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Die unfassbaren Leben der Paula Fox

Sie ist die große Dame der gegenwärtigen amerikanischen Literatur: Paula Fox hat sechs Romane, zwei autobiografische Erinnerungsbände, 23 Bücher für Kinder und Jugendliche und anderes mehr veröffentlicht. Zeitgleich mit ihrem Erzählungsband erscheint eine Biografie - beides unbedingt lesenswert.

Vorgestellt von Shirin Sojitrawalla | 19.06.2011
    Sie ist die große Dame der gegenwärtigen amerikanischen Literatur: Paula Fox. Mittlerweile hat sie sechs Romane, zwei autobiografische Erinnerungsbände, 23 Bücher für Kinder und Jugendliche und zahllose Geschichten, Artikel und anderes mehr veröffentlicht. Ihr erster Roman "Pech für George" erschien 1967. Ihr zweiter, "Was am Ende bleibt", drei Jahre später erschienen, wurde erst im zweiten Anlauf ein Erfolg. Heute ist es ihr bekanntester Roman, was auch seinem prominenten Fürsprecher Jonathan Franzen zu verdanken ist. Der Schriftsteller machte sich für ihn stark und verhalf ihm auf die Bestellerlisten. Zum Glück, werden alle sagen, die das Buch gelesen haben, gehört es doch zum Besten, was Paula Fox geschrieben hat. Mittlerweile ist sie 88 Jahre alt.
    Unter dem Titel "Die Zigarette und andere Stories" ist nun ein neues Buch von ihr beinahe zeitgleich auf Deutsch und auf Englisch erschienen. Ein disparater Band, der Belangloses neben Grandioses stellt, Erzählungen, Kurzgeschichten und autobiografische Berichte. Allen Anhängern dieser Autorin muss man das Buch nicht eigens empfehlen, alle anderen müssen es nicht zwingend kaufen, lesen freilich schon, enthält es doch durchaus Herausragendes. Wie etwa die Geschichte "Am Meer", in der es Paula Fox meisterhaft gelingt, auf nicht einmal zwei Druckseiten das ganze Grauen des Lebens in einen Kindersonnentag am Meer zu bannen:

    "Die Sandburg, die die drei Kinder gebaut hatten, kippte bereits in die einsetzende Flut. In ihrem Eifer, die Burg zu retten, hätten sie den die niedrige Düne zum Strand hinunterrutschenden alten Mann schwerlich bemerkt, wenn er nicht ein großes Huhn auf dem Arm gehabt hätte, das sich wohlig an ihn kuschelte. Unmittelbar hinter ihm kamen eine alte Frau und mehrere junge Leute, die alle irgendwas trugen, einen Sack Holzkohle, einen Bratrost, Handtücher, einen zusammengeklappten Campingstuhl und dergleichen mehr. Der alte Mann setzte das Huhn ab, und sofort fing es an, zu gackern, zu scharren und mit einer derart sinnlosen Geschäftigkeit den Sand zu verstreuen, dass sich die Kinder, deren Burg inzwischen gänzlich fortgespült worden war, köstlich amüsierten. Während sie wenige Meter entfernt miteinander tuschelten, war den Kindern gar nicht bewusst, dass der Anblick des Huhns am Strand ihnen deshalb ein solches Vergnügen bereitete, weil es sich so treu an den alten Mann hielt, während dieser vornübergebeugt den Bratrost auf einem Halbkreis aus Steinen ausbalancierte, die einer der jungen Männer gesammelt hatte. Diese offenkundige Bindung zwischen Huhn und Mensch, die den Kindern innerlich wohltat – durchgefroren, wie sie waren, nachdem sie so lange im feuchten Sand gesessen und dabei, vertieft in den Bau ihrer Burg, ihre Eltern so gut wie vergessen hatten, jetzt aber, wenn auch unbewusst, nichts mehr wünschten, als von ihnen in den Arm genommen zu werden -, machte ihren Schreck nur noch jäher, als der alte Mann sich das Huhn griff und ihm den Hals umdrehte."

