordnungen, die für so etwas erforderlich sind. Wir wollen aber ja nicht einfach bis zum 1.1.2007, muss ich sagen, also ein Jahr wird man dann brauchen, um so etwas zu machen - aber wir wollen ja jetzt schon zum Beginn des neuen Jahres etwas tun für mehr Arbeitsplätze, und so ist ja auch das Zukunftsprogramm konzipiert, dass man dann schon mit ersten Schritten beginnen kann, um möglichst Wachstumsimpulse zu geben. Alleine das zeigt, dass es ein Unterschied ist, ob Sie wissenschaftlich eine Konzeption als Gesamtkonzeption vorstellen oder ob Sie sie politisch in mehreren Schritten umsetzen.
Wagener: Was gibt Ihnen den Optimismus, zu glauben, dass ein radikal vereinfachtes Steuergesetz auf absehbare Zeit wirklich durchsetzbar ist in Anbetracht unserer Gepflogenheiten hier mit enorm vielen Interessenverbänden, Steuerberatungsbüros, die alle prima davon leben, dass wir ein kompliziertes Steuerrecht haben.
Rüttgers: Wenn man weiß, dass über die Hälfte der Steuerberatungsliteratur, die es auf der Welt gibt, in Deutsch erschienen ist, dann weiß man, dass wir bei einem Zustand angelangt sind, wo die Leute das einfach nicht mehr akzeptieren. Und ich glaube an die Einsichtsfähigkeit auch derjenigen, die eigene Interessen wahrnehmen. Das muss kommen, weil wir sonst Probleme haben werden, das notwendige Wachstum zu bekommen, das zu Arbeit führt.
Wagener: Wie ärgerlich sind Sie über die Wahlkampfauftritte und Aussagen Edmund Stoibers, der sich in der Art und Weise, wie er Wahlkampf betreibt, doch sehr unterscheidet von Angela Merkel?
Rüttgers: Edmund Stoiber will, dass auch in Bayern Angela Merkel ein gutes Wahlergebnis bekommt. Wir wissen alle, dass in Bayern Klartext gesprochen wird. Wir sind uns aber einig, Angela Merkel, Edmund Stoiber und die anderen Ministerpräsidenten, dass wir Stimmen überall, in allen Teilen Deutschlands brauchen. Und so werden wir auch den Wahlkampf führen.
Wagener: Das scheint aber nicht ganz uneigennützig zu sein. Ist nicht seine Antriebsfeder eher, unbedingt die FDP überflügeln zu wollen, damit die CSU einen besseren Stand nach dem 18.9. hat, er vielleicht dann den Erstzugriff auf das Außenministerium hat?
Rüttgers: Jeder weiß, wir wollen eine Koalition CDU/CSU und FDP, aber wir wollen eine möglichst große Fraktion der CDU/CSU. Und auch dazu gehört eine möglichst starke CSU in Bayern. Insofern hat das auch etwas mit dem notwendigen Wettbewerb zu tun, der auch in einem solchen Wahlkampf zwischen verschiedenen Parteien eine Rolle spielt.
Wagener: Wettbewerb ist natürlich eine sehr schöne Begrifflichkeit, ein netter Ausdruck für das, was andere als handfeste Streitereien ausmachen zwischen CSU und FDP: Ist da schon viel Porzellan im Wahlkampf, gemeinsames, inhaltliches Porzellan, zerschlagen worden, Ihrer Meinung nach?
Rüttgers: Ich glaube nicht. Jede Partei kämpft um möglichst viele Stimmen. Und jeder in Deutschland weiß, dass wir das tun, um eine Koalition von CDU/CSU und FDP nach der Wahl zu bilden.
