Rudolf Ditzen hatte sich den Künstlernamen Fallada, um ein L ergänzt, von der Grimmschen Fabel des braven Gauls Falada geborgt. Dieser endet aufgehängt am Stadttor - ein Vorgriff auf das Schicksal der passiven Helden seiner zeitlosen, im Reportagestil verfassten Volksmärchen wie "Kleiner Mann - was nun?". Als Familienvater brachte der Erfolgsautor charakterlich denkbar schlechte Voraussetzungen mit. 1911 duellierte sich der 18-Jährige im thüringschen Rudolstadt mit einem Schulfreund, erschoss ihn und kommt für zwei Jahre in die Nervenheilanstalt, was ihn das Abitur kostete. In der Weimarer Republik verdingte er sich zunächst als Reporter, dann als Kartoffelspezialist auf ostelbischen Gütern. Fortgesetzt beging er Unterschlagungen.
Am 28. August 1944 schießt Rudolf Ditzen, stark alkoholisiert, auf seine geschiedene Frau Anna, die Mutter seiner drei Kinder. Am 4. September wird der Schriftsteller in das Gerichtsgefängnis Neustrelitz eingewiesen. Unter dem Eindruck der drohenden Entmündigung wegen vermeintlicher Geisteskrankheit wirft er in Geheimschrift den Roman "Der Trinker" aufs Papier. 92 Bögen Papier stehen ihm zur Verfügung. Fallada beginnt, zwischen den Zeilen des Romanmanuskripts und einiger kurzer Erzählungen seine Erlebnisse seit Hitlers Machtergreifung zu notieren. Nationalsozialismus und Nationalsozialisten kürzt er stets mit "N." ab. Die winzige Schrift schreckt die Gefängniswärter ab, dennoch hätte ihn eine Enttarnung das Leben kosten können. Unter diesen Umständen scheint ein von Sucht und Schreibzwang gehetztes Lebens mitten im Zweiten Weltkrieg auf.
Jetzt kommt die Nacht. Gleich bekommen wir unsere Wassersuppe mit ein paar Kohlblättern und dann müssen wir um halb acht Uhr abends ins Bett, in der engen Zelle, die ich mit einem schizophrenen Mörder, einem schwachsinnigen und entmannten Sittlichkeitsverbrecher und mit einem ebenfalls schwachsinnigen Lustmord-Versucher teile. Diese drei Kameraden schlafen immer ganz ausgezeichnet, ich weniger gut. Ob ich morgen wohl weiterschreibe? Ich bin wahnsinnig, wenn ich es tue!
In seinen Büchern wie den Jugenderinnerungen "Damals bei uns daheim" präsentierte der beliebte Erzähler "Erlebtes, Erfahrenes und Erfundenes", wie es im Untertitel heißt. Diese unwiderstehliche Mischung aus Dichtung und Wahrheit zeichnet ebenso seine bitteren Notate aus der Haft im Herbst 1944 aus. Auch hier ist Fallada, der stupende Beobachter und Menschenkenner, am besten, wenn er zu den Fakten etwas hinzukomponiert. Die Aufzeichnungen setzen mit einem Trinkgelage mit seinem Verleger, dem Original Ernst Rowohlt, in einer Berliner Weinstube ein. Fallada schildert plastisch, wie der geborene Unterhalter Champagnergläser zermalmt und antifaschistische Witze reißt.
Übrigens durfte man sich in Rowohlt nicht täuschen: wenn er auch der sanfteste Säugling war und kaum aus seinen Augenschlitzen mehr schauen zu können schien, war er doch hellwach, und vor allem rechnen konnte er, dass es ein Grausen war!
Fallada vermischt die auf Januar datierte Erinnerung mit dem 27. Februar 1933, dem Zeitpunkt des Reichstagsbrandes, was also nicht ganz stimmen kann. Doch es ging ihm weniger um exakte Protokolle als um Stimmungsbilder und Sittengemälde aus dem "Tausendjährigen Reich". So malt er mit maliziöser Fantasie aus, wie der ehrgeizige Oldenburger Bauernjunge Peter Suhrkamp unter Ausnutzung der neuen politischen Verhältnisse auf der Karriereleiter ganz nach oben kletterte. Er unterstellt Suhrkamp "Erbschleicherei", indem er sich bei dem jüdischen Verlagsgründer Samuel Fischer unentbehrlich gemacht und so dessen Nachfolge angetreten habe. Andere Episoden beleuchten die grelle Eitelkeit der Filmbranche und stellen Künstler wie den "Staatsschauspieler" Emil Jannings und dessen wechselhaftes Verhältnis zu Propagandaminister Goebbels ins Zentrum.
