Freitag, 29. März 2024

Archiv


Die Suche nach dem Punkt

Ein Mann, eine Frau und die Suche nach einem Weltgebäude, in dem beide ihren Platz finden, in dem die Welt einen Platz findet. Angela Krauß webt in ihrem neuen Roman "Im schönsten Fall" reale und imaginäre Reisen, Realitätspartikel in die biografischen Erinnerungen der Erzählerin.

Von Joachim Büthe | 20.07.2011
    Im schönsten Fall ist die Erde rund. Das heißt, sie wurde aus einem Punkt geboren! So steht es in diesem Buch, auf Seite 68, und vielleicht ist das die Bewegung, die in diesem Buch beschrieben wird, die Suche nach dem Punkt, aus dem die Erde entstanden sein könnte oder von dem aus sie zumindest betrachtet werden kann. Das klingt wie die Suche nach der Weltformel, ein vermessenes Unterfangen, dem aber ein jeder ausgesetzt ist, denn wir alle bauen an unserem jeweiligen Weltgebäude, in dem wir uns einrichten können. Dieses Bemühen führt zu so vielen Weltgebäuden, dass man um die Statik der realen Häuser, in denen wir leben, bangen muss. Können die verschiedenen Weltgebäude koexistieren?

    "Das ist die Frage, die ich mir stelle, sobald ich aufgestanden bin, und sie lässt auch nicht nach in ihrer Dringlichkeit, wenn ich ins Bett gehe. Ich weiß nicht, wo im Universum der Punkt ist, von dem aus gesehen das Ganze ein Ganzes ergibt. Hier ist er jedenfalls nicht. Wir sind offenbar dazu aufgerufen, uns lebenslang damit abzumühen, das Ganze als im kleinsten Sinne kohärent zu empfinden, denn sonst könnte man ja gar nicht leben geschweige denn auf ein Ziel zugehen oder auch nur an eins glauben. So baut jeder an seinem Eigenen und sieht zu, dass er mit dem Nachbarn nicht anstößt."

    Aber zur Kenntnis nehmen muss man sie schon, die nachbarlichen Weltgebäude, und wenigstens versuchen zu verstehen, nach welchem Bauplan sie errichtet werden. In dem gemauerten Haus, in dem die Erzählerin wohnt, lebt zum Beispiel auch Fleur, deren Biografie in ihrer Schuhsammlung gut erkennbar versteckt zu sein scheint. Ein Vorgang, den man vermutlich nicht wirklich verstehen kann, aber es ist möglich zu fühlen, dass er offenbar funktioniert.

    "Ich glaube das ist der schöne, förderliche Wahn, in dem wir leben. (Krachender Donner) Sehen Sie? Das gehört auch dazu. Wir brauchen diesen förderlichen Wahn, dass wir irgendetwas vom Weltgebäude des anderen erkennen können, dass wir eine Sprache miteinander sprechen. Das ist natürlich in Wirklichkeit überhaupt nicht so. Ich weiß es auch nicht, wie es einem gelingt, diesen Wahn aufrecht zu erhalten. Wahrscheinlich nur, indem man die Ansprüche nicht so hoch wachsen lässt, des gegenseitigen Verständnisses. In Wirklichkeit kommen wir in das Gebäude des anderen nicht hinein. Aber wir bauen trotzdem Städte, mehr als das!"

    Und wir schreiben Bücher, denn jemand muss das zusammenhalten, das Ganze im Auge behalten in dieser beschleunigten, sich immer mehr digitalisierenden Welt. Es ist ein hoher Anspruch, den Angela Krauß an sich stellt. Mit einer kohärenten, linearen Erzählung ist ihm nicht mehr beizukommen. So vermischen sich reale und imaginäre Reisen, Realitätspartikel und -splitter werden eingewoben in die biografischen Erinnerungen der Erzählerin, die das Rückgrat der Erzählung bilden, denn nur vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte kann man verstehen, in was man da hineingeraten ist.

    "In dem dringlichen Begehren der Erzählerin zu verstehen, wo sie hingeraten ist, in welcher Welt sie lebt, fällt sie immer dann in Trance, wenn es so scheint, als könnte ihr das jetzt jemand erklären. Es ist einmal, wenn ihr Karel die faszinierende technische Welt erklärt, es ist zum anderen in der Erinnerung, wenn ihr Onkel Roch, der alte Stadtbaudirektor, erklärt, wie die Welt in ihren Grundformen aufgebaut ist. Wie die harmonischen Formen der Welt sind, die dem Weltgebäude zugrunde liegen, den Pflanzen, den Tieren, den Mineralien. Das erfährt sie schon im Alter von vier Jahren und fällt dabei in Trance, weil sie etwas vom Ganzen ahnt. Offenbar will sie schon im Alter von vier Jahren wissen - das will doch jeder oder? - was das ist, die Welt. Wo hinein man geboren ist, mit vier Jahren vielleicht mehr denn je."

    Nachgelassen hat dieses Verlangen nicht, zumindest nicht bei Angela Krauß, obwohl die Momente, in denen man noch etwas ahnt vom Ganzen, nun schwerer herzustellen sind. Sie scheinen auf in der Liebe zu Karel, denn die Liebe ist eine Himmelsmacht, die keiner weiteren Begründungen bedarf. Auch das Schreiben von Büchern ist eine Möglichkeit, denn wie anders als in der Imagination sollte der Blick auf das Ganze, diese notwendige Illusion, noch Gestalt annehmen.

    "Ich muss mich jetzt mal daran erinnern, warum ich so etwas wie so ein Buch überhaupt anfange. Das hat damit zu tun, dass ich gewissermaßen nicht mehr weiß, wo ich mich befinde. Ich habe zwar noch eine Vorstellung von meinem Weltgebäude, um dabei zu bleiben. Aber wo das steht, welchen Erschütterungen es ausgesetzt ist und woher die kommen und was sie bedeuten. Wenn ich anfange, die Orientierung zu verlieren, dann ist das Buchschreiben der einzige Weg."

    Ich komme aus dem Jahrhundert der Betrachtung oder aus dem Jahrhundert der körperlichen Aneignung. Immer wieder stellt sich die Erzählerin die Frage, ob ihr Weltgebäude noch das passende sei. Neben ihrer Biografie ist das zweite Grundmotiv die Auseinandersetzung mit den neuen Technologien, die ja auch von der Erzählerin genutzt werden. Es geht nicht um Verweigerung, das wäre die hilfloseste aller Reaktionen, es geht darum, bei sich zu bleiben.

    "Um das Rationale geht es ja gar nicht. Wir können die bewundern, wir können auch von künstlicher Intelligenz schwärmen und das alles, aber man vergisst dabei, inwieweit das Herz, die Seele involviert ist, wie das in diesen Regionen verarbeitet wird, und da stockt es im Moment. Nun sind wir ja auch keine Gesellschaft, fasziniert von der Technik, die versucht auf diese Regionen Rücksicht zu nehmen oder sie überhaupt anzuerkennen. Was für eine absurde Idee, dass man gewissermaßen das Technische als ein Ziel hinstellt, dem der Mensch nachfolgen muss. Das ist eine fatale Unterschätzung dessen, was wir wirklich sind."

    "Im schönsten Fall" ist auch ein Buch der Selbstbehauptung, obwohl Behauptungen in diesem Fall ein untaugliches Mittel sind. Angela Krauß kennt entschieden bessere. Wie sie, um nur ein Beispiel zu nennen, das Bild des in seinem Gerätepark fuhrwerkenden jungen Mannes überblendet mit dem Bild des lesenden Mädchens von Vermeer und diese Begegnung im Wortsinn fruchtbar werden lässt, das ist ein poetisches Kunststück, das nur wenige beherrschen. Am Ende geht dieser Prosatext über in ein Gedicht in Prosa, in dem die Erzählerin verschwindet. Ob sie geflohen ist oder aufgebrochen ist zu neuen Ufern, das mag ein jeder für sich entscheiden. Wahrscheinlich ist sie einfach nur aufgehoben in diesem Buch, und das ist nun wirklich einer der schönsten Fälle, die man sich denken kann.

    Angela Krauß: "Im schönsten Fall"
    Suhrkamp Verlag, geb., 100 S., 14,90 Euro