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Die unentbehrliche Fiktion

1981, im Alter von 70 Jahren, lebte der Schweizer Schriftsteller Max Frisch in New York. Aus dieser Zeit stammen zwei Vorlesungen über Poetik, die Frisch auf Englisch am City College of New York hielt. Sie sind nun erstmals in deutscher Übersetzung erhältlich.

Von Martin Krumbholz | 17.12.2008
    Das Interessante an diesen beiden New Yorker Vorlesungen ist, dass der 70-jährige Frisch in ihnen spricht, als schreibe er Tagebuch; zwar handelt es sich um ausgearbeitete, sorgfältig ins Englische übersetzte Manuskripte, aber man merkt ihnen an, wie Frisch den Duktus eines Selbstgesprächs quasi ins Dialogische öffnet. Sein Monolog denkt den Partner, den Zuhörer mit. Das macht diesen schmalen Text äußerst lebendig. Es handelt sich natürlich nicht, was Frisch betont, um ein theoretisches Manifest im engeren Sinn. Am Rande mokiert Frisch sich über Robbe-Grillet, dessen Theorie eines "nouveau roman" bestechend klänge, aber langweilige Prosa hervorgebracht habe. Dahinter steht Frischs Überzeugung, dass Theorie eben keine Kunst erzeuge. Brecht zum Beispiel - er ist stets Frischs erhabenster Kronzeuge - sei kreativ genug gewesen, sich seiner Theorie dialektisch zu widersetzen.

    Im Mittelpunkt der ersten Vorlesung steht der Gedanke, dass Fiktion unentbehrlich sei. Das Thema - offenbar nicht vom Autor selbst gewählt - lautete ursprünglich "Impuls und Imagination". Man spürt, dass Frisch vor dem etwas erhabenen Begriff Imagination Respekt hat. Er grenzt ihn von "Fantasie" ab, ersetzt ihn vorläufig dann durch Fiktion. Das ist der Schlüsselbegriff. "Ausdrücken kann mich nur das Beispiel, das mir so ferne ist wie dem Zuhörer: nämlich das erfundene", sagt Frisch. Es handelt sich hier um ein Zitat aus dem Tagebuch 46/49, das Frisch ausdrücklich bekräftigt. "Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben", sagt er. Das ist das Thema des Romans "Stiller". Aus "Gantenbein" stammt der Satz: "Ich probiere Geschichten an wie Kleider." Es ist die berühmte, mit dem Namen Frischs immer wieder konnotierte Identitätsproblematik, die hier im Grunde vom Existentiellen heruntergebrochen wird aufs Ästhetische. Da er sein wirkliches Leben nicht erzählen kann, probiert der Schriftsteller Geschichten aus und prüft, ob sie sein Leben ausdrücken. "Schreiben heißt, sich selber lesen." Auch das stand bereits im Tagebuch 46/49. Denn es gibt keine Fiktion, die nicht auf Erfahrung beruht. Wenn Sie mir 77 erfundene Geschichten erzählen, sagt Frisch seinen Zuhörern, haben Sie mehr von sich verraten, als wenn Sie mir Ihre Biografie erzählen. Am Schluss kommt Frisch doch noch einmal auf den Begriff Imagination zurück. "Imagination bleibt haften", sagt er und nennt als prominente Beispiele Kafkas "Verwandlung" und Büchners "Woyzeck". Und Frisch schließt mit der Feststellung, Fiktion sei noch lange nicht Imagination.

    Die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion der Literatur - Thema der zweiten Vorlesung - spitzt Frisch zu auf die Frage: "Was vermag Literatur?" Denn nur, wenn Literatur überhaupt etwas vermöge, könne man von ihrer gesellschaftlichen Relevanz sprechen. An sein amerikanisches Publikum adressiert, bemerkt Frisch, er habe den Eindruck, in den USA sei die Versuchung geringer, von der Literatur eine direkt-politische Wirkung zu fordern. Frisch als Europäer lässt allerdings die Frage nach der Potenz der Literatur nicht los, und wie er zuvor den Begriff "Imagination" durch "Fiktion" ersetzt hat, ersetzt er nun die hochkomplexe Frage nach dem Vermögen der Literatur durch den - vielleicht etwas unverbindlicheren - Begriff Utopie. "Die Literatur liefert (implizite)", sagt Frisch, "die Utopie, dass Menschsein anders sein könnte."

    Er sagt nicht präzise, was die Literatur gesellschaftlich vermag, aber er legt sich auf die These fest, dass sie mehr vermöge, wenn sie nicht direkt-politisch sei. In diesem Punkt rückt Frisch dezidiert von früheren Positionen ab; er bezeichnet die frühere Haltung sogar als Fehlleistung seines "politischen Commitments". Nun, 1981, gelte, dass politisches Vokabular, und zwar sowohl das marxistische als auch das des "kapitalistischen Liberalismus", allenfalls noch für jemanden ausreiche "who is running for president". "Geht einmal euren Phrasen nach bis zum Punkt, wo sie verkörpert werden", zitiert Frisch Büchner in "Dantons Tod".

    Zum Schluss erzählt Max Frisch die Anekdote oder besser gesagt das nicht-fiktive Erlebnis eines amerikanischen Ambassadors, der in der Eremitage zu Leningrad das offiziell verpönte Schwarze Quadrat von Malewitsch sehen durfte. "Sie brauchen doch Malewitsch nicht im Keller zu verstecken, das Volk würde ihn gar nicht ansehen", meint der arglose Amerikaner, aber seine sowjetische Führerin belehrt ihn eines Besseren: "Sie irren sich", sagt sie, "das Volk würde sehen, dass es noch etwas anderes gibt als die Gesellschaft und den Staat." Und nach der Fiktion und der Utopie bringt Frisch abschließend einen dritten Begriff ins Spiel: die Poesie. "Die Poesie unterwandert unser ideologisiertes Bewusstsein", stellt er fest, "und insofern ist sie subversiv in jedem gesellschaftlichen System."


    Max Frisch: Schwarzes Quadrat. Zwei Poetikvorlesungen. Hg. Von Daniel de Vin, mit einem Nachwort von Peter Bichsel. Suhrkamp, 93 Seiten, 14,90 Euro