Wagener: Stichwort Soziales. Sie haben mal gesagt, wir dürfen das Soziale nicht vergessen. Ist das Ihre angestammte Rolle, hier aus dem größten Bundesland heraus frisch gewählt, sozusagen die Interessenvertretung für diesen Politikbereich zu übernehmen? Sie haben das dem Berliner TAGESSPIEGEL gegenüber vor einigen Tagen ja schon mit anderen Worten angekündigt. Wenn dem so ist, wie passt das dann dazu, dass insgesamt das Wahlprogramm doch starke Elemente aufweist, wo soziale Errungenschaften entweder nach unten korrigiert werden sollen oder sogar die Sozialsysteme geschleift werden sollen. Nennen wir mal das Stichwort Kündigungsschutz, Arbeitszeitverlängerung.
Rüttgers: Ich bin für eine Politik, die mehr Wachstum schafft, damit es auch wieder mehr Beschäftigung gibt und weniger Arbeitslosigkeit. Und das heißt im Klartext, dass wir dafür sorgen müssen, dass wirtschaftliche Vernunft in diesem Land wieder stärker Einkehr hält. Und das heißt übrigens, dass man auch das, was man mal für wichtig befunden hat, überprüft, ob es Arbeit schafft. Sie haben das Thema Kündigungsschutz angesprochen. Niemand, der heute eine Arbeitsstelle hat, wird seinen Kündigungsschutz verlieren. Aber darüber nachzudenken, ob die jetzigen Regelungen nicht eine Eingangsschwelle in den Arbeitsmarkt sind, das halte ich sogar für sozial erforderlich.
Wagener: Was, glauben Sie, ist bis jetzt beim Wähler inhaltlich aus Ihrem Wahlprogramm hängen geblieben?
Rüttgers: Wenn man die Kompetenzvermutungen aus den Umfragen betrachtet, dann sagen die Leute, die CDU hat eine höhere Kompetenz bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze und der entsprechenden Rahmenbedingungen, sie hat eine höhere Kompetenz beim Wirtschaftswachstum, eine höhere Kompetenz bei der Haushaltskonsolidierung und bei der Reform der sozialen Sicherungssysteme, also bei den zentralen Themen. Deshalb bin ich auch optimistisch, dass wir ein gutes Wahlergebnis bekommen werden.
Wagener: Herr Ministerpräsident, danke für das Gespräch.
Jürgen Rüttgers: Die Umfragen sind gut, da haben Sie recht. Aber ich warne vor Euphorie. Wahlen hat man am Wahlabend gewonnen, und bis dahin muss gekämpft werden, und zwar geschlossen gekämpft werden, gemeinsam gekämpft werden. Der Start dieses Wahlkampfes war vielleicht nicht ganz elegant, aber inzwischen sind die Anfangsschwierigkeiten überwunden. Wir haben uns entschieden, auch nicht auf die Strategie von Herrn Schröder reinzufallen, über alles und jedes zu diskutieren, TV-Duelle zu Fragen, die mehr der medialen Präsentation dienen, sondern uns um die zentralen Zukunftsfragen des Landes zu kümmern: Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, mehr Wachstum, Sicherheit auch im sozialen Bereich. Und Sie werden sehen, dass die gesamte Führung von CDU und CSU kämpfen wird, damit Angela Merkel Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland wird. Das ist wichtig, damit wir eine andere Politik bekommen und es im Land wieder aufwärts geht.
Wagener: Was aber noch zu fehlen scheint, ist die zentrale Zuspitzung auf ein oder zwei, vielleicht sogar drei Kernthemen. Ich will mal stellvertretend Roland Koch, stellvertretend für viele andere Stimmen aus der Union erwähnen, der jetzt eine Zuspitzung im Wahlkampf auf der Zielgeraden fordert. Er sagte, zwei, drei Wochen vorher muss die Zuspitzung kommen. Wir haben jetzt diesen zeitlichen Korridor erreicht. Mit was ist zu rechnen? Kriegen wir nochmal eine ganz spezifische Steuerdebatte oder eine Türkeidebatte, oder vielleicht etwa Diskussionen über die zukünftige Familienpolitik?