Das ruchlose Regime ermuntert seine sogenannten Volksgenossen zu - laut Fallada - "selbstverständlicher Schamlosigkeit", indem es deren niedrigsten Instinkte instrumentalisiert. Die Familie Ditzen erlebt das blühende Denunziantentum am eigenen Leib, als sie wegen einer Intrige eines alten Mitläufer-Ehepaares ihre sichere Behausung auf dem Land verliert. An Ostern 1933 wird Fallada angezeigt und verhaftet. Und was tut der Hasardeur und Lebenskünstler?
Es war natürlich bezeichnend für den Schriftsteller Hans Fallada, dass er sich fünf Minuten nach der Machtergreifung ausgerechnet eine jüdische Pension als Wohnsitz ausgesucht hatte und von dort aus seine Briefe munter versandte. Ich bin wirklich von einer schon dummen Ahnungslosigkeit gewesen! Damals schwebte zum Beispiel schon mein Gesuch um Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer, und dieses Gesuch war eine Existenzfrage für uns. Warnern, die mir vorhielten, dass es doch Selbstmord von mir wäre, in einer jüdischen Pension zu wohnen, was bei dem sich immer weiter ausbreitenden Spitzel- und Denunziantentum - noch eine Frucht des Naziregimes ! - nicht verborgen bleiben könnte, antwortete ich überlegen: "Aber es gefällt mir dort! Sobald es Ariern verboten wird, in jüdischen Pensionen zu wohnen, ziehe ich aus. Bis dahin bleibe ich dort!"
Diese zutiefst menschliche Spontaneität, dieses "Falladasche Geschick in der vorzüglichen Arrangierung von Missgeschick", wie er einmal schreibt, macht das Buch so lesenswert. Der Leser fiebert mit, ob der unvorsichtige Bestseller-Autor und seiner Familie heil durch die Diktatur kommen. Emigrieren wollte er nie. Einige der anrührendsten Passagen gelten dem Zeichner und Karikaturisten Erich Ohser, besser bekannt als E.O. Plauen. Sie begegnen sie sich erstmals in Ohsers Atelier, wo Fallada für ein Porträt Modell sitzt. Die beiden regimekritischen Künstler verstehen sich prächtig.
Plauen war vollgeladen mit Witzen und Späßchen über das NS-Regime, eigenen und fremden. Er lachte dröhnend. Und schon fiel ihm ein neuer ein. Er rannte im Atelier hin und her, dieser Elefant war leise und wach wie eine Katze in seinen Bewegungen. Überhaupt hatte dieser fröhlich lachende Mensch etwas Leises, Umschattetes, Trauer aus einem tiefsten Grunde - nur Hohlköpfe konnten in dieser Zeit nur fröhlich sein, im Wesen aller andern wirkte tief die Trauer.
Dementsprechend erschüttert ist Fallada, als er bei einer Straßenbahnfahrt im kriegszerstörten Berlin erfährt, dass sich Plauen in der Haft erschossen habe. Durch seine Spottlust bei gleichzeitiger Schwerhörigkeit war er einem Denunzianten zum Opfer gefallen.
Am 8. Oktober 1944 erhielt Hans Fallada einen Tag Hafturlaub. Unter dem Hemd schmuggelte er seine Notate in die Freiheit hinaus. Wegen seiner Morphiumsucht überlebte er das Kriegsende um nicht einmal zwei Jahre. Im Februar 1947 erlag er mit 53 Jahren einem Herzversagen. Vieles an Falladas Haltung bleibt fragwürdig, etwa seine schwankenden, vom Zeitgeist beeinflussten Ansichten über Juden oder der Groll gegen die Emigranten. Dennoch unterzog er seine Zeitgenossen, die nur allzu willig zu Volksgenossen wurden, einer höchst authentischen Analyse. Sein Gefängnistagebuch voller schrecklicher und komischer Momente ist ein bewegendes Zeitdokument.
