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Die türkischen Medien und der NSU-Prozess

Während es hierzulande das Top-Thema ist, wurde der NSU-Prozess in der Türkei lange stiefmütterlich behandelt. Die Morde im fernen Deutschland waren den meisten Medien nicht mehr als eine Meldung wert. Erst die Sitzplatzvergabe änderte das.

Von Luise Sammann | 06.05.2013
    Manch eine Fahne hängt dieser Tage am Bosporus auf Halbmast, manch ein Cafébesucher nippt mit trüber Mine an seinem Glas Cay. Der Grund: Fußballklub Fenerbahce ist in der Europaliga ausgeschieden!

    Fulya Canşen zuckt mit den Schultern. Na und? Die deutsch-türkische Journalistin interessiert im Moment nur ein Thema: der NSU-Prozess in München. Doch damit ist sie ziemlich allein.

    "Die Menschen auf der Straße haben keine Ahnung davon. Ja, weil die türkischen Medien kein Interesse hatten. Hürriyet – diese großen Zeitungen, die haben darüber sehr oft berichtet, aber in deutschen Auflagen, nicht in den türkischen. Deswegen haben die Leute keine Ahnung."

    Die Journalistin, die zwischen Deutschland und der Türkei pendelt und die Debatte in beiden Ländern verfolgt, weiß, wovon sie spricht. Schon vor Monaten ging sie zu ihrem Chef bei einem der größten Nachrichtensender der Türkei und schlug vor, den NSU-Prozess in München mit einem Kamerateam zu begleiten. Doch der Chef winkte ab.

    "NSU-Prozess, also das war für sie kein Begriff damals und mein Chef hat gesagt, hm, Fulya, ich glaube, wir schicken dich nicht dahin. Ja, weil das Thema nicht interessant kam, so irgendwie. Also, sie haben gar nicht verstanden, was da los ist."

    Typisch, findet der Politikjournalist Aydin Engin, der das Thema für die türkische Internetzeitung T24 verfolgt. Überrascht hat ihn das Desinteresse kaum.

    "Das Ganze spiegelt den Blick der Türkei auf die 2,5 Millionen Türken in Deutschland: In den 70ern und 80ern schickten diese Auslandstürken noch Geld in die Türkei, kauften hier Land oder Häuser. Aber das ist inzwischen viel weniger geworden. Türkischstämmige Deutsche sind damit nicht mehr so wichtig auf der hiesigen Agenda."

    Während Politiker wie Ministerpräsident Erdogan bei ihren Deutschlandbesuchen weiterhin gern die türkische Identität der Deutschtürken betonen, sähen die meisten seiner Landsleute die Kinder und Enkelkinder der einstigen Gastarbeiter längst als Deutsche, so Journalist Engin. Wenn sie im Sommer an die Strände von Antalya kommen, falle dort als Erstes ihr schlechtes Türkisch auf.

    "Ein Zeichen für dieses sinkende Interesse ist, dass große türkische Zeitungen ihre deutsche Auflage eingestellt haben. Milliyet zum Beispiel. Und man sieht es jetzt auch am NSU-Thema: Das gilt hier einfach nicht als besonders wichtig. Es wurde als "Dönermörder"-Geschichte abgehandelt, ohne irgendwelche Hintergründe und nur mit ein paar Fotos."

    Erst die Nachricht, dass kein türkischer Journalist im Münchener Gerichtssaal sitzen würde, änderte alles. Eben noch ein deutsches, war das Thema nun plötzlich ein türkisches. Zahlreiche Chefredakteure beschlossen, jetzt doch Reporterteams zum Prozessauftakt nach München zu schicken.

    "Da lief das Thema dann über die Nationalismusschiene, nach dem Motto: Weil die Deutschen keine Türken mögen, bringen sie sie nicht nur um, sondern sie schließen uns auch noch vom Prozess aus."

    Journalistin Fulya Canşen meint gar:

    "Also, ich glaube nicht, dass die wirklich darüber berichten wollten, sondern die wollten einfach mal da rein. Und deswegen haben sie dann irgendwie dafür gekämpft. Ja, weil die türkischen Kollegen sehr beleidigt gefühlt oder so irgendwie sich diskriminiert gefühlt."

    So oder so: Aus der Randnotiz NSU-Prozess ist damit auch in der Türkei ein Thema geworden. Gut so, findet Journalistin Canşen. Nach den Ermittlungspannen der vergangenen Jahre gilt für sie beim Thema NSU: Lieber zu viel Aufmerksamkeit als zu wenig!