Samstag, 20. April 2024

Archiv


Die Suche nach der heilen Welt in den Bergen

Im 18. Jahrhundert noch waren die Berge für die meisten Menschen etwas Bedrohliches. Am 8. August 1786 setzte dann die Erstbesteigung des Mont Blanc, dem höchsten Berg Europas, so etwas wie den Startschuss für den modernen Alpinismus.

Von Georg Gruber | 08.08.2011
    Ein ungleiches Paar macht sich da frühmorgens gemeinsam auf den Weg, um den mit rund 4.800 Metern höchsten Berg Europas, den Mont Blanc, zum ersten Mal zu besteigen. Jacques Balmat, ein Bauer und Bergkristallsucher, und Michel-Gabriel Paccard, ein vermögender Arzt, beide aus Chamonix. Ausgerüstet sind sie mit 2,5 Meter langen Stöcken, die an der Spitze mit Eisen beschlagen sind. So können sie sich über Gletscherspalten schieben und Stufen ins Eis schlagen.

    Die Alpen – noch im 18. Jahrhundert sind sie für viele Zeitgenossen vor allem etwas Bedrohliches. So heißt es in der Naturgeschichte Helvetiens aus dem Jahr 1773:

    "Grässliche Gebirge thürmen sich daselbst bis in die Wolken auf, in mächtigen Reyhen und ungeheuren Schökken, mit meistens nackenden Firsten seltsam aufeinander gehäuft, mit tieffen zwischen den Felsgedrängen sich durchziehenden Thälern."

    Doch das Bild, das sich die Menschen von den Bergen machen, wandelt sich zu dieser Zeit bereits. Naturwissenschaftliche Neugier und literarische Verklärung formen es neu. Inspiriert von Jean-Jacques Rousseaus Roman "Nouvelle Héloise" beginnen immer mehr Reisende, die heile Welt in den Bergen zu suchen:
    "Es scheint, dass man, indem man sich über den Wohnsitz der Menschen erhebt, hier alle niedrigen und irdischen Gefühle zurücklässt und dass in dem Maße, in welchem man sich den Regionen des Äthers nähert, die Seele etwas von ihrer ursprünglichen Reinheit zurückerlangt."

    Die beiden Bergsteiger am Mont Blanc haben im Gepäck: ein Barometer, ein Thermometer, einen Kompass, Brot, etwas Braten und eine Decke. Balmat, der Bauer, trägt die meiste Last. Er muss den Weg durch den Schnee spuren. Auf halbem Weg richten sie ihr Nachtlager ein. Am nächsten Tag, dem 8. August 1786, wollen sie den Rest des Weges schaffen. Um 4 Uhr früh brechen sie auf und müssen einen gefährlichen Gletscher überqueren. Paccard schreibt später in einem Brief:

    "Erst gegen Mittag bewältigten wir den letzten Felsen und stiegen dann weiter, ließen den Nordgrat des Dome-Du-Gouter rechts liegen und erreichten schließlich das Petit Plateau mit viel Neuschnee. Der Anstieg war sehr mühsam."

    Balmat, der Bauer, weigert sich, weiter allein zu spuren. Sie wechseln sich ab. Das Wetter ist gut, doch es weht ein eisiger Wind.

    Der Mann, der eigentlich als erster auf dem Gipfel stehen wollte, heißt Horace Bénédict de Saussure. Er ist Geologe, Geograf, Botaniker, Mineraloge und Ethnologe der Bergbewohner. 1760 setzt de Saussure eine Belohnung aus, für einen gangbaren Weg auf den Mont Blanc. 1786 führt sein Aufruf endlich zum Erfolg.
    Der Bauer will die ausgesetzte Prämie, den Arzt treibt die wissenschaftliche Neugier. Ihr Aufstieg wird interessiert beobachtet, von einem niedrigeren Berg aus. Und dokumentiert:
    Adolf Traugott von Gersdorff: "Am 8. August, gegen 6.23 Uhr abends, haben wir mit unserem Fernrohr Dr. Paccard und Jacques Balmat, seinen Führer, auf dem Gipfel des Mont Blanc erblickt."

    Der Arzt liest den Barometerstand ab, beobachtet das Blau des Himmels, notiert die Richtung der Kompassnadel. Nach einer halben Stunde müssen sie wieder absteigen. Paccard kann kaum noch etwas sehen, ist schneeblind, nach dem langen Marsch auf dem Gletscher. Balmat muss ihn führen.

    Ein Jahr später schafft es auch de Saussure auf den Gipfel. Seine erste Empfindung: Zorn, weil er es nur als zweiter geschafft hat. Balmat, der Bauer, ist einer seiner Bergführer. De Saussure bleibt 4,5 Stunden auf dem Gipfel und führt ebenfalls wissenschaftliche Messungen durch. Einen ausführlichen Bericht seiner Bergtour veröffentlicht er in dem Buch "Voyages dans les Alpes", das für Jahrzehnte zum Standardwerk für Reisende und Naturforscher wird. Lange Zeit bleibt der Alpentourismus allerdings eine Angelegenheit der höheren Schichten. Der Massenansturm auf die Bergwelt ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts.