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Die Suche nach dem historischen Franziskus

Nach seiner Wahl zum Papst hat sich Jorge Mario Bergoglio erstmals in der Kirchengeschichte für den Papstnamen Franziskus entschieden. Franziskus von Assisi gehört zu den populärsten Heiligen der römisch-katholischen Kirche und wird darüber hinaus auch in den anderen christlichen Konfessionen als eine der bedeutendsten Gestalten des Christentums verehrt.

Von Rüdiger Achenbach | 18.03.2013
    Nachdem über Jahrhunderte durch zahlreiche Legenden ein teilweise kitschiges Franziskusbild vermittelt wurde, hat die Franziskusforschung im 19. und 20. Jahrhundert viele neue Erkenntnisse über den Mann aus Assisi und seine religiöse Bewegung in Erfahrung gebracht.

    "Dem ehrwürdigen Vater in Christus, Bruder Crescentius durch Gottes Gnade Generalminister, entbieten Bruder Leo, Bruder Rufinus und Bruder Angelus einst Gefährten unseres hochseligen Vaters Franziskus, ergebene Hochachtung."

    Mit diesen Worten beginnt ein Brief, der am 11. August 1246 in der mittel-italienischen Stadt Greccio von drei Franziskanerbrüdern unterzeichnet wurde.

    "Auf Befehl des letzten Generalkapitels und auch auf Euren eigenen Befehl sind die Brüder verpflichtet, Zeichen und Wundertaten des hochseligen Franziskus Eurer Paternität zu berichten. Wir, die längere Zeit mit ihm zusammenlebten, hielten es daher für gut, einige von seinen vielen Taten Eurer Heiligkeit mitzuteilen. Diese Taten haben wir mit eigenen Augen gesehen oder von anderen Brüdern erfahren."

    Mit diesem Schreiben schickten die drei ihrem Generalminister Crescentius von Jesi die sogenannte "Dreigefährtenlegende", mit Berichten über das Leben und Wirken des Franziskus von Assisi.

    Der Brief und das beiliegende Manuskript waren die Antwort auf einen Aufruf, den Crescentius, der Generalminister der Franziskaner, zwei Jahre zuvor an alle Brüder geschickt hatte. Darin hatte er aufgefordert, alle Aussprüche und Ereignisse von Franziskus zu sammeln und an ihn zu schicken. Es gab zwar bereits eine Vita des Franziskus, die der Franziskanerbruder Thomas von Celano im Auftrag von Papst Gregor IX. geschrieben hatte. Doch inzwischen war deutlich geworden, dass in Celanos Legende noch so manches Berichtenswerte über Franziskus fehlte.

    Die Dreigefährtenlegende stand von Anfang an in einem besonderen Ansehen, da Bruder Leo, der Sekretär und Beichtvater des Franziskus, einer der drei Mitverfasser war. Aus diesem Grund gab Crescentius von Jesi nun Thomas von Celano den Auftrag, noch einmal eine Vita des Franziskus zu schreiben, in der er die Dreigefährtenlegende und alle anderen neu eingegangenen Informationen aufarbeiten sollte.

    Da inzwischen Papst Gregor IX verstorben war, der die erste Vita über Franziskus bei Thomas von Celano in Auftrag gegeben hatte, konnte Bruder Thomas jetzt frei vom Einfluss aus Rom seiner zweiten Franziskus-Vita eine zum Teil völlig neue inhaltliche Prägung geben.

    Zu diesem Zeitpunkt begannen aber auch andere Brüder, ohne offiziellen Auftrag, ihre eigene Franziskuslegende zu schreiben. Auffällig war, dass die Franziskus-Darstellungen nun auch immer stärker voneinander abwichen. Schon zu Lebzeiten des Franziskus hatte es verschiedene Strömungen in der Gemeinschaft gegeben, von denen nun jede bemüht war, Franziskus auf ihre Seite zu ziehen und sein Wirken in ihrem Sinne zu interpretieren. Das schlug sich nun in den zahlreichen Legenden nieder, die inzwischen in den Ordenshäusern der Franziskaner in Umlauf waren.

    Helmut Feld, Professor für Historische Theologie am Institut für europäische Geschichte in Mainz:

    "Im Gegensatz zu 'offiziellen' Franziskus-Biografien enthalten die nicht-offiziellen Legenden viele wertvolle Erinnerungen der Gefährten des Franziskus an dessen Persönlichkeit und die ursprüngliche Gestalt der franziskanischen Bruderschaft. Mit der Betonung des Wertes, der in den nicht-offiziellen Legenden enthaltenen Traditionen gegenüber offiziellen Lebensbeschreibungen soll keineswegs bestritten werden, dass auch die Erinnerungen der Gefährten des Franziskus tendenziös sind."

    Die inoffiziellen Biografien stammen zu einem großen Teil von den Brüdern, die die Entwicklung des Ordens kritisieren. Dabei handelt es sich um die radikale Fraktion unter den Franziskanern, die mehr Distanz zur Kurie in Rom wollten.

