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Die Tragödie eines Volkes

Der erste Eindruck ist gewaltig: Vor dem Leser liegt ein fast zwei Kilo schwerer, schwarz-rot gebundener Prachtband mit knapp 1000 Seiten, davon allein 100 für einen Anhang mit Bibliographie, Glossar, Register, Karten. Beim Durchblättern fällt der Blick auf seltene Schwarzweiß-Photographien: eine Dorfversammlung unter freiem Himmel, feine Abendgesellschaften, Aufmärsche, Kindersoldaten auf Zügen, und schließlich Lenin, todkrank, mit hervorquellenden Augen. Das Gewicht der Tragödie, ihre vielen Gesichter sind da mit Händen zu greifen.

Sonja Zekri |
    Was bis heute über die Russische Revolution geschrieben wurde, füllt Bibliotheken. Erst vor fünf Jahren erschien Richard Pipes dreibändige Geschichte der Revolution. Was soll da noch kommen? Figes Werk greift weit aus, beginnt 1890 und endet 1924 mit der "Kommission für die Unsterblichmachung”, die den toten Lenin einbalsamierte. Dazwischen fließt ein mächtiger narrativer Strom, der alle wichtigen Ereignisse, alle bedeutenden Strukturen und Figuren der Epoche umfaßt. In jeder Hinsicht erweist sich der noch nicht vierzigjährige Cambrigde-Professor der überwältigenden Stoff-Fülle gewachsen. Doch sein Werk überrascht vor allem durch die Form. Mit der historischen Erzählung belebt Figes ein historisches Genre wieder, das hierzulande aus der Mode gekommen ist.

    Mit dem präzisen Strich des Reporters zeichnet Figes die dramatischen Szenen der Epoche nach. Er beschreibt nicht nur Kleidung, Personen und Orte, sondern auch Geruch, Geschmack und Klang der Revolution: den Geschützdonner des ersten Weltkrieges, das madige Fleisch auf dem Panzerkreuzer Potjomkin, den Gestank der Bauernkaten, das billige Parfum Rasputins.

    Bereits auf den ersten Seiten wird klar, hier ist kein wissenschaftlicher Taschenspieler am Werke, der mit Anekdoten Argumentationslücken bedeckt. Figes breitet seinen Detailreichtum nie ohne historische Absicht aus. Die Dreihundertjahrsfeier der Romanows, mit der er sein Buch beginnt, zeigt die Dynastie im Februar 1913 auf dem Gipfel morbider Pracht und religiöser Verblendung.

    "In der Kathedrale war Rußlands herrschende Klasse versammelt: Großfürsten und Fürsten, Senatoren, Minister, Staatsräte, Duma-Abgeordnete, Generäle. Kaum eine Brust ohne eine Reihe glänzender Orden, kaum ein Beinpaar ohne Säbel. Alles funkelte im Kerzenlicht - die silberne Ikonostase, die juwelengeschmückten Mitren der Priester und das Kristallkreuz. Mitten in der Zeremonie flogen zwei Tauben aus der Dunkelheit des Gewölbes herab und schwebten einige Augenblicke über den Häuptern des Zaren und seines Sohnes. Im Überschwang religiöser Begeisterung interpretierte Nikolai das als Zeichen des göttlichen Segens über dem Hause Romanow."

    Natürlich war das Haus Romanow alles andere als göttlich gesegnet. Den Weg bis zum Ende der Dynastie und zum Ende Rußlands will Figes nicht als Wirkung abstrakter Kräfte, sondern als Folge menschlichen Handelns sehen. Ideen, so bemerkt er, hätten schließlich keine Beine. Und so ersetzt er die Ideen- und Theoriegeschichte durch eine Historiographie, die allein durch ihre narrative Kraft überzeugen will.

    Figes Protagonist ist das "Volk”. Und das sind einmal nicht nur die bolschewistischen Arbeiter, sondern ein überaus heterogenes Sozialgefüge aus Bauern, Bürgern, Soldaten und Adeligen, deren unterschiedliche Interessen- und Einflußsphären er exakt wiedergibt. Dieses Volk, so Figes Grundannahme, hat die Revolution nicht nur erlebt und erlitten, sondern auch gestaltet und somit verantwortet - und sei es nur durch die Weigerung, sich einer Seite anzuschließen.

    Die Leser durchschreiten die Weiten der Revolutionsepoche an der Seite einer klug ausgewählten Schar historischer Figuren. Zar Nikolai II., der sich mit bemerkenswerter Borniertheit an den Gedanken einer volkstümlichen Autokratie wie zu Zeiten Moskowiens klammerte, seine hochnäsige Frau und die spiritistische Clique um den Wunderheiler Rasputin. Und natürlich der berühmte General Brussilow, der aus Liebe zur Armee und zu Rußland erst für den Zaren und später für die Bolschewiken kämpfte. Lwow und Kerenski, der erste und der letzte Premierminister des zaristischen Rußlands.