Rüttgers: Ich glaube, dass die Zuspitzung schon da ist. Wir erleben ja bei der SPD einen Links-Ruck unter dem Druck von Lafontaine und Gysi. Die Union wird sich mit dem Thema Wirtschaft und Beschäftigung, Arbeitsplätze und soziale Sicherheit auseinander setzen. Und die Berufung von Professor Kirchhof in das Kompetenz-Team hat ja auch die Debatte der letzten Tage schon stark geprägt.
Wagener: Edmund Stoiber fordert noch mehr und sagt: Wir brauchen unbedingt jetzt eine härtere Gangart. Er selbst praktiziert das ja schon seit längerem, was auch zum Disput innerhalb der Unions-Schwesternparteien geführt hat. Ist die härtere Gangart nicht trotzdem wirklich wichtig für das Finale vor dem 18. September - allein schon mit Blick auf die Mobilisierung?
Rüttgers: Die Unionsanhänger sind, wie alle Umfragen zeigen, jetzt schon - und das ist gut und richtig und auch sehr schön - zu einem Großteil mobilisiert. Dennoch muss gekämpft werden um jede Stimme. Deshalb sind wir uns auch einig, und wir haben das unter Leitung von Angela Merkel auch so diskutiert, dass wir es nicht akzeptieren werden, dass der Bundeskanzler und Rot-Grün so tut, als ob sie mit den desaströsen Ergebnissen einer verfehlten Wirtschaftspolitik fünf Millionen Arbeitslose, jeden Tag tausend Arbeitsplätze weniger, eine Pleitewelle und eine gigantische Verschuldung nichts zu tun haben. Das ist das Erbe von Rot-Grün. Da erleben wir ja im Moment schon die merkwürdige Wahlkampfsituation: Schröder greift die Union für die Vorschläge an, legt aber selbst keine Vorschläge mehr vor. Er tut so, als ob er schon Opposition ist, und die Union soll sich verantworten für die Ergebnisse seiner Arbeit. Das werden wir nicht akzeptieren. Das wird am deutlichsten dann auch für die Menschen, die sich auch nicht jeden Tag von morgens bis abends mit Politik beschäftigen, wenn man die Alternativen klar gegeneinander stellt. Und das ist damit gemeint, dass es auch ein Stück zugespitzt wird.
Wagener: Ihre Partei hält Rot-Grün die vermeintlichen Fehler der letzten Jahre im Wahlkampf vor. Nun sagt aber Ihr Parteifreund Kurt Biedenkopf: Es ist langweilig für den Wähler, wenn er das immer wieder vorgerechnet bekommt. Sollte man da nicht die eigenen Vorschläge stärker in den Mittelpunkt rücken?
Rüttgers: Das haben wir ja gemacht mit unserem Zukunftsprogramm, und das ist ja das, was ich gerade angesprochen habe: Schröders Äußerungen zu politischen Fragen sind immer Angriffe auf die Konzeptionen der Union, selber keine Ideen mehr haben, keine Konzeptionen mehr haben, und andere angreifen. So hat die SPD, so hat Schröder den Wahlkampf angelegt. Wir haben den Versuch gemacht, eine Strategie auch in diesem Bundestagswahlkampf zu fahren und werden sie auch fortführen, die ja schon in Nordrhein-Westfalen erfolgreich war, den Leuten vor der Wahl klar zu sagen, was nachher auf sie zukommt, auch wenn es unangenehm ist, auch wenn es um Opfer geht. Denken Sie an die Ankündigung der Mehrwertsteuererhöhung. Es hat zuerst eine kontroverse Debatte gegeben, inzwischen weiß jeder im Land, dass sie kommen wird. Sie würde übrigens auch kommen, wenn - was der Wähler verhüten möge - Rot-Grün die Chance bekäme, fortzuführen. Angesichts der Schuldenfalle, in der das Land sitzt und in die Rot-Grün das Land geführt hat, werden wir nur dann wieder zu mehr Wachstum kommen. Wir werden nur dann auch wieder zu höheren Steuereinnahmen kommen, wenn wir die großen Reformen bei der Steuer - ein einfacheres und gerechteres System einzuführen. Bei dem sozialen Sicherungssystem jetzt auch anpacken, dafür braucht man aber auch ein Stück Geld, und die Arbeitskosten müssen herunter, sonst gibt es keine neuen Arbeitsplätze. Deshalb ist die Mehrwertsteuererhöhung ja auch gedacht für die Absenkung der Arbeitslosenversicherung..
