"Ich traf einen hochgewachsenen Mann, eher kantig als weich und von einer nervösen und nervösmachenden Wachsamkeit. Dauernd wechselt sein Gesichtsausdruck, dauernd lenkt er von sich ab und versucht sich mit einer wegwerfenden Handbewegung auszulöschen. Nossack rühmt sich, der bestgetarnte Schriftsteller zu sein."
Diese Enthüllung legte der Autor einer seiner Romanfiguren in den Mund, die auffallende Ähnlichkeit mit ihm selbst hat. Sie verweist auf die listige Fiktion einer Autobiographie, hinter der die Person verschwindet, bevor sie für den Leser klare Konturen gewinnt. Fast alle Aussagen zu Nossacks Leben und Werk erweisen sich als vom Schriftsteller für die Öffentlichkeit präpariert. Eine perfekte Selbstinszenierung, die die Nossack-Rezeption über Jahrzehnte bestimmt hat. Die Editorin Gabriele Söhling hat einen ganz anderen Eindruck gewonnen: "Den Eindruck, den man bekommt, ist der eines zutiefst unsicheren Menschen, der sich permanent seiner selbst versichern muß, und das funktioniert vorrangig über das Schreiben, auch über das Tagebuchschreiben als Form des Selbstgesprächs.... 'Schreiben ist nur vorläufig das beste Mittel, um mit mir fertig zu werden', also nicht die Literatur ist der eigentliche Zweck oder das Ziel, sondern es ist im Moment für ihn eine Notwendigkeit."
Gabriele Söhlings Nossack-Bild verdankt sich der intimen Kenntnis des Nossack-Nachlasses. Söhling legt jetzt eine dreibändige kommentierte Edition der Tagebücher Hans Erich Nossacks vor. Sie umfaßt die Zeit von 1943 bis 1977. Damit bietet sich zwanzig Jahre nach dem Tod des Autors die Möglichkeit, diesen "bestgetarnten Schriftsteller" neu zu entdecken und seinem wirklichen Leben, seinem Denken, Fühlen und Schreiben auf die Spur zu kommen. Die Publikation dieser Aufzeichnungen hielt der Verfasser erst nach seinem eigenen und dem Tod der Ehefrau für wünschenswert. Gabriele Söhling über die Motive für das Zögern Nossacks: "Es gibt diesen Satz von ihm, 'Veröffentlichen ist Verrat', oder, noch schärfer formuliert, 'Veröffentlichen ist eigentlich Prostitution'. Was ich mache in meinem Tagebuch, geht eigentlich nur mich 'was an. In dem Moment, wo ich an die Öffentlichkeit gehe, prostituiere ich mich. Das ist eine Position. Die andere: Wie kann ich mich denn überhaupt mit den anderen Geistern über die Zeit hinweg verständigen, wenn ich nicht publiziere."
Nossack sieht sich einer geistigen Familie zugehörig, die völlig unabhängig von der Zeitgeschichte existiert und sozusagen ein Gespräch der Geister über die Jahrhunderte hinweg führt. Er hat die Tagebücher anderer Autoren geradezu verschlungen, um eben diesen geistigen Dialog zu führen, um zu erfahren, wie andere Geistige mit Fragen umgingen, die ihn selbst oft ratlos zurückließen. Gabriele Söhling dazu: "Wie ist jemand mit Widerständen umgegangen, wie ist er gewachsen an Widerständen, wie hat er seinen eigenen Weg gefunden? Das sieht er völlig unabhängig, ob das jetzt vor zweitausend Jahren war oder im 19. Jahrhundert, das ist für ihn völlig uninteressant. Sondern die Art und Weise, wie jemand damit umgegangen ist, wie er darauf reagiert hat, das wäre für ihn wichtig."
Der Hamburger Kaufmannssohn Hans Erich Nossack "emigriert" 1933 widerwillig in die väterliche Kaffeeimportfirma, die er nach 1945 in eigener Verantwortung weiterführt. An ihm hängt in den schwierigen Nachkriegsjahren das Auskommen der ganzen Familie. Parallel zum Kaffeehandel frönt Nossack seiner eigentlichen Passion - der Schriftstellerei. Für seine Geschäftspartner der seriöse Kaufmann, den er auch als Erscheinung zeitlebens verkörpert, verwandelt er sich nach Büroschluß in einen Literaten. Erst ab 1946, also mit 45 Jahren, wird Nossack einem breiteren Publikum bekannt.
"Sind diese Notizen überhaupt ehrlich, wenn ich nur den Literaten berichten lasse und damit so tue, als existiere der Kaufmann gar nicht? In gewissem Sinne: ja. Tatsächlich führe ich beide Berufe völlig getrennt. Und unter Leben, das sich fortzuhalten lohnt, verstehe ich wohl nur, einen guten Gedanken haben und ihn zu formulieren versuchen. Der Kaufmann hat auch seine Gedanken, aber er handelt sie oder mit ihnen, und er wäre kein Kaufmann, wenn er den Drang verspürte, sie zu Papier zu bringen.