    Diese sogenannten "Spiritualen" vertreten auch weiterhin die konsequente Armutsforderung des Franziskus, die von der anderen Fraktion, also den gemäßigten Franziskanern, den sogenannten "Konventualen", abgemildert worden war.

    Veit Jakobus Dietrich, Professor an der Fakultät für evangelische Theologie an der Universität Hohenheim:

    "Beide Sichtweisen, die der offiziellen wie die der oppositionellen Gruppe, verfolgen somit ein bestimmtes Interesse. Sie versuchen, mit der Autorität des Franziskus ihre Position zu stärken. Manche Erzählungen werfen demnach eher Licht auf die Auseinandersetzungen im Orden als auf die historische Gestalt des Franziskus."

    Stärker durchsetzen konnte sich aber schon bald die gemäßigte Fraktion der "Konventualen", die von Anfang an auch eine enge Bindung an die Kurie in Rom suchte.

    Im Auftrag dieser Gruppe verfasste der Generalminister Bonaventura dann in den 60er-Jahren des 13. Jahrhunderts – also etwa eine Generation nach Franziskus – eine große und ein kleine Franziskuslegende, die vom Generalkapitel des Ordens in Paris 1266 zu den einzigen legitimen und geduldeten Lebensbeschreibungen des Franziskus erklärt wurden. Alle älteren Legenden mussten jetzt vernichtet werden. Das galt auch für die beiden offiziellen Legenden, die Thomas von Celano vorher im Auftrag des Papstes und des Ordens verfasst hatte. Von nun an prägte Bonaventuras Darstellung des Franziskus für Jahrhunderte das offizielle Bild von Franziskus. Der französische Mediävist Jacques Le Goff:

    "Die Anforderungen der modernen Geschichtswissenschaft revidierten dann dieses traditionelle Bild des Heiligen und haben Ende des 19. Jahrhunderts erstmals das verstümmelte, zurechtgeschminkte und süßliche Bild korrigiert, das Bonaventura von Franziskus gezeichnet hatte."

    Dies war vor allem deshalb möglich, weil die Aufforderung von 1266, alle anderen Franziskuslegenden zu vernichten, glücklicherweise nicht überall befolgt worden war. Auch Bruder Leo, der Sekretär und langjährige Gefährte von Franziskus, soll sich der Vernichtungskampagne widersetzt haben.

    Der evangelische Theologe und Franziskus-Biograf Klaus Reblin:

    "Dass sich dennoch viele andere Legenden erhalten haben, verdanken wir mutigen Brüdern, die ihre Aufzeichnungen noch rechtzeitig vor der Vernichtung in die Klöster mutiger Frauen gebracht haben. Von Bruder Leo wird erzählt, dass er jahrelang Abend für Abend von Santa Maria degli Angeli unterhalb von Assisi nach San Damiano lief, um das, was er tagsüber aus der Erinnerung aufgeschrieben hatte, bei den Schwestern der heiligen Klara in Sicherheit zu bringen."

    So konnte die Franziskusforschung, die vor allem mit dem französischen Theologen Paul Sabatier in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann, im Laufe der Zeit zahlreiche schriftliche Quellen und auch einige authentische Schriften von Franziskus selbst wieder auffinden. In fast allen Fällen waren sie sorgfältig in Klöstern aufbewahrt worden. Helmut Feld:

    "Alter, gegenseitige Abhängigkeit, historische Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit der einzelnen Lebensbeschreibungen sind Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, die unter der Bezeichnung 'Franziskanische Frage' in die Geschichte der Forschung eingegangen und bis heute nicht abgeschlossen sind."

    Auch das genaue Geburtsjahr des Franziskus von Assisi ist unbekannt. Die Franziskusforscher sind bis heute uneinig darüber, ob er nun 1181 oder 1182 geboren wurde. Für welches Jahr man sich entscheidet, hängt dabei davon ab, aus welchem Teil Italiens der Verfasser einer schriftlichen Quelle stammte. Denn die Jahreszählung war damals in Italien sehr unterschiedlich. Während zum Beispiel in Venedig der Jahresanfang am 25. Dezember war, begann das Jahr in Mittelitalien am 25. März und in Süditalien am 1. September.

    Auf jeden Fall fällt das Geburtsjahr des Franziskus in die Regierungszeit des Stauferkaisers Barbarossa. Als dessen Sohn und Nachfolger, Kaiser Heinrich VI., dann 1197 starb, gerieten die politischen Kräfteverhältnisse in Italien durcheinander, weil der Erbe Heinrichs, Friedrich Roger, der spätere Kaiser Friedrich II., noch ein Kind war und unter die Vormundschaft von Papst Innozenz III. geriet.

