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"Die tote Stadt"

Erich Wolfgang Korngolds im zarten Wunderkindalter von 23 Jahren geschriebene Oper "Die tote Stadt", uraufgeführt mit einigem Erfolg 1920 in Hamburg und Köln, ist heute keine Entdeckung mehr. In den 80-er und 90-er Jahren war das attraktiv finstere Psychodrama um Liebe und Projektion einige Male mit guten Gründen wiedererweckt worden. Dass der frühreife Autor und designierte österreichisch-jüdische Mozartnachfolger Erich Wolfgang Korngold 1938 in die USA emigrierte und in Hollywood Oskars für Filmmusiken gewann, wurde immer miterzählt, auch weil man so die Oper ganz gut in die Nähe des Kinos rücken konnte. Und ein Hitchcock hätte an dem Plot sein Freude gehabt, der die erstarrte Liebe zu einer toten Frau mit der "toten", weil versandeten Stadt Brügge synchronisiert. So hat Günter Krämer 1986 seine tote Stadt gleich mit vervielfältigten Hitchcockblondinen bevölkert. Nun ist die Oper in Salzburg zu sehen.

Von Frieder Reininghaus |
    Allein in den letzten fünf Jahren nutzten mehr als ein Dutzend Opernhäuser aller Kaliber die Gunst der zwei schwülen Stunden, die Korngolds "Tote Stadt" gewährt - und Donald Runnicles sorgt nun auch im kleinen Salzburger Festspielhaus für eine gebührende Dröhnung. Aber Schmackes muss wohl sein, wenn sich diese Kunst ergießt, auf dass sie neuerlich zu Herzen fließt.
    Georges Rodenbachs Brügge-Roman von 1892, in dem die Probleme eines dekadenten Bürgertums auf die Stadt und ihr Bild übertragen wurden, umgekehrt sich auch der Niedergang der Kommune im Seelenleben projiziert fand, endet düster und ohne Hoffnung. Erich Wolfgang Korngold und sein als Librettist tätig werdender Vater, der Musikkritiker Julius Korngold, bewiesen richtigen Theaterinstinkt, als sie der Oper den Untertitel "Triumph des Lebens" verpassten und das depressive Ende offen gestalteten - als Aufbruch des Monsieur Paul, dem das Hauptaugenmerk gilt, ins Offene, ins Freie.

    Wolfgang Gussmann hat eine schwarze Schuhschachtel bereit gestellt mit vielen schriftlichen Hinweisen aus dem Text, die aber nur mit dem Opernglas zu lesen sind; bestückt nur mit zwei schweren Sesseln und gedeckelt von einem weißen Stuck-Plafond. Dieser Raum wird als "Kirche des Gewesenen", in dem Herr Paul seine verstorbene Frau Maria anbetet, nicht so recht plausibel - trotz des großen Marienbilds. Dass es dem Stück auf die effektivste Weise um tiefer liegende Bewusstseinsschichten geht, wird deutlicher durch die Verdopplung dieses Raums - um die Hälfte verkleinert erscheint er hinter der zeitweise durchscheinenden Rückwand; die Haltungen und Bewegungen von Herrn Paul und dem zu Besuch kommenden Freund Frank treten auseinander. Sieht man von drei vergrößerten Spielzeug-Häuschen ab, so verweist nichts auf eine niedergehende Stadt und auf Brügge schon gar nichts. Wie aus dem Niemandland kommen die durchreisenden Theater-Leute in ihrer historistischen Schönheit und mit ihnen Marietta, die Tänzerin, die Herr Paul in die Rolle der immer noch so geliebten früheren Frau drängt, mit der er neues Glück sucht und zumindest heißen Sex hat.

    Angela Denoka verkörpert die magere Ballettratte so überzeugend, wie sie die exaltierte und emphatische Partie der Marietta großartig singt - wie bereits in Strasbourg und Paris nimmt sie den Kampf gegen die übermächtige Tote mit den lebendigen Mitteln ihres Gesangs auf. Und auch Torsten Kerl, bei diesen früheren Produktionen bereits ihr Partner, beglaubigt mit seiner verhalteneren Stimme aufs Neue den von Dekadenzsymptomen heimgesuchten selbstverliebten Trauernden, in dem sich die Begierden anstauen.

    Den Katholizismus Brügges und seine demonstrativen Erscheinungsformen karikiert Willy Deckers Inszenierung mit probat plakativen Mitteln und einschlägiger Kostümierung. So rundet sich die Produktion zu einem wirklich schönen und immer wieder auch einigermaßen unterhaltenden Abend. Die Beklemmungen aber und die Verklemmungen, auf die Rodenbachs Roman vor gut hundert Jahren zielte, erscheinen durch die doppelte Übertragung in die Opernsphäre und nun in ein glattpoliertes und schönheitsgestyltes Festspiel-Milieu nur noch als dekorative Nebensache. Welch ein Chance aber hätte sich eröffnet, wenn gerade in Salzburg Schlüssel-Sentenzen des Werks ernst genommen worden wären wie Pauls Klage: "Ein Traum hat mir den Traum zerstört". Statt Traumzerstörung - Weiterdösen. Decker hat wieder einmal den mittleren Geschmack abgedeckt, die radikalösen Momente des Werks geglättet, nicht pointiert.