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Die Surrealisten und die Südsee

Die Surrealisten suchten das gelobte Land der Mikronesier, Polynesier und Melanesier und verehrten die edlen Wilden, die mit der Natur im Einklang lebten. Allerdings basierte dieses Denken oft nur auf der Phantasie, denn die Kulturen des Pazifik kannte man meist nur aus dem Museum. Einzig Max Ernst reiste in die echte Südsee und brachte von dort die Idee für seinen berühmten "Rosa Vogel" mit. Jetzt treffen die beiden Welten wieder aufeinander - die Südseesammlung des Ethnologischen Museums Berlin und die Bilder der Surrealisten aus der Neuen Nationalgalerie.

Von Carsten Probst | 27.11.2005
    Es gibt eine berühmte Aufnahme, die André Breton als alten Mann vor einer über und über vollgehängten Bilderwand in seiner Pariser Wohnung in der Rue Fontaine zeigt. Bretons Sammelleidenschaft ist legendär, seine Wohnung war eine einzige private Kunstkammer, und in einem seiner berühmtesten Bücher, "Amour Fou", das 1937 kurz vor Bretons Flucht ins amerikanische Exil erschien, beschreibt der Kopf der französischen Surrealisten sein Vorgehen detailliert. Oft zog er gemeinsam mit seinem Freund Alberto Giacometti über den großen Flohmarkt am Montmartre und brachte die unterschiedlichsten Dinge mit nach Hause: Gemälde unbekannter Maler, kleine Skulpturen, auch Alltagsgegenstände, immer wieder aber auch Volkskunst, Masken, Totenschädel, Schilde, Kristalle, Wurzeln und Steine. Es war kein gezieltes Suchen nach exotischen Dingen, beschreibt Breton, sondern man ließ sich von Zufällen leiten, von glücklichen Funden, vom Zauber einen plötzlichen Anblicks. Beim ziellosen Suchen überläßt sich der Mensch vollständig seinem unbewußten Begehren, und so sind die Zufallsfunde für Breton immer eine direkte Konfrontation mit sich selbst. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zur Begeisterung für die fremdartigen Kulturen der Südsee.

    Auf einer handgezeichneten "Weltkarte" der Surrealisten von 1927 sind die Kontinente nicht nach ihren tatsächlichen geografischen Proportionen eingeteilt. Hier bildet Ozeanien den Mittelpunkt der Welt, ein wahres Zauberreich aus Sicht vieler Surrealisten, eine völlig andere Wirklichkeit, in der Geisterglauben und Dämonen herrschten, die Kräfte des Irrationalen, wo es keine zivilisatorische Unterdrückung des Unbewußten, der Triebe und elementaren Naturkräfte gab. Träume und Mythen beherrschen die Wahrnehmung, und auch wenn Max Ernst der einzige Surrealist blieb, der jemals selbst Teile der Südsee bereiste, muss die Faszination für alle anderen ebenso außerordentlich gewesen sein.

    Anders als die Expressionisten, beginnend bei Gaugin bis zu Pechstein und Nolde, anders auch als die Utopisten des 18. und 19. Jahrhunderts sahen die Surrealisten die Südseewelt nicht als unberührtes Paradies auf Erden, idealisierten sie sie nicht als Modell für eine Gesellschaft der Zukunft. Für sie war es ein Reich der Selbsterforschung, der Begegnung mit eigenen okkulten Energien. Totemismus und magisches Sehertum, Traumdeutung und Dämonenkult entsprach genau dem, was Breton 1924 von den surrealistischen Techniken gefordert hatte: Automatisches Schreiben und die Collagetechnik der Bilder sollen ja eine "Annäherung zweier mehr oder weniger voneinander entfernten Wirklichkeiten in ungewohnter Umgebung" bewirken. Mit den Fantasien der Südseekultren ließ sich das hervorragend vereinbaren.

    Ethnologische Museen, wären sie nicht so schrecklich zivilisiert mit all ihren Vitrinen und Wächtern, wären wahrscheinlich ebenfalls ein großartiger Ort für die Surrealisten gewesen. Die Kuratoren dieser kleinen und feinen Ausstellung in Berlin-Dahlem über die "Poesie der Dinge" haben wohl recht mühelos einige großartige alte Südsee-Masken und Skulpturen aus den unerschöpflichen Depots zutage gefördert, die ohne weiteres auch als "surreal" durchgehen würden und einen Max Ernst oder Alberto Giacometti zweifellos begeistert hätten. Die so genannte "veristische" Richtung der Surrealisten, die von Magritte oder Dali repräsentiert wird, scheint insgesamt schwächer an der Südseefaszination partizipiert zu haben. Ungleich stärker sind hier die "absoluten Surrealisten" vertreten, die in eher abstrakten Formen nach den Spuren des Unbewußten suchten, herausragend dabei der "Rosa Vogel" von Max Ernst, ein spätes Werk aus den fünfziger Jahren, das jedoch exemplarisch die Kombination von malerischer Collagetechnik und einer exotisch inspirierten Ikonografie vorführt. Auf ganz andere Art verarbeitet Ernsts berühmtes "Rendezvous der Freunde" von 1922 den Ahnenkult, indem sich lebende wie tote Surrealisten auf diesem höchst realistischen Gemälde in einem seltsamen Zwischenreich begegnen. Roberto Matta, André Masson oder der stark an Picasso orientierte Wilfredo Lam reproduzieren immer wieder undeutbare, rätselhafte Figuren und primitivistische Formen als "Seelenbilder". Paul Klee, der sich nie zu den Surrealisten zählte, ist hier dennoch vertreten, weil sich in der Tat gewisse Interessenüberschneidungen in der Verwendung abstrakter Formen erkennen lassen. Auch bei Klee gibt es einen tendenziellen Exotismus, der nicht auf expressionistische Inspiration zurückgeht. Für Breton wie für Klee war die Begegnung mit dem Andersartigen Teil einer kulturellen Katharsis, die nur von der Kunst geleistet werden konnte.