Hans Fallada: In meinem fremden Land. Gefängnistagebuch 1944. Herausgegeben von Jenny Williams und Sabine Lange. Aufbau Verlag, Berlin 2009. 333 Seiten mit zwei Faksimiles und einer Abbildung, 24,95 Euro.
Am 28. August 1944 schießt Rudolf Ditzen, stark alkoholisiert, auf seine geschiedene Frau Anna, die Mutter seiner drei Kinder. Am 4. September wird der Schriftsteller in das Gerichtsgefängnis Neustrelitz eingewiesen. Unter dem Eindruck der drohenden Entmündigung wegen vermeintlicher Geisteskrankheit wirft er in Geheimschrift den Roman "Der Trinker" aufs Papier. 92 Bögen Papier stehen ihm zur Verfügung. Fallada beginnt, zwischen den Zeilen des Romanmanuskripts und einiger kurzer Erzählungen seine Erlebnisse seit Hitlers Machtergreifung zu notieren. Nationalsozialismus und Nationalsozialisten kürzt er stets mit "N." ab. Die winzige Schrift schreckt die Gefängniswärter ab, dennoch hätte ihn eine Enttarnung das Leben kosten können. Unter diesen Umständen scheint ein von Sucht und Schreibzwang gehetztes Lebens mitten im Zweiten Weltkrieg auf.
Jetzt kommt die Nacht. Gleich bekommen wir unsere Wassersuppe mit ein paar Kohlblättern und dann müssen wir um halb acht Uhr abends ins Bett, in der engen Zelle, die ich mit einem schizophrenen Mörder, einem schwachsinnigen und entmannten Sittlichkeitsverbrecher und mit einem ebenfalls schwachsinnigen Lustmord-Versucher teile. Diese drei Kameraden schlafen immer ganz ausgezeichnet, ich weniger gut. Ob ich morgen wohl weiterschreibe? Ich bin wahnsinnig, wenn ich es tue!
In seinen Büchern wie den Jugenderinnerungen "Damals bei uns daheim" präsentierte der beliebte Erzähler "Erlebtes, Erfahrenes und Erfundenes", wie es im Untertitel heißt. Diese unwiderstehliche Mischung aus Dichtung und Wahrheit zeichnet ebenso seine bitteren Notate aus der Haft im Herbst 1944 aus. Auch hier ist Fallada, der stupende Beobachter und Menschenkenner, am besten, wenn er zu den Fakten etwas hinzukomponiert. Die Aufzeichnungen setzen mit einem Trinkgelage mit seinem Verleger, dem Original Ernst Rowohlt, in einer Berliner Weinstube ein. Fallada schildert plastisch, wie der geborene Unterhalter Champagnergläser zermalmt und antifaschistische Witze reißt.
Übrigens durfte man sich in Rowohlt nicht täuschen: wenn er auch der sanfteste Säugling war und kaum aus seinen Augenschlitzen mehr schauen zu können schien, war er doch hellwach, und vor allem rechnen konnte er, dass es ein Grausen war!
Fallada vermischt die auf Januar datierte Erinnerung mit dem 27. Februar 1933, dem Zeitpunkt des Reichstagsbrandes, was also nicht ganz stimmen kann. Doch es ging ihm weniger um exakte Protokolle als um Stimmungsbilder und Sittengemälde aus dem "Tausendjährigen Reich". So malt er mit maliziöser Fantasie aus, wie der ehrgeizige Oldenburger Bauernjunge Peter Suhrkamp unter Ausnutzung der neuen politischen Verhältnisse auf der Karriereleiter ganz nach oben kletterte. Er unterstellt Suhrkamp "Erbschleicherei", indem er sich bei dem jüdischen Verlagsgründer Samuel Fischer unentbehrlich gemacht und so dessen Nachfolge angetreten habe. Andere Episoden beleuchten die grelle Eitelkeit der Filmbranche und stellen Künstler wie den "Staatsschauspieler" Emil Jannings und dessen wechselhaftes Verhältnis zu Propagandaminister Goebbels ins Zentrum.