Wagener: Stichwort 'Mehrwertsteuer', 'Steuermodell nach Kirchhof' - da will ich gleich nochmal etwas näher drauf eingehen. Aber zunächst mal: Das, was Angela Merkel von Ihnen nach dem 22. Mai hier in Nordrhein-Westfalen lernen könnte, ist das, dass man auch auf Samtpfoten - oder vor allem auf Samtpfoten - an die Macht kommen kann, also der ganz andere Stil, den Edmund Stoiber seit Wochen praktiziert im Wahlkampf?
Rüttgers: Wir haben hier in Nordrhein-Westfalen vor der Wahl klar gesagt, was wir tun werden. Und die hohe Zustimmung, das Vertrauen, das die neue Landesregierung jetzt hat, hat nach meiner festen Überzeugung und Einschätzung damit zu tun, dass wir jetzt genau auch das tun, was wir vorher gesagt haben. Übrigens ist das ein ganz interessanter Vorgang, dass es für die Leute schon wieder etwas Überraschendes ist, wenn Politiker nach der Wahl das tun, was sie vor der Wahl gesagt haben. Ich glaube aber, dass das richtig ist. Die Zeit der medialen Inszenierungen, da war Schröder ja ein Meister, ist vorbei. Die Leute können es nicht mehr sehen, die Leute können es nicht mehr hören. Sie wollen wissen, wie es weitergeht, weil sie auch das Gespür haben, dass die Zeiten eines Spaß-Wahlkampfes vorbei sind und nicht mehr angemessen sind. Ich habe vor der Landtagswahl angekündigt, dass wir Studiengebühren einführen, dass wir die Steinkohle-Subventionen halbieren, dass wir die Leistungsgesetze und die Förderprogramme um bis zu 20 Prozent zurückführen werden - dass jeder das merken wird, dass das Opfer kosten wird. Viele haben mir davon abgeraten. Die Tatsache, dass wir fast 44,8 Prozent bekommen haben und damit ein historisches Wahlergebnis bekommen haben, hat damit zu tun nach meiner festen Überzeugung. Deshalb finde ich es richtig, dass die Union jetzt im Bundestagswahlkampf das selbe macht. Und wer in Nordrhein Westfalen fast 45 Prozent gewinnen kann, der kann auch die Bundestagswahl gewinnen.
Wagener: Also, die bittere Medizin vorab scheint, wenn man nur auf das Wahlergebnis schaut, angekommen zu sein. Sie haben am 22. Mai vor allen Dingen den Durchbruch geschafft bei der unteren Mittelschicht - klassisches SPD-Wählerreservoir, vor allen Dingen bei der städtischen Arbeiterschaft. Sind das Erwartungen, die Sie auch im Bund hegen am 18. 9., oder sind dort die soziologischen Voraussetzungen doch andere als hier im Westen?
Rüttgers: Ich glaube, dass die Union klug beraten ist, auch da Volkspartei zu sein und zu bleiben. Wir brauchen Stimmen aus allen Bevölkerungsgruppen und wir brauchen sie überall aus Deutschland. Es ist völlig falsch, den Versuch zu machen, da das eine gegen das andere auszuspielen. Das bedeutet konkret: Man muss eine Politik machen, die wirtschaftlich vernünftig ist und gleichzeitig gerecht. Sonst wird man das Vertrauen der Menschen nicht bekommen. Deshalb finde ich es ja auch wichtig, dass wir in diesem Wahlkampf eine Debatte darüber führen, dass wir die soziale Marktwirtschaft wiederbeleben wollen, dass wir zurück wollen zu einer ökonomischen Ordnungspolitik, dass wir die aber ergänzen um eine soziale Ordnungspolitik. Es passt zum Beispiel nicht zu einer solchen sozialen Ordnungspolitik, wenn ich bei Hartz IV hingehe und zahle demjenigen, der 30 Jahre in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt hat, im Falle der Arbeitslosigkeit das selbe wie jemand, der noch nie etwas einbezahlt hat. Das widerspricht jeglichem Gerechtigkeitsgefühl und war deshalb ein Fehler. Das muss auch nach der Bundestagswahl korrigiert werden.