Erst 1956 kann der hanseatische Kaufmann das jahrzehntelange Doppelleben beenden, die Firma verkaufen und - von einem Mäzen unterstützt - als freier Schriftsteller leben. Nossack galt nicht nur als schwieriger Autor, er war vor allem ein komplizierter Mensch. Immer um Distanz bemüht, verraten die Tagebücher seine Disposition zur Enttäuschung. Über die Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung notiert er:
"Jeder überlegene Geist wird folgende Erfahrung machen müssen: wenn er neue Bekanntschaften macht und er hat gerade seine gute offene Stunde, so wird er durch sein Gespräch so belebend auf diese Leute wirken, daß er sie für seinesgleichen hält und sein Herz schon aufjubelt, endlich Geistesverwandte gefunden zu haben. Aber es ist nur der Reflex seiner eigenen gebenden Persönlichkeit, der auf ihn zurückstrahlt und ihn täuscht. Sowie er aufhört zu geben, am nächsten Morgen oder am schrecklichsten in einem Briefe, den diese Leute vielleicht an ihn schreiben, werden sie für ihn das, was sie wirklich sind. Er fühlt sich bitter getäuscht, ja beschämt, auf jeden Fall aber doppelt vereinsamt."
Nossack hat, das belegen die Tagebücher eindrucksvoll, unter der Erfahrungsarmut und Trivialität seines Alltags gelitten. Allein im Schreiben erscheint ihm die Welt gestaltbar und - zumindest für den Augenblick eines formulierten Gedankens - lebenswert.
Da alle Manuskripte Nossacks bei der Bombardierung Hamburgs verbrannten, bilden die nun vorliegenden Tagebücher lediglich einen Teil der ursprünglich vorhandenen. Dieser Umstand hat die Editorin bei der Kommentierung vor einige Probleme gestellt: "Natürlich ist der Primärtext das, was ausschlaggebend ist, und ich hab' versucht, mich da als Richtschnur dran zu orientieren", Gabriele Söhling. "Es variiert: Die Kriegs- und die Nachkriegszeit ist im Tagebuch sehr arm an äußeren Fakten, also man weiß überhaupt nicht, wie lebt der Mensch, wovon lebt er, was macht er tagsüber? Außerdem springt er mitten rein. Er ist zweiundvierzig Jahre alt und plötzlich beginnen die Tagebücher, es ist Krieg. Da muß man mehr kommentieren, muß Hintergrund liefern, muß die Lebensumstände ein bißchen erläutern. Außerdem ist er noch kein Autor, wenn auch Schriftsteller. Also, es gibt ihn in einem gewissen Sinne noch gar nicht. Also auch diese Bestrebungen muß man einfach als Hintergrund mit erläutern. Das verliert sich nachher ein bißchen. Es ist zum einen so, daß die Tagebücher sich selbst in der Art der Eintragung ändern, das heißt das äußere Leben findet einfach viel mehr statt, es wird viel mehr berichtet, was er so täglich macht, Ende der fünfziger, in den sechziger Jahren sowieso. Und wenn so dicht Tagebuch geschrieben wird, ist auch gar nicht mehr die Notwendigkeit, viel zu erzählen, dann steht das meiste, was passiert, in den Büchern selber drin, also die Kommentierung variiert je nach Art der Eintragung, so würde ich es mal formulieren."
Die Tagebücher Hans Erich Nossacks sind in doppelter Hinsicht ein Gewinn: sie beleuchten das Werk dieses spröden Autors vielfach neu. Das gilt ganz bestimmt für den Roman "Spätestens im November". Hier wird ganz direkt die autobiographische Geschichte sichtbar, die dann allerdings viele Bearbeitungsstufen durchlaufen hat, bevor sie zum Roman verdichtet vorlag. In Kenntnis von Nossacks Selbstgesprächen und Analysen erscheinen auch die übrigen Romane und Erzählungen in anderem Licht. Vor allem aber gewinnt die Persönlichkeit Nossacks durch die Tagebücher und die kluge Kommentierung an Tiefe und Schärfe. So entwickelt sich anhand dieser zweifellos persönlichsten literarischen Form ein unverstelltes und bereicherndes Zwiegespräch mit einem zeitlebens distanzwahrenden Autor.
"Wenn wir über die Person reden, die kommt einem natürlich schon sehr nahe", erklärt Gabriele Söhling, "denn das ist ein unablässig geführtes Selbstgespräch, das ist ein ganz schonungsloser Beobachter seiner selbst, ein ganz kritischer Mensch, der sich da in die Mangel nimmt, vielleicht vergleichbar, wie das Hebbel in seinen Tagebüchern auch gemacht hat, und das sagt einem natürlich sehr viel, man spürt die Spannung, in der er drinsteckt, man spürt die Ängste, und das ist ganz unmittelbar spürbar.