    Ulrich Köpf, Professor für Kirchengeschichte an der Fakultät für evangelische Theologie der Universität Tübingen:

    "Als Franziskus zur Welt kam, lag in der Rocca, der Burg auf der Höhe des Stadthügels von Assisi, eine deutsche Besatzung unter dem schwäbischen Ritter Konrad von Irslingen als Stadtherrn. Nach dem Tode Heinrich VI. brach die Herrschaft der Staufer in Mittelitalien zusammen. Papst Innozenz III. konnte sich um die Wiedererrichtung eines ausgedehnten Kirchenstaates bemühen. Bevor sie ihre Stadt aber dem Papst auslieferten, zerstörten die Bürger von Assisi die Rocca und bauten mit ihren Steinen die Stadtbefestigung weiter aus. Bereits 1205 trat die Stadt dann wieder auf die Seite der Staufer. 1220 stand sie dann erneut unter päpstlicher Herrschaft."

    Franziskus wuchs in einer politisch bewegten Zeit in einem wohlhabenden Elternhaus behütet auf. Er war der älteste Sohn des reichen Tuchhändlers Pietro di Bernadone, der sich sehr häufig geschäftlich in Südfrankreich aufhielt, woher vermutlich auch Franziskus' Mutter, Donna Pica, stammte. Getauft war er auf den Namen Giovanni Battista, also Johannes Baptist, aber schon früh erhielt er von seinem Vater den Beinamen "Francesco", was Franzose bedeutet, den er auch später beibehielt. Helmut Feld:

    "Es kann als sicher gelten, dass er anhand des Psalters die lateinische Sprache lesen und schreiben lernte. Er lernte auch die damals aus Frankreich kommenden ritterlichen Dichtungen und Erzählungen kennen, wie das Rolandslied und die Artus- und Gralssage."

    Veit Jakobus Dieterich:

    "Die beiden Fremdsprachen Lateinisch und Französisch beherrschte er jedoch nicht perfekt. Lesen und Schreiben fielen ihm niemals leicht. Später diktierte er meist seine Briefe und andere Schriften. Gern bezeichnete er sich denn auch als einen Ungebildeten. Doch wollte er mit diesem Begriff vielleicht ausdrücken, dass er ein Laie und keine studierter Kleriker war."

    Übereinstimmend sprechen die Legenden davon, dass Franziskus als junger Mann den aufwendigen Lebensstil eines verwöhnten Sohnes reicher Eltern pflegte. Jacques Le Goff:

    "Der junge Mann verbrachte seine Zeit mit den üblichen Vergnügungen seines Standes, mit Nichtstun, Klatsch, Liedern und Mode, aber nichts darüber hinaus. Er strebte die Rolle eines Anführers der 'jeunesse doreé' an. Er war – und daran ist nicht zu zweifeln - vor allem ein gewaltiger Verschwender."

    Außerdem fiel Franziskus schon früh dadurch auf, dass er gern in die Rolle eines Schauspielers schlüpfte und Ereignisse, die um ihn herum geschahen, nachspielte. Klaus Reblin:

    "Franziskus muss schon in seiner Jugend ungewöhnlich sensibel und außerordentlich fantasievoll gewesen sein. Alles, was er liest oder hört, die Geschichten von Karl dem Großen etwa oder von König Artus und seiner Tafelrunde, verwandelt sich für ihn sogleich in Bilder. Und zu der intensiven Aufnahmefähigkeit kommt sein darstellerisches, schauspielerisches Talent, das ihn später in die Lage versetzt, alles, was er denkt, in symbolische Handlungen umzusetzen."

    Franziskus Vorliebe für Ritterromane ließ in ihm aber auch immer stärker den Wunsch aufleben, selbst in den Ritterstand erhoben zu werden. Deshalb trainierte er den Umgang mit Waffen und beteiligte sich als 20-Jähriger mit Begeisterung an dem Städtekrieg zwischen Assisi und seiner mächtigen Rivalin Perugia.

    Hoch zu Pferde, wie ein Ritter, nimmt Franziskus an diesem Krieg teil. Aber er hat dann auch die Niederlage Assisis in dieser Schlacht erlebt und ist in Gefangenschaft geraten, aus der er erst nach einem Jahr wieder freigelassen wird.

    Im Anschluss an diese Zeit im Kerker in Perugia ist er krank geworden. Es wird berichtet, dass er nach seiner Rückkehr nach Assisi ein Jahr lang das Bett hüten musste. Es ist aber nicht überliefert, um welche Krankheit es sich dabei handelte. Veit Jakobus Dieterich:

    "Die Franziskus-Legenden erzählen von einer tiefen körperlichen, seelischen und geistigen Krise nach seiner Rückkehr."

    Sobald er sich wieder gesund fühlte, verfolgte er sofort wieder seinen Plan, zum Ritter geschlagen zu werden. Deshalb schloss er sich einem Adeligen aus Assisi an, der nach Apulien zog, um dort mit den Truppen des Papstes gegen Anhänger der Staufer zu kämpfen. Franziskus hoffte, für seine Dienste in diesem Kampf endlich den Ritterschlag zu erhalten. Veit Jakobus Dieterich:

    "Anschaulich erzählt eine alte Legende von einem Traum, in dem Franziskus einen Palast voller Waffen und Ritter sah. Franziskus habe diesen Traum mit den Worten kommentiert: Ich weiß, dass ich noch ein großer Fürst sein werde."

    Doch schon bald sollte sich zeigen, dass für Franziskus alles ganz anders kommen sollte.