Wagener: In Ihrem Kabinett hier in Düsseldorf sitzt Karl-Josef Laumann als Arbeits- und Sozialminister. Er ist der Vorsitzende des Arbeitnehmer-Flügels. Wäre das sozusagen Ihre maßgeschneiderte Position nach einer gewonnenen Bundestagswahl, dass dieser soziale Impuls in einer möglicherweise neuen schwarz-gelben Regierungskoalition in Berlin aus Nordrhein-Westfalen kommt?
Rüttgers: Sozial ist, was Arbeit schafft. Und wir werden als nordrhein-westfälische CDU darauf achten, dass wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit zwei Seiten einer Medaille sind und bleiben.
Wagener: Nehmen wir einmal an, Angela Merkel obsiegt am 18.9., wie muss man sich denn dann die Konstellation im Bundesrat oder die Konstellation zwischen ihr als Kanzlerin und der großen CDU-Mehrheit im Bundesrat vorstellen. Die prominenten CDUler sitzen als Landesfürsten dann mit im Bundesrat. Diese Landesfürsten zeichnen sich bis jetzt nicht gerade dadurch aus, dass sie offensiv ihr zur Seite springen, wenn sie in Not gerät.
Rüttgers: Wir kämpfen alle für den gemeinsamen Wahlsieg. Und ich sage das ausdrücklich für die nordrhein-westfälische CDU und auch mich persönlich, dass wir nicht nur in der Vergangenheit Angela Merkel unterstützt haben sondern das auch tun werden, wenn sie Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland ist. Die CDU ist eine föderale Partei. Wir sind eine Partei, die von der Gründung her nie einen Einheitsstaat wollte. Und das wird es auch nach einer Regierungsübernahme nicht geben. Der Föderalismus ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Machtverteilung ein kluges und erfolgreiches Konzept, sondern er ist auch ein ökonomisch zukunftsweisendes Konzept. Länder, die zentralstaatlich ausgerichtet sind, sind ökonomisch nicht erfolgreicher, sondern im Zeitalter der Globalisierung muss man verstehen, dass die Menschen nicht global leben. Ein Leben, das davon ausgeht, dass man heute hier und morgen da lebt, ist kein erfülltes und menschliches Leben, sondern es braucht immer ein Widerlager in der Region oder in der eigenen Heimat.
Wagener: Sie haben jetzt ein wenig eine andere Antwort gegeben auf den Kernpunkt meiner Frage. Es täuscht ja nicht, dass Angela Merkel in den letzten Wochen und Monaten oftmals ein wenig alleine da stand. Ich will Sie mal konfrontieren mit einigen Presseschlagzeilen, zum Beispiel: 'Merkel bemüht sich vergeblich um Geschlossenheit' oder 'Merkel bremst Kirchhof aus' oder 'Team ohne Teamgeist'. Das kann ja jetzt nicht irgendwie eine einseitige Sichtweise einiger Pressevertreter sein. Es scheint so zu sein, dass sozusagen die ganz große Geschlossenheit auf der oberen Ebene noch nicht, sagen wir mal, vorhanden ist.
Rüttgers: Ich sehe das anders. Das waren Anfangsschwierigkeiten. Die sind überwunden und es gibt jetzt den notwendigen Korpsgeist und die notwendige Geschlossenheit, um die Bundestagswahl zu gewinnen.