Das ruchlose Regime ermuntert seine sogenannten Volksgenossen zu - laut Fallada - "selbstverständlicher Schamlosigkeit", indem es deren niedrigsten Instinkte instrumentalisiert. Die Familie Ditzen erlebt das blühende Denunziantentum am eigenen Leib, als sie wegen einer Intrige eines alten Mitläufer-Ehepaares ihre sichere Behausung auf dem Land verliert. An Ostern 1933 wird Fallada angezeigt und verhaftet. Und was tut der Hasardeur und Lebenskünstler?
Es war natürlich bezeichnend für den Schriftsteller Hans Fallada, dass er sich fünf Minuten nach der Machtergreifung ausgerechnet eine jüdische Pension als Wohnsitz ausgesucht hatte und von dort aus seine Briefe munter versandte. Ich bin wirklich von einer schon dummen Ahnungslosigkeit gewesen! Damals schwebte zum Beispiel schon mein Gesuch um Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer, und dieses Gesuch war eine Existenzfrage für uns. Warnern, die mir vorhielten, dass es doch Selbstmord von mir wäre, in einer jüdischen Pension zu wohnen, was bei dem sich immer weiter ausbreitenden Spitzel- und Denunziantentum - noch eine Frucht des Naziregimes ! - nicht verborgen bleiben könnte, antwortete ich überlegen: "Aber es gefällt mir dort! Sobald es Ariern verboten wird, in jüdischen Pensionen zu wohnen, ziehe ich aus. Bis dahin bleibe ich dort!"
Diese zutiefst menschliche Spontaneität, dieses "Falladasche Geschick in der vorzüglichen Arrangierung von Missgeschick", wie er einmal schreibt, macht das Buch so lesenswert. Der Leser fiebert mit, ob der unvorsichtige Bestseller-Autor und seiner Familie heil durch die Diktatur kommen. Emigrieren wollte er nie. Einige der anrührendsten Passagen gelten dem Zeichner und Karikaturisten Erich Ohser, besser bekannt als E.O. Plauen. Sie begegnen sie sich erstmals in Ohsers Atelier, wo Fallada für ein Porträt Modell sitzt. Die beiden regimekritischen Künstler verstehen sich prächtig.
Plauen war vollgeladen mit Witzen und Späßchen über das NS-Regime, eigenen und fremden. Er lachte dröhnend. Und schon fiel ihm ein neuer ein. Er rannte im Atelier hin und her, dieser Elefant war leise und wach wie eine Katze in seinen Bewegungen. Überhaupt hatte dieser fröhlich lachende Mensch etwas Leises, Umschattetes, Trauer aus einem tiefsten Grunde - nur Hohlköpfe konnten in dieser Zeit nur fröhlich sein, im Wesen aller andern wirkte tief die Trauer.
Dementsprechend erschüttert ist Fallada, als er bei einer Straßenbahnfahrt im kriegszerstörten Berlin erfährt, dass sich Plauen in der Haft erschossen habe. Durch seine Spottlust bei gleichzeitiger Schwerhörigkeit war er einem Denunzianten zum Opfer gefallen.
Am 8. Oktober 1944 erhielt Hans Fallada einen Tag Hafturlaub. Unter dem Hemd schmuggelte er seine Notate in die Freiheit hinaus. Wegen seiner Morphiumsucht überlebte er das Kriegsende um nicht einmal zwei Jahre. Im Februar 1947 erlag er mit 53 Jahren einem Herzversagen. Vieles an Falladas Haltung bleibt fragwürdig, etwa seine schwankenden, vom Zeitgeist beeinflussten Ansichten über Juden oder der Groll gegen die Emigranten. Dennoch unterzog er seine Zeitgenossen, die nur allzu willig zu Volksgenossen wurden, einer höchst authentischen Analyse. Sein Gefängnistagebuch voller schrecklicher und komischer Momente ist ein bewegendes Zeitdokument.
Hans Fallada: In meinem fremden Land. Gefängnistagebuch 1944. Herausgegeben von Jenny Williams und Sabine Lange. Aufbau Verlag, Berlin 2009. 333 Seiten mit zwei Faksimiles und einer Abbildung, 24,95 Euro.