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Die Tanz-Avantgarde in Düsseldorf

Tänzer dürfen sich in Düsseldorf erneut als Nachwuchs-Choreografen versuchen. Dabei zeigt sich: Die Migrationsbewegungen des Tanzes verblüffen seit dreihundert Jahren immer aufs Neue. Was könnte ein Ballettabend mehr beweisen, meint Wiebke Hüster.

Von Wiebke Hüster |
    Martin Schläpfers "Ballett am Rhein" steht in der Mitte seiner vierten Spielzeit und zeigt mit dem Ballettabend b.15 eines seiner ambitioniertesten Programme. Ähnlich wie an der Pariser Oper, wo Choreografen aus den Reihen der Tänzer Gelegenheit erhalten, sich auf der großen Bühne mit Uraufführungen zu präsentieren, räumt auch Martin Schläpfer seinem Ensemble diese Möglichkeit ein. Nichts ist heikler als die Planung solcher Abende. Denn natürlich müssen die Arbeiten der neuen Choreografen Werken erfahrener Kollege gegenübergestellt werden, sonst wäre einerseits das künstlerische Ertragsrisiko zu groß – weil Ausprobieren ja auch schiefgehen kann – andererseits ist der ästhetische Sprung zwischen jüngeren und bereits länger erfolgreichen Tanzschöpfern häufig recht groß. Das liegt daran, dass es schwer ist, sich auf einen Choreografen Laufbahn vorzubereiten.

    Handwerkliche Erfahrung mit Choreografie sammeln Tänzer nicht in dem Sinne, wenn sie Werke anderer tanzen. Sie sind Teil der Besetzung, Teil der Aufführung, und diese Aufgabe steht der Analyse des Tanzes, in dem sie sich befinden, entgegen. Als Tänzer identifiziert man sich sehr stark mit dem, was man tanzt – man sieht es ja nicht von außen. Das bedeutet, junge Choreografen gewinnen erst handwerkliche Sicherheit, wenn sie im Saal stehen und ihre eigenen choreografischen Probleme lösen und Entscheidungen treffen müssen.

    An den Uraufführungen von Martin Chaix und Antoine Jully lassen sich die Schwierigkeiten junger Choreografen genau studieren. Zwar verbergen sowohl "We were right here" von Martin Chix als auch Antoine Jullys "Rebound – Topple – Splash" mögliche Aufgeregtheiten oder Unsicherheiten ihrer Kreateure sehr geschickt. Es ist nicht gerecht, und doch wirkt beider Begabung, Anschlussfehler zu vermeiden, nicht an den musikalischen Noten zu kleben und nicht durch gewollt originelle, meistens unorganisch wirkende Bewegungen aufzufallen, am Ende ein wenig brav. Aber es eben unendlich schwerer, als Choreograf aus sich herauszugehen oder frei zu werden, als es der virtuose Gebrauch des Tanzes vom Körper vermuten lassen könnte.

    Eine durch größeres Selbstbewusstsein gekennzeichnete Konventionalität prägt auch Regina van Berkels Uraufführung "Inclination". Wie schon in früheren Arbeiten der Holländerin überstrahlt der etwas zur Schau gestellte Gestus choreografischer Libertinage schöne Ansätze tänzerischer Einfachheit.

    Amanda Millers Uraufführung "Crop" zu Musik von Fred Frith hingegen atmete wundervolle Freiheit. Der Kontrast der spielerisch eingesetzten Virtuosität ihres Spitzentanzes und der kraftvollen Interventionen der Männer zu der sie einhüllenden und verschluckenden Düsternis der Bühne wirkte beunruhigend – ein Nocturne mit metaphysisch ungewissem Ausgang. Die zarten Pastelltöne der federleichten von Miller entworfenen Kostüme verliehen dem unverkrampft energiegeladenen Stück eine starke, lebensechte Widersprüchlichkeit. "Crop", der Stücktitel, bedeutet so viel wie die Ernte großer Felder. Bühnenbildner Seth Tillet, Millers langjähriger Weg-Gefährte, stellte mit zarten großen Blüten bemalte Würfel zwischen die Tänzer. So hat Crop die Schönheit eines wild bewachsenen Wegrandes und verströmt gleichzeitig einen Geruch von Vergänglichkeit, so wie Wurzelreste, Schalen, abgefallene Blütenblätter, frisch untergepflügt.

    Es war eine außergewöhnlich berührende Erfahrung, Millers Stück direkt nach Merce Cunninghams "Pond Way" zu sehen. Denn nicht nur in ihrem Naturstudienhaften Charakter, auch in ihrem von Freiheit und Wärme zugleich durchdrungenen Streben nach tänzerisch erfüllten Momenten schienen sich beide Ansätze zu gleichen. Cunninghams Werk lebt und Amanda Miller ist über den Umweg Alabama nach Europa zurückgekehrt, um ihre poetischen Fäden da weiterzuknüpfen, wo sie vor vier Jahren in Köln abgerissen waren. Die Migrationsbewegungen des Tanzes verblüffen seit dreihundert Jahren immer aufs Neue. Was könnte ein Ballettabend mehr beweisen.