Wagener: Bei der Aufstellung des Wahlkampfteams von Angela Merkel, sagen manche zumindest, war das Kriterium der Loyalität ein gewichtigeres als das der Prominenz oder Kompetenz. Würden Sie dem zustimmen?
Rüttgers: Loyalität ist etwas Gutes, Kompetenz ist in diesem Team in reichem Maße vorhanden. Die Umfragen zeigen, dass die Leute dem Kompetenzteam der Union mehr zutrauen als dem gesamten jetzigen Bundeskabinett.
Wagener: Stichwort Mehrwertsteuererhöhung. Sie sagten eingangs schon: Unumgänglich, sie wird kommen, egal unter welcher politischen Konstellation. Ein Plakat bei der SPD ist ein besonderer Renner in diesem Wahlkampf. Das lautet sinngemäß so: Mehrwertsteuererhöhung gleich Merkel-Steuer. Es ist ein Renner im SPD-Sortiment. Ist das nicht ein gefährliches Wahlvorhaben, an der Urne gleich mit einer neuen Erhöhung ins Rennen zu gehen?
Rüttgers: Im Anfang war das schwierig. Viele Wahlforscher und Werbeberater haben auch davon abgeraten. Die Strategie der Ehrlichkeit zahlt sich aus. Inzwischen ist das auch gar kein Thema mehr, und wenn die SPD das weiter klebt, dann geht sie an der eigenen Befindlichkeit ihrer Mitglieder vorbei. Die Leute diskutieren in diesem Wahlkampf das Thema Mehrwertsteuer kaum noch. Ich war inzwischen in vielen Teilen Deutschlands im Wahlkampf. Es ist nicht mehr das zentrale Thema. 80 Prozent der Leute gehen sowieso davon aus, dass das in der nächsten Legislaturperiode gekommen wäre. Das heißt, die SPD hat mit dieser Strategie den großen Fehler gemacht, dass sie ihre eigene Glaubwürdigkeit erschüttert hat, vor allen Dingen, wenn man bedenkt, dass so prominente SPD-Leute wie der ehemalige Ministerpräsident Steinbrück aus Nordrhein-Westfalen selber davon gesprochen hat. Und es gibt ja noch eine ganze Reihe aus den Führungskreisen der SPD, die sich ähnlich geäußert haben. Ich halte das, was die SPD da macht, für einen Wahlkampffehler zentraler Art.
Wagener: Aber in der Sache haben Sie auch einige Zeit gebraucht, darüber nachzudenken, soll man das machen, wie soll man das machen, wie soll man das vielleicht flankieren, wann soll man das machen. Jetzt im nachhinein: Wie erklären Sie sich Ihren Schwenk, durch was war er begründet? Sie waren erst klar dagegen, dann dafür.
Rüttgers: Ich war skeptisch, ich bin immer noch skeptisch. Das ist aber nicht eine Frage, die mit dem Wahlkampf und mit taktischen Überlegungen zu tun hat, sondern wer mit Wirtschaftsfachleuten diskutiert, weiß, dass eine Mehrwertsteuererhöhung, wenn man es falsch macht, dazu führen kann, dass Arbeitsplätze gefährdet werden. Das wollte ich verhindern. Wenn man so etwas macht, dann kann man die Gefahr minimieren, indem man das Geld braucht, um die Lohnzusatzkosten zu senken und in neue Arbeitsplätze zu investieren. Das ist inzwischen auch Grundlage des Wahlprogramms und der entsprechenden Aussage der Union. Insofern kann ich mit der Beschlusslage jetzt leben. Das muss aber dann auch genau so umgesetzt werden.
Wagener: Sie haben das Stichwort Ehrlichkeit jetzt schon zweimal ins Felde geführt. Wenn wir dieses Mal vor dem Hintergrund des Kirchhof-Steuermodells noch mal neu diskutieren, das wäre ja ein sehr radikaler Abschied von diversen, zahlreichen Steuerprivilegien. Ist es nicht unehrlich, dem Wähler etwas anzukündigen, was abzuschaffen sehr, sehr schwierig ist, eigentlich fast aussichtslos erscheint?
