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Die Thesen des Berliner Theologen Notger Slenczka
Nicht ohne das Alte Testament?

Im vergangenen Frühjahr lösten umstrittene Thesen des Berliner Theologen Notger Slenczka eine erbittert geführte Debatte aus. Kein Wunder: Slenczka hatte nicht weniger als die Streichung des Alten Testaments aus dem christlichen Kanon gefordert.Sein Argument: Man müsse anerkennen, dass mit der Hebräischen Bibel das Volk Israel angesprochen werde – und nicht die Christenheit. Mehrfach wurde der Wissenschaftler scharf angegriffen. Und die Debatte geht weiter: Wie viel Altes Testament braucht die christliche Kirche?

Von Thomas Klatt | 16.12.2015
    Bibel
    Wie viel Altes Testament braucht die christliche Kirche? (dpa / picture alliance / Arno Burgi)
    "Er weist ja immer wieder darauf hin, dass seine Position sich gerade dem jüdisch-christlichen Dialog verdanke."
    Der Berliner Theologe Rolf Schieder zitiert Positionen seines Kollegen Notger Slenczka.
    "Ihm gehe es darum, der Vereinnahmung des Alten Testamentes zu wehren. Die Verheißungen und die Gebote des Alten Testamentes gelten nun einmal ausschließlich Israel und nicht der Kirche. Dass sich Christen sozusagen in diesen exklusiven Bund hinein mogeln wollen, sei, ich zitiere ihn, eine Unverfrorenheit. Und ein weiteres Zitat: wenn Christen sagen, sorry Leute, durch Jesus Christus gehört das halbe Wohnzimmer hier uns und das richten wir jetzt neu ein, dann sei das eben eine Respektlosigkeit gegenüber dem Judentum und inakzeptabel."
    Es gebe durchaus Bedenkenswertes an Slenczkas Thesen. Der Kirche müsse immer bewusst sein, dass die Hebräische Bibel zuerst dem Volk Israel gelte.
    "Ich will ganz deutlich sagen, dass ich an dieser Stelle an der Seite von Notger Slenczka stehe und meine, er hat an dieser Stelle einen sehr, sehr starken Punkt gemacht, über den wir in den christlichen Kirchen nachdenken müssen. Also Respekt, dass wir das Alte Testament zunächst als das Glaubensdokument des Judentums ansehen und nicht besinnungslos Texte adaptieren, die nicht für uns gemeint sind."
    Doch daraus könne man nicht schließen, dass das Alte Testament für die christliche Kirche nicht mehr wichtig sei. Die hebräischen Schriften aus dem christlichen Kanon zu nehmen, ist für Schieder ein Ding der Unmöglichkeit. Denn man würde die vielen Textbezüge in Evangelien, Briefen, in Apokalypse oder der Apostelgeschichte gar nicht ohne das Alte Testament verstehen können. Allein im ersten Kapitel des Neuen Testamentes verweist der Stammbaum Jesu auf dessen Verwandtschaft zum König David. Was wäre die christliche Religion beispielsweise ohne deren Anbindung an die Schöpfungsgeschichte, die Psalmen oder die Propheten?
    "Ich selber verstehe das Alte Testament als eine Schrift, die uns sehr viel von der Untreue des Menschen berichtet und von der Treue Gottes, die sich gleichwohl durchhält. Insofern sind auch viele Textpassagen gar nicht zum nachahmen oder normativ gemeint, sondern sie klären uns schlichtweg darüber auf, wozu Menschen fähig sind. Als solches möchte ich auf das Alte Testament unter keinen Umständen verzichten."
