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Die Summe der Tage

"Der Garten ist schamlos geöffnet, / ... Da bist du inmitten, verloren, / verrückt im Wiederholen, / für die Tage, / die sich im Geäst verhängen. / ... Das Gartentor fällt zu."

Hans-Jürgen Heinrichs |
    Die Summe der Tage, neue Gedichte des am 16. Februar siebzig Jahre alt werdenden, in Graz lebenden Alfred Kolleritsch, liefern, ganz unaufdringlich, auch eine Summe des Lebens, der Lebenserfahrungen, mithin der Sicht auf die Dinge und auf das Kommen und Gehen von Menschen, das Abschiednehmen, die Vergänglichkeit in allem und die Einsamkeit.

    "Wie wird es gewesen sein, / wie dunkel das Licht, / wie unerreichbar die Zeichen. / Der Fluch der Ratlosigkeit / hin und her gerissen / als Sprache? / Was die Reise begleitet hat: / Herbstwälder, braunes Weinlaub, / Offenes, Wiesen, Gärten, / Kerben des Lächelns, / in Glück umgesetzt / zwischen den Zeichen, schweigend."

    Seine Art, die Welt zu sehen, hat bei Kolleritsch, der über Martin Heidegger promovierte, sehr oft auch etwas von einer philosophischen Spekulation an sich, abtastend die Grenzen der Welt in den Grenzen der Sprache und der sie hörbar machenden Stimme.

    "Stimme / Was wirklich ist, / bist du, ernannt von dir / und deiner Lust zu hören, / Sätze wirfst du weg, / ... zerrst / die Wörter hin zu dir, / das Schöne, scharfe Krallen, / die nach zwei Seiten / locken und verwehren, / machst du zur Welt, / für den ein wenig, der sie miterfindet."

    Die programmatischen Gedichte dieses Bandes handeln vom Betrachten, vom Reden und Schweigen, und sie umspielen in Titeln wie "Ankunft", "Hinweggegangen", "Aufbruch" und "Bewegtheit" und in Redewendungen wie "Fernsein", "Gefaßtes Weitergehen" und "Heimkehr" die bei Kolleritsch immer wiederkehrenden Motive des Unterwegsseins, des Begehrens, der Erwartungen und stets neu ansetzender, versuchter Vergegenwärtigung des sich in der Wahrnehmung Verflüchtigenden. Für Augenblicke "überkreuzen" sich Begehren und Betrachten, trifft ein Wort das Gesehene oder Gedachte.

    "Die Sprache / springt [dann] auf / wie die Samenkapsel, / für die Antwort ..."

    Aber am Ende steht doch die Frage - oder nur die Einfachheit der Bewegung: ein schlichtes "Weiter" und "du gehst", überwindend, was "den Aufbruch hemmt".

    Auch der ebenfalls in diesem Frühjahr herausgekommene Band Die Verschwörung der Wörter - eine Zusammenstellung früherer Gedichtbände, vor allem von "In den Tälern der Welt - versteht sich als ein Ausmessen der Räume im Unterwegssein. Damit ist allerdings nicht nur eine äußere Bewegung von hier nach dort gemeint, sondern vor allem eine imaginäre (gefühlte und gedachte) Wanderung durch Landschaften, durch Gebirge und Täler, ohne geographische und politische Grenzen: die vorgestellten Einbuchtungen, Niederungen, Abgründe sind "Täler der Welt": "im Dunklen, / einige Worte, / ungehört, hin- und hergetragen ..."

    Kolleritsch ist kein Reisender, kein Kosmopolit im gewöhnlichen Sinn, sondern einer, der die Welt im inneren Koordinatensystem von Raum und Zeit und Sein und Dagewesensein ausschreitet. Dominierend bei ihm die Geste des Abschieds und Rückzugs, der Ton der Erschöpfung und des Vergeblichen, des Hoffnungslosen, Ausweglosen und Weglosen, des Verbrauchten und des Verlöschens, des "Zu nichts mehr bereit". Wenn auch "erwartungsfremd", hält Kolleritsch dennoch an der Vorstellung fest, daß es die Ebene des Elementaren, so etwas wie ein "Aufscheinen der Natur" gibt.

    Auch wenn Alfred Kolleritsch vielen Lesern und Hörern nur als Lyriker bekannt ist und er auch die größte Anerkennung, z.B. den Petrarca-Preis, für seine Lyrik erhielt, so ist er doch auch von Anfang an Romancier. 1972 veröffentlichte er
    Die Pfirsichtöter und 1974 Die grüne Seite, ein Roman, der jetzt noch einmal neu ediert wurde.

    Die Handlung dieses Romans (eine Vater-Großvater-Sohn-Geschichte in der österreichischen Provinz) wird in der Form des philosophischen Dialogs erzählt, der das diesem Thema immer eigene Element des Belehrenden auflöst, ja, ad absurdum führt. Die grüne Seite des Lebens - darauf spielt ja der Titel an - ist, wie es für Österreich nicht anders sein kann, nur in einem diffusen und verzwickten Wechselspiel von Selbstbeschränkung, Anpassung und Rebellion, von Anklage, Anarchie und Nestbeschmutzung zu erreichen.

    Kolleritsch, der in der Südsteiermark geboren wurde und auch in diesem Roman, genauso wie in dem "Seismographischen Roman"
    Die Pfirsichtöter, seine Heimat in Mentalitätsstudien und Landschafts-schilderungen verlebendigt, ist - seit der Gründung der Zeitschrift manuskripte, 1960, und des literarischen "Forums Stadtpark", dessen Präsident er von 1969 bis 1995 war - in der Kultur Österreichs eine Institution und im gesamten deutschsprachigen Raum aus der Förderung neuer Literatur nicht mehr wegzudenken. Ein weites Panorama von Kolleritschs kulturpolitischer Arbeit im Kampf gegen provinzielle Engstirnigkeit, Borniertheit und Modernitätsfeindlichkeit, von seinen Texten in der Zeitschrift "manuskripte", seinen Reden und Einmischungen in die Literatur der letzten vierzig Jahre liefert der Band Mariginalien und Widersprüche. Texte zur Literatur, Kultur und Politik.

    Betrachtet man Kolleritschs Gesamtwerk, dann beeindruckt vor allem die Konsequenz, mit der er ontologisches und sprachphilosophisches Denken in die Literatur einbringt und daraus poetische Meditationen formt. So heißt es etwa in dem Gedicht "Über uns hinaus": "... die Schatten, / ... werfen uns mit, / wenn wir sie werfen, / uns verwerfend".

    In lyrischer Präzision benennt er die Schatten, die uns den Zugang zum Sein verbauen. In Kolleritschs "Landschaftsaufnahmen" sind gegenwärtig immer "Bilder des Todes", das Zuendegehen und Verfaulen, der sich auflösende Schatten und das sich im Nachtwind ankündigende Sterben, die vergangene und die vergehende Zeit. Im Frühling zu früh gekommene Blumen und Blüten sind schon "im Hinweis tot" und für den gestorbenen Freund ("fort in die Erdgier", wie es in einem Gedicht heißt) "platzt eine Blüte".

    Weitere besprochene Werke:

    Die grüne Seite, Droschl, 220 S., DM 37,-

    Die Verschwörung der Wörter, Residenz, 96 S., DM,-34,-

    Mariginalien und Widersprüche, Droschl, 150 S., DM 58,-