Rüttgers: Ich schätze das anders ein. Wir brauchen ein einfacheres Steuersystem. Das einfache Steuersystem ist auch das gerechte Steuersystem, gerade auch für die Normalverdiener, die sich ja nicht die großen Steuerberatungsbüros leisten können, die jede Ausnahmevorschrift dann auch kennen und nutzen. Paul Kirchhof hat eine Diskussion mit seinem Steuermodell angestoßen, die eine unglaubliche Chance beinhaltet. Wir haben sie als Union aufgenommen, schon vor seiner Berufung. Er selber sagt, dass das, was im CDU-Zukunftsprogramm steht, etwa 70 Prozent seiner Vorstellungen sind. Das heißt, das wird jetzt nach der Wahl umgesetzt und dann sind wir schon einen ganzen Schritt weiter.
Wagener: Das heißt, man muss das Modell Kirchhof so verstehen, dass erst mal das Wahlprogramm, das dreistufige Steuermodell, gilt und dass das Kirchhof-Modell sozusagen eine Anschlussvariante sein könnte?
Rüttgers: So hat Kirchhof das ja selber gesagt, dass man dann sehen muss, wie weit man gekommen ist und dann gegebenenfalls Schritt für Schritt voran geht. Ich glaube, das kann man an einem kleinen Beispiel deutlich machen. Wenn am 18 September ein neuer Bundestag gewählt wird, dann wird es ja ein paar Wochen dauern, bis die Koalitionsverhandlungen zu Ende sind, die Kanzlerin gewählt ist, ein neues Kabinett gebildet ist, die Regierungserklärung gemacht wird. Schauen Sie, alleine daraus ergibt sich schon, dass bis zum 1. Januar eine so große Steuerreform nicht beschlossen werden kann und schon gar nicht umgesetzt werden kann. Denken Sie an all die Formulare und Durchführungsverordnungen, die für so etwas erforderlich sind. Wir wollen aber ja nicht einfach bis zum 1.1.2007, muss ich sagen, also ein Jahr wird man dann brauchen, um so etwas zu machen - aber wir wollen ja jetzt schon zum Beginn des neuen Jahres etwas tun für mehr Arbeitsplätze, und so ist ja auch das Zukunftsprogramm konzipiert, dass man dann schon mit ersten Schritten beginnen kann, um möglichst Wachstumsimpulse zu geben. Alleine das zeigt, dass es ein Unterschied ist, ob Sie wissenschaftlich eine Konzeption als Gesamtkonzeption vorstellen oder ob Sie sie politisch in mehreren Schritten umsetzen.
Wagener: Was gibt Ihnen den Optimismus, zu glauben, dass ein radikal vereinfachtes Steuergesetz auf absehbare Zeit wirklich durchsetzbar ist in Anbetracht unserer Gepflogenheiten hier mit enorm vielen Interessenverbänden, Steuerberatungsbüros, die alle prima davon leben, dass wir ein kompliziertes Steuerrecht haben.
Rüttgers: Wenn man weiß, dass über die Hälfte der Steuerberatungsliteratur, die es auf der Welt gibt, in Deutsch erschienen ist, dann weiß man, dass wir bei einem Zustand angelangt sind, wo die Leute das einfach nicht mehr akzeptieren. Und ich glaube an die Einsichtsfähigkeit auch derjenigen, die eigene Interessen wahrnehmen. Das muss kommen, weil wir sonst Probleme haben werden, das notwendige Wachstum zu bekommen, das zu Arbeit führt.
Wagener: Wie ärgerlich sind Sie über die Wahlkampfauftritte und Aussagen Edmund Stoibers, der sich in der Art und Weise, wie er Wahlkampf betreibt, doch sehr unterscheidet von Angela Merkel?