    Aber Figes hat nicht sieben Jahre in Rußland verbracht und nach der Perestroika Archive durchstöbert, um sich auf die historische Prominenz zu beschränken. Er hat Tagebücher, Notizen und Briefe gefunden, die den Leser auf erschütternde Weise Anteil nehmen lassen am Leben der einfachen Leute. Da ist der aufrechte Bauernreformer Semjonow, der gegen die Rückständigkeit auf dem Dorf kämpfte. Nach der Revolution wurde er von einem Vertreter der alten Dorf-Ordnung erschlagen. Oder der Arbeiter Semjon Kanattschikow, der wie Tausende einstiger Bauern in der Stadt erst zur Bildung und dann zum Bolschewismus kam. Figes greift häufig auf mentalitätsgeschichtliche Ansätze zurück, um Motive historischen Handelns zu erklären. Kanattschikows neues Leben beschreibt er als soziale Metamorphose.

    "Er zog in ein eigenes Zimmer, schwor einen heiligen Eid, niemals etwas Stärkeres als Tee zu trinken, und schlug einen rigorosen Kurs der Selbstvervollkommnung ein, um alle Spuren seiner bescheidenen bäuerlichen Wurzeln zu verwischen. Er suchte sich ein neues Image zu geben, um mit ‘diesen jungen städtischen Metallarbeitern’ zu wetteifern, die ‘sich ein unabhängiges Leben verdienten und sich nicht mit Wodka ruinierten’. Er sparte, um sich sein Haar im polnischen Stil schneiden zu lassen und ein modisches Jackett mit Perlmuttknöpfen und eine Mütze mit Samtband zu kaufen, wie sie die Arbeiteraristokraten trugen. Für 15 Kopeken erwarb er sogar ein Buch ‘Selbststudium in Tanz und gutem Benehmen’.

    Immer wieder wechselt Figes die Vogelperspektive mit der Nahaufnahme, kreuzt das persönliche Schicksal mit den großen politischen Strömungen, und verleiht seinem Werk so lebendigen Rhythmus und epischen Glanz.

    Figes Kronzeuge und die tragische Symbolfigur für das Scheitern aller Ziele aber ist Maxim Gorki. Anfangs warb der Schriftsteller für die Revolution, als er aber den zunehmend repressiven Charakter des neuen Regimes erkannte, ging er 1921 ins Exil. Puschkin hatte in seinem berühmten Satz einen "russischen Aufstand, sinnlos und ohne Gnade” prophezeit, und auch Gorki warnte lange vor der Revolution vor dem russischen Furor, der die gesamte Zivilisation in den Abgrund reißen würde:

    "Eine Revolution ist nur dann vernünftig und großartig, wenn sie der natürliche und machtvolle Ausbruch aller schöpferischen Kräfte eines Volkes ist. Wenn sie jedoch nur jene Gefühle und Gedanken befreit, die sich im Volk während seiner Versklavung und Unterdrückung angestaut haben, wenn es sich nur um einen Ausbruch von Erbitterung und Haß handelt, dann haben wir keine Revolution, sondern einen Aufruhr, der unser Leben nicht verändern kann und nur die Grausamkeit und das Übel vergrößert."

    Wie Gorki sieht auch Figes den Schlüssel zur Tragödie in der Rückständigkeit des russischen Dorfes. Fünfzig Jahre nach dem Ende der Leibeigenschaft lebte der russische Bauer noch immer in einer "Rechtsapartheit”. Er durfte nicht einmal sein Dorf verlassen, denn der Rest der Gemeinde mußte dann seine Steuern übernehmen.

    Obwohl Figes Darstellung tief in der sozial- und kulturhistorischen Forschung der vergangenen Jahrzehnte wurzelt, geizt er mit Zahlen und Statistiken. Statt dessen entziffert er die Semantik des bäuerlichen Lebens. Trotzki nannte das Dorf einen Ort der "Ikonen und Kakerlaken”. Die Uniformität, die immer gleichen Kittel und Mützen, Frisuren und Holzhütten drückten nicht nur Dorfsolidarität aus. Sie waren auch das Symbol einer patriarchalen und primitiven Lebensweise. Das Dorf ist bei Figes eine Brutstätte von Gleichheitszwang und Brutalität, und obwohl die Bauern von der Revolution fast zerschlagen wurden, sieht Figes in dieser Dorftradition die Vorbedingung für die späteren Greuel und den unbegreiflichen Terror jener Zeit. Aber bei aller Sympathie für den Versuch, das Volk in die Verantwortung zu ziehen - diese These zeigt das Entsetzen des Kulturmenschen aus Cambridge vor den archaischen Riten der Bauern.

