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"Die Tiefe des Raumes"

Nichts weniger als ein Fußballoratorium sollte es sein. Etwas besonderes für die RuhrTriennale unter Leitung von Jürgen Flimm und etwas ganz besonderes aus der Kultur für die Weltmeisterschaft 2006. Das, was die Volksseele der Deutschen und der Menschen im Ruhrgebiet ausmacht, sollte zu einem großen Abend zeitgenössischer Musik nobilitiert werden. "Die Tiefe des Raumes" hieß das Werk des Komponisten Moritz Eggert, Libretto: Michael Klaus.

Von Frieder Reininghaus |
    Zum Anpfiff setzt eine Piccoloflöte auf dem letzten Loch das Signal für einen akustischen "Blick in die Katakomben" und auf eine Landschaft, die schon vor dem ersten Anstoß bebt. Große Namen der Fußball- und Vereinsgeschichte werden beschworen: Helmut ... Uwe ... Karl-Heinz ... Hansi ... Gerd – sogar Radenkovic und schließlich, in einer atemberaubenden Sopran-Arie, der unvergessliche Trappatoni.

    Weißes Hemd und grüne Hose. Rotes Hemd mit weißem Brustring, schwarze Hose, schwarze Stutzen. Der Chor wölbt sich auf:

    "Dumpfbrausend wie des Meeres Wogen,/ Von Menschen wimmelnd, wächst der Bau,/ In weiter stets geschweiftem Bogen,/ Hinauf bis in des Himmels Blau!"

    Das 0:1 ist zum Heulen, der Ausgleich hochverdient.

    Der Text des "Fußballoratoriums" stammt von Michael Klaus aus Gelsenkirchen. Er gibt sich so ungeniert treu- und offenherzig wie das sich allsamstäglich in der Wirklichkeit entladende Seelenleben der Fans und stimuliert ein akustisches Ereignis nach dem anderen, für das Moritz Eggert auf musikhistorisch höchst bewanderte Weise sorgt. Dutzende von Kehlen stöhnen, raunzen, brüllen und singen – und das dann ganz überwiegend in gediegen tonalen Weisen – von Freud und Leid auf dem Spielfeld, in den Kabinen und Duschräumen des Stadions oder von der Wahrnehmung der angespanntesten Spannung im Ringen um den Sieg draußen im Lande. Nicht zufällig gehört der Rekurs auf die Live-Konferenz des Radios zu den wichtigen Stilmitteln des Montage-Werks. Natürlich kommt, bedrängt vom Orchester, auch der Trainer zu Wort.
    Die von Michael Klaus und Moritz Eggert aufgebotenen literarischen und kompositorischen Mittel greifen weit in die Geschichte aus. Die Form der Szenenfolge, die sich der rasch zu erzählenden Biographie eines typischen Profifußballers entlang hangelt, ist an die des barocken (geistlichen) Oratoriums angelehnt.

    Die Tugend, allegorisch korrekt in Sopranlage angesiedelt, tritt in konzertante Konkurrenz zum Laster in Gestalt einer Mezzosopranistin; dem als Heldentenor brillierenden und sinnierenden Spieler steht ein in Bassregionen angesiedelte Reporter gegenüber. Zu diesen vier singenden Solisten kommen drei sprechende, unter denen Peter Lohmeyer als Alt-Internationaler mit obligatem Bierkasten den dankbarsten Part hat.

    Ein eigens für den festlichen Anlass rekrutierter Chor mit vier Dutzend kräftigen Sängerinnen und Sängern marschiert in Fan-Kleidung auf, intoniert nicht nur Schlachtenbummlergesänge, sondern auch barockisierende Fugen und philharmonischen Triumphgesang. Instrumentalsolisten und die Bochumer Symphoniker unter der Leitung ihres Chefdirigenten Steven Sloane unterfüttern die große akustische Kulisse mit Anspielungen auf Richard Strauss und anderes musikalisches Heldenleben, rhythmisieren aus dem Geiste Carl Orffs oder gleiten in Musical-Sound aus, schlagen auch einmal in voller Breite mit einem Cluster zu.

    Das Lokalkolorit triumphiert. Doch nimmt das Oratorium von Klaus und Eggert vom Fußball als Millionengeschäft so gut wie keine Notiz: Kein Wort von den bestochenen Schiris und den in U-Haft sitzenden ARD-Sportredakteuren. Vom Biss, den Harald Schmidts Kommentierung des Papstbesuchs in Köln entwickelte, ist der Bochumer Referenztext meilenweit entfernt. Und die Musik, die zum Beispiel Giorgio Battistelli zu Fellinis "Prova d'orchestra" nachkomponierte, erscheint ungleich avancierter und zeitgemäßer als die tonale Befangenheit von Eggert.

    Mauricio Kagel demonstrierte mit seiner "Sankt-Bach-Passion", wie sich auf hohem Niveau verehrungsvolle Würdigung einer großen Leistung mit kritischem Blick auf Sozialgeschichte verbinden und zu einem Oratorium von Rang erheben lassen. So wird schließlich die "Tiefe des Raums", die hier in abgründiger Weise Thema war, gänzlich verfehlt und es geht so apologetisch ab, wie es wohl nach dem Willen des Auftraggebers und der im Hintergrund winkenden FIFA sein sollte. Die Ruhr-Region aber ist stolz auf diese Art einer altgolden glänzenden neuen Heimatkunst. Bochumer Barock.