    Das ist schon fast die ganze Geschichte, zum ersten Mal veröffentlicht 1986. Eine Geschichte, in der Paula Fox ihr Talent entblößt, das Große im Kleinen zu offenbaren. Es ist eine für ihr Werk charakteristische Geschichte: Wie unter einem Vergrößerungsglas präsentiert sie ihre Figuren, wobei die Erzählerin als kühle Beobachterin der menschlichen Rasse im Hintergrund bleibt. Und auch die Empathie mit den Kindern, die sich im Mitleiden des kindlichen Schrecks beweist, ist durchaus symptomatisch für Paula Fox, deren eigene leiderprobte Kindheit immer wieder auch das eigene Mitleiden herausfordert. Geboren wurde sie am 22. April 1923 in New York. Ihre vornehmlich mit sich selbst beschäftigten Eltern gaben sie nicht einmal eine Woche nach ihrer Geburt in ein Heim für Findelkinder. Paula wächst mal hier, mal dort auf: bei einer Pflegefamilie, bei einem Pfarrer, wieder bei den leiblichen Eltern, bei ihrer Großmutter, in Amerika und auf Kuba. Sie wird herumgereicht, wie kein Kind herumgereicht werden möchte. Es ist eine Kindheit, die keine Rücksicht auf ihre Bedürfnisse und Gefühle nimmt. Wer ihre Bücher kennt, weiß aber auch, dass es ohne diese Erfahrungen die Schriftstellerin Paula Fox vermutlich nicht gegeben hätte. Ihr eigenes Werk entfaltet sich eng an der eigenen Biografie. Nicht selten durchleben ihre Protagonistinnen Situationen des Lebens, das sie einst gelebt hat. Sei es Annie im Roman "Kalifornische Jahre" oder Clara in "Lauras Schweigen". Paula Fox hat daraus nie ein Geheimnis gemacht und nicht erst in ihren Erinnerungen "In fremden Kleidern" und "Der kälteste Winter" Parallelen offengelegt.
    Gleichzeitig mit ihrem Erzählungsband "Die Zigarette und andere Stories" ist nun auch eine Biografie über Paula Fox erschienen. Die studierte Literaturwissenschaftlerin und Sozialpädagogin Bernadette Conrad versucht, die unfassbaren Leben der Paula Fox zwischen zwei Buchdeckeln zu bergen. Dafür fährt sie in die Vereinigten Staaten, besucht Paula Fox, unterhält sich mit ihr, begibt sich an die wichtigsten Orte ihrer Biografie und trifft entscheidende Personen ihres Lebens. Um es gleich vorwegzusagen: Für Leser, die mit dem Werk von Paula Fox vertraut sind, ist diese Biografie nicht gemacht. Conrad wendet sich verständlicherweise an diejenigen, die womöglich noch nie etwas von Paula Fox gehört, geschweige denn gelesen haben. Darüber hinaus sollten sich die Leser dieser Biografie nicht nur für die Autorin Paula Fox, sondern auch für Bernadette Conrad und ihre Beobachtungen interessieren:

    "Sie begannen fast immer unter blauem Himmel, meine Brooklyner Tage in diesem Sommer 2009. Und mit einem morgendlichen Lauf durch die Straßen. Die klemmende Tür hinter mir zugezogen, die Gittertür auf- und zugeschlossen und die zwei Stufen zum Vorgarten und zur Straße genommen, losgelaufen, an blühenden Bäumen entlang. Links die Straße hoch verläuft ein blauer Bauzaun, an dem steht: 'retail space', eine große leere Fläche für nun schon seit Jahren erwartete Einzelhändler. Als ich zum ersten Mal im Hause der Lantz' gewohnt hatte, war hier noch ein großes altes Gebäude gewesen, das alte Krankenhaus für ihre Gewerkschafter. Alan Lantz erzählte, wie vor dreißig Jahren auf den Stufen der Brownstones all die italienischen, irischen, deutschen Hafenarbeiter saßen, die nun plötzlich nicht mehr gebraucht wurden und mit Pension entlassen worden waren. Sie hielten die Straße sicher, hatte Alan erzählt, 'wir alle fühlten uns vollkommen geschützt in diesen Jahren, als Brooklyn weltweit mit blutigen Straßenkämpfen assoziiert wurde. Sie saßen auf den Stufen und legten ihre ganze ungenutzte Kraft in den Auftrag, zu Hütern dieser Straßen zu werden. Es ist früh, noch sind die Stufen vor den Brownstones leer. Acht-, neunstufige Steintreppen führen in den ersten Stock dieser Häuser aus dem späten 19. Jahrhundert, die in langen harmonischen Reihen diese Straße säumen. Dort drüben geht eine Tür auf, ein Mann im Businessoutfit springt die Stufen hinunter. Später am Tag wird das 'stoop-sitting' zu sehen sein; Stufen- statt Stubenhocken; Kinder, Nachbarn, die sich treffen oder auch nur sitzen, um in dem durch die Bäume fallenden Sonnenlicht zu baden, in diesen besonderen Vorzimmern zur Straße, zwischen Hausfassaden und Baumreihen. Hier ist weder Stadt noch Dorf, sondern irgendetwas Geglücktes dazwischen."

    In dieser Art schreibt Conrad an den Lebensstationen der Schriftstellerin Paula Fox entlang. Sie reist ihrem gelebten Leben gewissermaßen hinterher. Dabei erfahren die Leser mitunter auch Nebensächliches, lesen, wie Frau Conrad den Weg nicht findet und an einer Tankstelle eine Straßenkarte kauft oder was sie mit Jonathan Franzen zu Mittag aß. Andererseits gelingt es ihr nicht selten, Atmosphären heraufzubeschwören, in der sich das Leben der Paula Fox dann umso deutlicher entfalten kann. Dass sie Jonathan Franzen getroffen hat, scheint nur folgerichtig, war er doch maßgeblich am späten Erfolg der Paula Fox beteiligt, indem er ihren Roman "Was am Ende bleibt", im Original "Desperate Characters", Anfang der 90er-Jahre wiederentdeckte und dem Roman wie der Autorin dazu verhalf, auch in Europa über die Maßen bekannt zu werden. Erschienen war der Roman bereits im Jahr 1970, die Neuauflage aus dem Jahr 1999 verkaufte sich dann allein in Amerika 35.000 Mal, später sollte das Buch in zahlreiche Sprachen übersetzt werden. Für Franzen war der Roman dabei so offensichtlich besser als jeder Roman ihrer Zeitgenossen John Updike, Philip Roth oder Saul Bellow.

    "Ich fand das Haus, der Schriftsteller öffnete mir die Tür, groß, schlank, freundlich: der introvertierte Franzen, nicht der witzige, der ein Publikum von tausend Zuhörern so mühelos unterhalten kann. 'Laufen wir ein bisschen am Strand?' Wir setzen uns ins Auto und fahren Richtung Truro. Franzens Geschichte mit 'Desperate Characters' wurde schon häufig erzählt: 1991 (...) hatte sich Franzen in die Künstlerkolonie Yaddo zurückgezogen, um einen Roman fertigzustellen. Und um sich für eine Weile zu entziehen: der Beschäftigung mit den Trümmern seiner kurz zuvor zerbrochenen Ehe oder mit Amerika, das sich ekstatisch für einen Krieg rüstete. Damals, so schrieb Franzen später, erschienen mir die Vereinigten Staaten hoffnungslos losgelöst von jeglicher Realität (...)'. In dieser Stimmung war ihm (...) ein Exemplar von 'Desperate Characters' in die Hände gefallen, dem Roman über die Ehe von Sophie und Otto Bentwood, die zwar nicht zerbricht, aber gleichsam zwischen den Zeilen zerbröselt. Und plötzlich sah der Zweiunddreißigjährige die persönliche und politische Verzweiflung, die er gerade selbst durchlebte, in dem einundzwanzig Jahre alten, längst vergriffenen Buch nicht nur thematisiert, sondern in ihrer ganzen Bandbreite erfasst."