    Mit Recht weist Figes aber darauf hin, daß der Konflikt zwischen Stadt und Land, zwischen den "zwei Rußlands”, wie Herzen sie nannte, den Erosionsprozeß des zaristischen Staates beschleunigte. Auf dem Land herrschte eine instinktive Anarchie, die ihre Wurzeln in der subjektiven Moral des russischen Bauern hatte.

    "Er lebte außer Reichweite der staatlichen Gesetze, und das war es auch, wo er bleiben wollte. Jahrhunderte der Leibeigenschaft hatten in ihm ein tiefes Mißtrauen gegen alle Autorität außerhalb seines Dorfes erzeugt. Was er wollte, war ‘wolja’, die alte bäuerliche Vorstellung von Freiheit und Autonomie ohne Beschränkungen durch irgendwelche Mächte. Je mehr der Staat versuchte, seine bürokratische Kontrolle über das Land auszudehnen, desto mehr suchten die Bauern, ihre Autonomie zu verteidigen. Die Macht des zaristischen Staates drang nie wirklich ins Dorf vor, und das blieb seine fundamentale Schwäche bis 1917, als sie ganz beseitigt wurde und das Dorf seine ‘wolja’ erlangte."

    Es war nicht die einzige Schwäche des zaristischen Regimes. Nikolais bornierte Weigerung, selbst nach den Unruhen von 1905 über eine konstitutionelle Monarchie auch nur nachzudenken, mußte das Land polarisieren. Für den Druck der verspäteten Industrialisierung, die sozialen Forderungen der Arbeiter und die wachsende Unzufriedenheit der Landbevölkerung war das die schlechteste Lösung. Der eiserne Premierminister Stolypin versuchte ein letztes Mal, das Land zu verändern, um die Monarchie zu retten. Er wurde 1911 ermordet.

    Erst der Weltkrieg allerdings ist für Figes der "Architekt der Revolution”. Und zwar nicht, weil Rußland für den modernen Stellungskrieg kaum gerüstet war, sondern weil die Armeespitze glaubte, diese Tatsache ignorieren zu können.

    "Die aristokratischen Generäle führten Krieg nach dem Muster eines Feldzuges des 19. Jahrhunderts und ließen ihre Truppen ohne Rücksicht auf Opfer feindliche Artilleriepositionen stürmen, verschwendeten Ressourcen für die teure und untaugliche Kavallerie, verteidigten nutzlose Festungen im Hinterland und vernachlässigten die technischen Erfordernisse eines modernen Artilleriekrieges. Sie verschmähten die Kunst, Schützengräben zu bauen, da sie meinten, der Stellungskrieg sei unter ihrer Würde.”

    Von Monat zu Monat wurde der Mangel an Winterkleidung, Essen und Munition deutlicher. Mit Emphase beschreibt Figes die wachsende Wut der Soldaten. Seit langem litten sie unter der massiven gesellschaftlichen Diskriminierung. Nun waren sie immer weniger bereit, für die Fehler des Regimes ihren Kopf hinzuhalten. Daß der militärisch unbedarfte Zar 1915 den Oberbefehl übernahm, erkannten deshalb viele als das, was es war: Den vergeblichen Versuch, die Truppen für eine Dynastie zu mobilisieren, die keiner mehr wollte.

    Figes verzichtet auf die Weisheit des Nachgeborenen und die teleologischen Deutungen der kommunistischen Propaganda. Vorhersehbar oder gar unabwendbar waren weder die Revolution im Februar 1917 noch der Militärputsch im Oktober und schon gar nicht die langfristige Etablierung der bolschewistischen Herren.

    So begann die Februarrevolution als spontane Brot-Revolte, bereitet aber den Boden für Rußlands kurzen Sommer der Demokratie. Figes´ Talent zur szenischen Verdichtung, sein Gespür für Gesten und Symbole, für Räume und Massenbewegungen verleihen den oft beschriebenen Vorgängen filmische Intensität.