Rüttgers: Edmund Stoiber will, dass auch in Bayern Angela Merkel ein gutes Wahlergebnis bekommt. Wir wissen alle, dass in Bayern Klartext gesprochen wird. Wir sind uns aber einig, Angela Merkel, Edmund Stoiber und die anderen Ministerpräsidenten, dass wir Stimmen überall, in allen Teilen Deutschlands brauchen. Und so werden wir auch den Wahlkampf führen.
Wagener: Das scheint aber nicht ganz uneigennützig zu sein. Ist nicht seine Antriebsfeder eher, unbedingt die FDP überflügeln zu wollen, damit die CSU einen besseren Stand nach dem 18.9. hat, er vielleicht dann den Erstzugriff auf das Außenministerium hat?
Rüttgers: Jeder weiß, wir wollen eine Koalition CDU/CSU und FDP, aber wir wollen eine möglichst große Fraktion der CDU/CSU. Und auch dazu gehört eine möglichst starke CSU in Bayern. Insofern hat das auch etwas mit dem notwendigen Wettbewerb zu tun, der auch in einem solchen Wahlkampf zwischen verschiedenen Parteien eine Rolle spielt.
Wagener: Wettbewerb ist natürlich eine sehr schöne Begrifflichkeit, ein netter Ausdruck für das, was andere als handfeste Streitereien ausmachen zwischen CSU und FDP: Ist da schon viel Porzellan im Wahlkampf, gemeinsames, inhaltliches Porzellan, zerschlagen worden, Ihrer Meinung nach?
Rüttgers: Ich glaube nicht. Jede Partei kämpft um möglichst viele Stimmen. Und jeder in Deutschland weiß, dass wir das tun, um eine Koalition von CDU/CSU und FDP nach der Wahl zu bilden.
Wagener: Stichwort Soziales. Sie haben mal gesagt, wir dürfen das Soziale nicht vergessen. Ist das Ihre angestammte Rolle, hier aus dem größten Bundesland heraus frisch gewählt, sozusagen die Interessenvertretung für diesen Politikbereich zu übernehmen? Sie haben das dem Berliner TAGESSPIEGEL gegenüber vor einigen Tagen ja schon mit anderen Worten angekündigt. Wenn dem so ist, wie passt das dann dazu, dass insgesamt das Wahlprogramm doch starke Elemente aufweist, wo soziale Errungenschaften entweder nach unten korrigiert werden sollen oder sogar die Sozialsysteme geschleift werden sollen. Nennen wir mal das Stichwort Kündigungsschutz, Arbeitszeitverlängerung.
Rüttgers: Ich bin für eine Politik, die mehr Wachstum schafft, damit es auch wieder mehr Beschäftigung gibt und weniger Arbeitslosigkeit. Und das heißt im Klartext, dass wir dafür sorgen müssen, dass wirtschaftliche Vernunft in diesem Land wieder stärker Einkehr hält. Und das heißt übrigens, dass man auch das, was man mal für wichtig befunden hat, überprüft, ob es Arbeit schafft. Sie haben das Thema Kündigungsschutz angesprochen. Niemand, der heute eine Arbeitsstelle hat, wird seinen Kündigungsschutz verlieren. Aber darüber nachzudenken, ob die jetzigen Regelungen nicht eine Eingangsschwelle in den Arbeitsmarkt sind, das halte ich sogar für sozial erforderlich.
Wagener: Was, glauben Sie, ist bis jetzt beim Wähler inhaltlich aus Ihrem Wahlprogramm hängen geblieben?
Rüttgers: Wenn man die Kompetenzvermutungen aus den Umfragen betrachtet, dann sagen die Leute, die CDU hat eine höhere Kompetenz bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze und der entsprechenden Rahmenbedingungen, sie hat eine höhere Kompetenz beim Wirtschaftswachstum, eine höhere Kompetenz bei der Haushaltskonsolidierung und bei der Reform der sozialen Sicherungssysteme, also bei den zentralen Themen. Deshalb bin ich auch optimistisch, dass wir ein gutes Wahlergebnis bekommen werden.
Wagener: Herr Ministerpräsident, danke für das Gespräch.