    Nun aber habe Slenczka im 21. Jahrhundert mit seinem Artikel an die unseligen Zeiten des deutschen Kulturprotestantismus des 19. bis 20. Jahrhunderts angeknüpft, der seinem Wesen nach als antijudaistisch einzustufen ist. Für Friedrich Schleiermacher etwa war das Alte Testament lediglich das "Zeugnis einer Stammesreligion mit partikularem Anspruch", das die "Universalität des Religiösen" noch nicht zum Ausdruck bringe, die "eben erst in Jesus von Nazareth erfasst" werde. Die jüdischen Texte seien nur noch eine "theologische Hinterlassenschaft." Für Adolf von Harnack galt das Judentum als überwunden. Die Religion Jesu habe sich zu einer sittlich höheren Stufe entwickelt, indem sie die bedingungslose und universale Vaterliebe Gottes verkündet. Also empfahl Adolf von Harnack 1921, das Alte Testament aus dem christlichen Kanon zu entfernen. Dass Slenczka nun 70 Jahre nach der Shoa diese Gedanken wieder aufgreift, sorgt in der jüdischen Gemeinschaft für Unruhe. Joel Berger, ehemaliger Landesrabbiner von Württemberg.
    "Er ist ein Fortsetzer dieser antijudaistischen Züge der früheren Theologen. Wie ist Schleiermacher zitiert worden, eine theologische Hinterlassenschaft. Das ist eine Herabwürdigung auch der Hinterlasser, die nicht mehr relevant sind und in so weit kann man diese auch schon ad acta tun."
    Auch der Berliner Rabbiner Andreas Nachama sieht die innerprotestantische Debatte mit Skepsis und Sorge. Schließlich könne vom deutschen Kulturprotestantismus eine direkte Linie zu den Deutschen Christen gezogen werden, die alles Jüdische aus der christlichen Bibel und Religion verbannen wollten.
    "Dass die Christen in Deutschland jetzt zur Position der DC, der deutschen Christen im Dritten Reich zurückkehren, dass die Hebräische Bibel, das Alte Testament wieder verbannen wollen, das wird über kurz oder lang wieder dazu führen, dass es einen arischen Jesus geben soll, wir gucken uns das interessiert an."
    Auch nach Jahrzehnten scheint der jüdisch-christliche Dialog immer noch ein zartes Pflänzchen zu sein, befürchtet Nachama. Sonst könnte solch längst als überwunden geglaubte christliche Theologie gegen die jüdische Religion nicht wieder – wie jetzt bei Slenczka – artikuliert werden. Das sieht so ähnlich auch Alexander Deeg, Professor für Praktische Theologie an der Universität Leipzig. Es brauche in der Kirche mehr Wertschätzung für die Hebräische Bibel.
    "Texte auch zu lesen die auf den ersten Blick verstören, die als fremde Texte erscheinen und vielleicht gerade deshalb ganz neue Perspektiven eröffnen können."
    Für den Kulturprotestantismus stand fest: Im Alten Testament sei der strafend zornige Rache-Gott Israels am Werk, und im Neuen Testament der gnädige Gott. Doch diese Behauptung stimme so nicht und müsse als überholt gelten. Allein schon die Formel "Auge um Auge, Zahn um Zahn" ziele eben nicht auf archaische Blutrache, sondern geradezu modern auf einen humanen Rechtsausgleich auf materieller Ebene. Will man also die ganze Tiefe und Fülle der monotheistischen Religion erfahren, so seien Christen auf das Alte Testament geradezu angewiesen.
    "Ich denke vor allem auch an das Gottesbild. In der Tat kann es eine Gefahr geben, dass vor allem wir Christenmenschen uns ein viel zu einfaches Bild des immer lieben und irgendwie gnädig zugewandten Gottes bauen und dann brauchen wir Texte aus dem Alten und aus dem Neuen Testament und zeigen wie ein Gott, der als Richter der Gerechte und doch zugleich der Gnädige ist, sowohl realistischer als auch hoffnungsfroher ist als ein zu einfaches Bild."
    So komme der heutigen Theologie die Aufgabe zu, die Bibel der zwei Testamente wieder stärker ins Bewusstsein zu rücken. Denn was von den Gläubigen wertgeschätzt werde, stehe jenseits theologischer Debatten kaum in der Gefahr, in Vergessenheit zu geraten oder gar aus dem christlichen Kanon entfernt zu werden.
    "Ich erlebe unglaublich viel Begeisterung, dass Menschen sich beispielsweise einen Taufspruch aussuchen für ihr Kind, denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen. Und wenn ich dann sage, das ist schön, das ist aus dem Alten Testament, dann sagen Menschen ach was, Altes Testament, ehrlich, hätt ich gar nicht gedacht, dass da so schöne Texte drinstehen."