    Im Folgenden zitiert Conrad dann aus dem berühmt gewordenen Franzen-Essay, in dem er seine Lektüreerlebnisse aufbereitet. Auf Deutsch liegt er unter dem Titel "Wozu der Aufwand?" im Buch "Anleitung zum Alleinsein" vor, dessen Anschaffung sich nicht nur wegen des besagten Textes lohnt. Auch sonst wird in dieser Biografie herausragend viel zitiert, was verständlich ist: Denn warum sollte man sich mit den Schilderungen eines Lebens abmühen, das diejenige, die es lebte und lebt, bereits gekonnt geschildert hat? So kommt es, dass man zuweilen den Eindruck gewinnt, es handele sich um ein Paula-Fox-Lesebuch und nicht um eine Biografie. Viele Passagen stammen aus den beiden Erinnerungsbüchern von Paula Fox, aber auch ihre anderen Texte werden breit zitiert, was bei der engen Verzahnung der Romane mit ihrem Leben logisch erscheint. Auch in dem neuen Buch "Die Zigarette und andere Stories" finden sich viele Begebenheiten aus dem Leben der Autorin wieder. Die titelgebende Geschichte erzählt von einer Reise nach Israel und ihren tragischen Konsequenzen und wie nebenbei auch von der wundersamen Befreiung von einer beinahe lebenslangen Sucht. 1996 reist Paula Fox mit ihrem Mann nach Israel, um dort einen Monat in Jerusalem zu verbringen. Auf dem Nachhauseweg nach einem Abendessen wird sie überfallen und niedergeschlagen, sie erleidet eine Hirnblutung und muss danach das Leben, Lesen und Schreiben wieder neu erlernen, ganz ähnlich der Schriftstellerin Kathrin Schmidt und deren Heldin Helene in dem ausgezeichneten Roman "Du stirbst nicht". Doch im Gegensatz zu Schmidt, die auf rund 350 Seiten ausführlich jeder Körper- und Seelenregung ihrer Protagonistin nachspürt und gerade dadurch zu erschreckender Intensität gelangt, handelt Paula Fox ihre eigene Krankengeschichte eher kaltschnäuzig ab: kurz, bündig, mitleidlos und mit einer Prise herben Humors. Ihre Schilderungen der eigenen Suchtkarriere verdienen dabei unbedingt einen Logenplatz in jeder Anthologie übers Rauchen:

    "Ich rauchte jahrzehntelang, während meiner Ehen, während meine Kinder geboren wurden, während ich meine Bücher schrieb. Nachdem ich viele Jahre vor den Gefahren des Tabakgenusses gewarnt worden war, machte ich eines Tages halbherzig einen Nichtraucherkurs mit, dann noch einen und noch einen. Die Dozenten, die uns dazu anhielten, mit dem Rauchen aufzuhören, gingen die Probleme der Entwöhnung unabhängig von ihrem Alter und Geschlecht alle auf ähnliche Weise an. Oft falteten sie die Hände vor ihrem Bauch und lächelten wissend, während sie mit
    professioneller Begeisterung von den segensreichen Vorzügen sprachen, das Rauchen aufzugeben. In einem der Kurse fiel mir besonders eine Frau im Rollstuhl auf, die an einem Arm einen Sauerstoffschlauch klemmen hatte und mit ihrer freien Hand gierig rauchte, die nackte Todesangst im Gesicht. Einmal schaffte ich es, fast ein ganzes Jahr nicht zu rauchen. Dann gewann ich einen Literaturpreis und musste von Manhattan, wo ich wohnte, nach Chicago reisen, um ihn in Empfang zu nehmen. Ich übernachtete in einem Luxushotel am Ufer des Lake Michigan in einem großen Zimmer, das mit zum Preis gehörte. Ich überlegte, ob es in Chicago jemanden gab, den ich kannte. Ich zog die Schreibtischschublade auf, weil ich dort ein Telefonbuch vermutete. Stattdessen fand ich eine schmale, längliche Schachtel. Ich machte sie auf. Darin lagen Seite an Seite drei lange, dünne Zigaretten, auf denen in goldenen Lettern mein Name stand. Ich rauchte sie alle. Ich fing wieder an. Ich gab das Aufgeben auf."