    "Am Sonntag morgen hatte sich das Zentrum von Petersburg in ein Feldlager verwandelt. Soldatenposten und bewaffnete Polizisten standen an den wichtigsten Kreuzungen und strategischen Gebäuden, Patrouillen ritten durch die Straßen, Offiziere hielten über Feldtelefon miteinander Kontakt, auf dem Schloßplatz aufgestellte Maschinengewehre waren auf den Newski-Prospekt gerichtet, und in den Seitenstraßen standen Ambulanzen bereit. Den Morgen über blieb alles ruhig. Es war Sonntag, und die Leute schliefen aus. Gegen Mittag aber versammelten sich wieder riesige Arbeitermassen in den Vororten und marschierten Richtung Stadtzentrum."

    Die Revolution wird verschoben, weil die Petersburger ausschlafen wollen - dieser menschliche Faktor im großen Weltenlauf ist Figes Hauptmotiv. Übrigens hat er viel Sinn für die historische Topographie. Im Taurischen Palais etwa residierte die Doppelherrschaft der Februarrevolution: Im rechten Flügel arbeitete das Komitee der alten, vom Zaren eingesetzten Duma. In den linken Flügel quartierte sich der neue revolutionäre Arbeiter- und Soldatenrat ein. Dazwischen lagen Welten.

    Im Sommer 1917 schien der demokratische Sozialismus so nah wie nie - und doch so fern. Daß die Februar-Revolution ins Leere lief und Rußland vom "freiesten Land der Welt” zum bolschewistischen Zwangsstaat wurde, ist für Figes vor allem eine Frage fehlenden Willens im Rat, in der Partei und auf der Straße.

    Denn die Menge der Arbeiter und Soldaten war revolutionsbereit, aber führerlos. Die Provisorische Regierung hingegen ignorierte die sozialen Forderungen der Massen. Sie verstieg sich zu immer höheren demokratischen Idealen und zögerte die Wahlen hinaus. Die Menschewiki im Rat schließlich hätten jederzeit die Macht ergreifen können. Aber das marxistische Dogma bremste sie: Erst müsse die bürgerliche Revolution stattfinden, dann könne das Proletariat nach der Herrschaft greifen.

    Und doch bedurfte es nicht nur der Schwäche dieser "Hamlets des demokratischen Sozialismus”, wie Figes sie nennt, sondern auch eines entschiedenen Willens, diese Schwäche auszunutzen.

    "Lenin war nie tolerant gegenüber abweichenden Meinungen innerhalb seiner Partei gewesen. Bei seinem Kampf für die Aprilthesen steigerte sich seine dominierende Haltung zu fast megalomanischen Dimensionen. Krupskaja nannte das seine "Rage” - die Besessenheit ihres Mannes, wenn er Konflikte mit seinen politischen Rivalen austrug. Während solcher Anfälle agierte Lenin voller Haß und Wut wie ein Besessener, dessen Körper sich in einem Zustand extrem nervöser Spannung befand. Er konnte dann weder schlafen noch essen, wurde vulgär und grob in seinem Verhalten. Wenn die Rage abflaute, fiel Lenin erschöpft, teilnahmslos und depressiv in sich zusammen, bis zu einem erneuten Ausbruch.”

    Lenin - ein pathologischer Irrer, der die Partei mit Wutausbrüchen auf Linie bringt - diese Beschreibung dämonisiert den Bolschewiken nicht nur, sie führt rasch zur sozialhistorisch ungeliebten Erkenntnis, daß die Geschichte eben doch von großen Männern gemacht wird. In der Tat aber war es wohl Lenin allein, der gegen den erbitterten Widerstand seiner Partei die Aprilthesen durchsetzte, obwohl sie auf den Bruch mit der provisorischen Regierung hinausliefen. Und Lenin allein drängte die widerspenstigen Genossen im Sommer, ja noch im Oktober zum bewaffneten Aufstand. Der Handstreich verlief zügig, wenn auch etwas grotesk: Nach Figes drohte dem Putsch vor allem Gefahr durch den riesigen Weinkeller im Winterpalais, der die Disziplin der Aufständischen tagelang beeinträchtigte.

    Daß die Bolschewiken sich lange halten würden, glaubten sie selbst kaum. Figes läßt keinen Zweifel daran, daß Lenin sowohl den bald einsetzenden Terror als auch den Bürgerkrieg gezielt nutzte, um die schwankende Herrschaft der Bolschewisten zu stabilisieren.

    Fünf Millionen Menschen starben während der Kämpfe und der folgenden Hungersnot. Nicht die vergleichsweise unblutige Oktoberrevolution, sondern dieses Massensterben ist bis heute das traumatische Erlebnis der Russen. Zum Schlachtfeld wurde vor allem das bäuerliche Rußland im Süden und Südosten. Figes hat über das russische Dorf im Bürgerkrieg seine Dissertation geschrieben. Und in diesem dunkelsten Kapitel des Buches entwirft er ein apokalyptisches Schlachtengemälde, in dem die Fronten selten klar erkennbar waren. Neben den Roten und den Weißen kämpften bald auch die Grünen, die aufständischen Bauern. Die Menschen erlebten dies aber nur als Terror unterschiedlicher Couleur, aber vergleichbarer Intensität.

