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Die Überwindung des Schockzustands

Es musste viel passieren, bis sich die Niederländer so abrupt von ihrer langjährigen Minderheitenpolitik abwandten. Im öffentlichen Bewusstsein waren die Schattenseiten allzu lange ausgeblendet worden: Die Radikalisierung vieler junger Muslime. Die Gewaltbereitschaft im Zeichen des politischen Islam. Die Getthoisierung ganzer Stadtteile. Die Rückzugstendenzen der muslimischen Gemeinschaft, die im übrigen immer weiter wächst: In Städten wie Amsterdam, Utrecht oder Den Haag werden die Einheimischen in zehn Jahren in der Minderheit sein.

Von Kerstin Schweighöfer |
    Rotterdam hat schon jetzt einen Ausländeranteil von fast 50 Prozent. Und kehrte als erste Stadt der Niederlande zur Praat-Kultur zurück: zur Kultur des gemeinsamen Gesprächs.

    Die Garderobieren im Rotterdamer Welthandelszentrum haben alle Hände voll zu tun; lange Schlangen auch vor den Theken, wo Kaffee und Tee gereicht werden. Schon eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung sind die Stuhlreihen im Foyer bis auf den letzten Platz besetzt; viele Zuhörer müssen sich mit Stehplätzen zufrieden geben.

    Egal, ob Zuwanderer oder Einheimische, Muslime, Christen oder Atheisten, Hochschulprofessoren oder einfache Hafenarbeiter: Hunderte von Rotterdamern wollen an diesem Abend über Integration und den Islam debattieren. Erwartungsvoll sitzt der 78-jährige Rentner Chris Knoll mit seiner Frau in einer der vorderen Reihen:

    Er wolle einfach mehr über den Islam erfahren, betont der charmante weisshaarige Mann. Es sei so wichtig, dass ein Dialog zustande kommt.

    In Rotterdam würden 80.000 Muslime leben, erklärt seine Frau Loes.
    Da müsse man einfach in Kontakt kommen und lernen, miteinander umzugehen.

    Die Knolls sind es müde, immer wieder hören zu müssen, wie schlecht die marokkanischen Jugendlichen seien. Als gebe es keine einheimischen Problemkinder!

    Natürlich sei die Radikalisierung der muslimischen Jugend ein Problem:
    Aber, so der ältere Herr: "Viele seiner Mitbürger sollten einmal in den Spiegel gucken! Man dürfe nicht vergessen, dass auch die niederländische Gesellschaft immer radikaler werde!"

    Der Bürgermeister ist eingetroffen: Er heisst Ivo Opstelten und hält das Grusswort:

    "In Rotterdam reden wir nicht übereinander, sondern miteinander", betont er. "Wir wagen es, den Dialog anzugehen und darauf bin ich stolz."

    Von einem Miteinander allerdings kann vorerst keine Rede sein. Viele Bürger haben das Bedürfnis, ihrem Unmut freien Lauf zu lassen. Einige werden sogar so aggressiv, dass der Moderator eingreifen muss:

    Als ein muslimischer Mann sich beschwert, dass der Islam in den Niederlanden in den letzten fünf Jahren dauernd beleidigt werde, zieht er sich den Zorn einer Einheimischen zu:

    Dieser Kerl sei kaum zu verstehen, so schlecht spreche er nederlands, schimpft die Frau, der wolle doch nur provozieren und gebe Unsinn von sich:

    Vor allem die Alteingesessenen sparen nicht mit Vorwürfen: Wer in den Niederlanden leben wolle, müsse die Sprache lernen und arbeiten. "Wenn ihr nicht dazugehören wollt, warum kommt ihr dann?" fragt eine junge Frau.

    Das Beste sei es ohnehin, die Grenzen für ein paar Jahre dichtzumachen, so ein junger Mann:

    Aber auch muslimische Mitbürger halten mit ihrer Wut nicht hinter den Berg: Der Film "Submission" von Theo van Gogh sei kein einfacher Film gewesen, sondern eine Beleidigung:
    Viele ältere Bürger unter den Einheimischen nutzen die Gelegenheit, um ihr Unbehagen zu äussern: Sie habe zwar nicht wirklich Angst, klagt eine alte Dame, aber manchmal fühle sie sich als Fremde in der eigenen Stadt:

    Und wer sich nicht anpassen wolle, der müsse in sein eigenes Land zurückkehren:

    Doch auch wenn die Atmosphäre zuweilen grimmig wird: Das gehöre einfach dazu, sagen viele. Dadurch kläre sich der Himmel wieder auf, wie nach einem Gewitter, meinen auch die beiden marokkanischen Studentinnen Farida und Fatiha. Sie beweisen, dass Kopftuch und Lippenstift zueinander passen und strafen das Klischeebild der unterdrückten und misshandelten muslimischen Frau Lügen:

    Solange du nicht weisst, was der andere denkt, kannst du dich auf Vorurteilen ausruhen und dich beschweren, dass dich niemand versteht, deshalb sind solche Abende sehr wichtig, Wir müssen sagen, was wir denken, und uns auch anhören, was andere denken!

    Es wird Zeit, dass die Niederländer erkennen, dass es auch gut ausgebildete muslimische Frauen gibt, die sich integriert haben! So wie wir zum Beispiel. Wir sind beide noch nicht verheiratet, und, man stelle sich vor: Wenn wir es wollten, dürften wir unseren Partner selbst auswählen!