    Daß es den Weißen nie gelang, die Vorbehalte der Bauern gegen die Bolschewiki zu nutzen, hatte nach Figes nicht militärische, sondern politische Gründe. Sie fanden keine schlüssigen Antworten auf die Kernfragen des Konfliktes - Land und nationale Autonomie - und glaubten noch immer an einen ganz "normalen” Krieg.

    "Dabei ließen sie aber die grundlegende Tatsache außer acht, daß in jeglichem Bürgerkrieg die Fähigkeit der Armee, die Ressourcen der Bevölkerung zu mobilisieren, zwangsläufig den Ausgang des Kampfes bestimmt. Den Weißen gelang es nicht, eine praktikable Politik zu entwerfen, die eine demokratische Mobilisierung bewirkt hätte. Sie betrachteten sich als Vertreter des alten russischen Staates im Exil und stellten alles politische Handeln zurück, bis sie nach einem Sieg in die Hauptstadt zurückkehren könnten. Nie haben sie begriffen, daß dieser Sieg davon abhing, daß ein neuer Typus Staat geschaffen wurde."

    Figes attestiert den Bolschewiken zwar wachsende militärische Schlagkraft, allerdings folgt auch er den jüngeren Erkenntnissen der Forschung, daß der Sieg der Roten vor allem auf blanken Terror zurückzuführen ist - notdürftig verbrämt durch die Zeichen der Revolution. Die Geheimpolizei Tscheka ermordete Hunderttausende, bei den Getreiderequisitionen ließ die Rote Armee den Bauern nicht einmal das Saatgut für die nächste Ernte. Die anschließende Hungerkatastrophe war so entsetzlich, daß mancher auch vor Kannibalismus nicht zurückschreckte. Man müsse Schluß machen mit dem "Popen- und Quäkergeschwätz über den heiligen Wert des menschlichen Lebens”, hatte einst Trotzki gefordert. Das war längst geschehen.

    Es wundert nicht, daß Figes´ Urteil über die bolschewistische Zivilisationsleistung vernichtend ausfällt. Die Alphabetisierung, die "Elektrifizierung” des Landes, die Liberalisierung der Wirtschaft während der Neuen Ökonomischen Politik, alles das wird von linken Historikern oft zu Lenins Entlastung angeführt. Für Figes aber kann die Glühbirne, die zu Ehren Lenins übrigens Iljitsch-Lämpchen genannt wurde, nicht die Verbrechen eines Regimes sühnen, das seinen Menschen so viel versprach und so viel genommen hat.

    "Die Tragödie eines Volkes” ist ein Leseereignis, düster und streng wie eine Fuge. Aber es ist nicht makellos. Daß Figes auf die Ergebnisse der deutschen Forschung verzichtet, läßt sich wohl nur konstatieren. Die Skizzen der künstlerischen Avantgarde und die Darstellung der bolschewistischen Alltagskultur mit roten Hochzeiten und neuen Namen wie "Diktatura” und "Terrora” sind amüsant, bleiben aber unter dem Niveau des Buches. Bei der Übersetzung stören gelegentliche Anglizismen: Es gibt im Deutschen kein "ottomanisches” Reich, nur das "osmanische”.

    Und es bleibt die Frage, ob Figes "liberaler” Ansatz seinem Thema überhaupt gerecht werden kann. Die Ideen, die Theorien der Revolution, um die so lange erbittert gestritten wurde, lassen sie sich so einfach im Humanismus auflösen? Sind die ideologiefreien Kleine-Leute-Geschichten ein Ersatz für die politiktheoretische Deutung dieser Zeitenwende? Figes Buch ist die Synthese der zahllosen, auch analytischen Stränge der Revolutionsforschung, es destilliert, wählt aus, verknüpft. Die theoretische Auseinandersetzung aber fehlt. Der Kommunismus als Idee ist für Figes nicht mehr diskussionswürdig. Mehr als achtzig Jahre nach dem roten Oktober bleibt die Erinnerung an die menschliche Katastrophe. Figes hat denen Gestalt und Stimme gegeben, deren Schicksale sich sonst hinter anonymen Zahlenreihen und analytischen Konstruktionen verbergen. Das ist sein Verdienst. Den Menschen ganz von seinen Ideen zu trennen, führt indessen wieder zur Marxschen These, allein das Sein bestimme das Bewußtsein.