    Doch trotz dieser hübschen Anekdote gehört die titelgebende Geschichte nicht zu den besten des Bandes, der ohnehin mehr schwache als starke Texte vereinigt. Der stärkste ist wohl "Grace" aus dem Jahr 2003. Nicht zufällig erhielt die Erzählung den traditionsreichen Kurzgeschichtenpreis "O.-Henry Award". "Grace" ist eine Hundegeschichte. Eine Hundegeschichte nicht nur für Tierliebhaber, wobei Tiere in Paula Fox' Werk eine zentrale Stellung einnehmen, wie die Biografin Bernadette Conrad konstatiert. Man erinnere sich nur an die Katze aus dem Roman "Was am Ende bleibt", die der Protagonistin Sophie ihre spitzen Zähne in den Handrücken gräbt, sodass eine heftig blutende Bisswunde zurückbleibt. Die Katzenattacke ist gleichsam der Auftakt für das herausragende Eheschauspiel, das Fox auf den folgenden Seiten gekonnt inszeniert. Der Angriff der Katze ist nicht nur Sinnbild, sondern auch Motor der Geschichte. Unzählige Beispiele mehr rund um Katzen, Hunde und Hühner ließen sich aus dem Werk von Paula Fox herauslesen. Das ist kein Zufall, sondern auch der eigenen Tierliebe der Schriftstellerin geschuldet und wahrscheinlich auch ihrer eigenen schmerzvollen Biografie. Im Zentrum der Geschichte "Grace" steht John Hillman, der um einiges ungewöhnlicher ist als sein Name. Er ist ein kauziger Zeitgenosse, ein Sprachfetischist, der anderen ihre Fehler vor die Nase hält wie stinkende Fische. Ein bisschen verrückt ist er, ein bisschen schüchtern und von vielfältigen Idiosynkrasien geplagt und darin ähnelt er den wunderbaren Anti-Helden des deutschen Schriftstellers Hans-Ulrich Treichel. Kurz: John Hillman ist ein Mensch, der jeder Erzählung gut ansteht. Paula Fox begegnet ihm mit dezent spöttischer Anteilnahme und großer Sympathie. Dabei lebt die Geschichte nicht zuletzt vom psychologischen Tiefgang - das Fundament aller Werke dieser Autorin. Ihre großen Themen Sehnsucht und Einsamkeit forciert sie auch diesmal.

    "Er hatte sich Grace angeschafft, weil es ihm abends und an den Wochenenden einsam geworden war, nachdem seine Beziehung mit der Miezekatze, wie er sie in seiner Erinnerung nannte, beendet war. In seiner Einsamkeit hatte er begonnen, über seine Vergangenheit zu grübeln. Er war sein Leben lang nachlässig gewesen, zu ungeduldig, um die Konsequenzen seines Handelns zu überdenken. Er hatte seine Gedanken zu einem unbestimmten Wirrwarr verkommen lassen, statt sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Wenn Reue ihn zu überwältigen drohte, bemühte er sich, das Positive zu sehen. Er hatte eine passable Stelle in einem Wirtschaftsprüfungsunternehmen, eine freundliche ältere Schwester in Boston, mit der er einmal im Monat telefonierte, und eine mietgebundene Wohnung. Er hatte immer noch Freude an Büchern. Er hatte am College Komparatistik studiert, bis er auf Betriebswirtschaft umgesattelt hatte, weil er meinte, dass er mit Literatur beruflich nicht weiterkäme. Er war körperlich gesund. Er war erst sechsunddreißig.
    Erst! Würde er sich an seinem nächsten Geburtstag sagen, dass er erst siebenunddreißig war, und sich mit einem Wort zu trösten suchen, das sich auf der Kippe zwischen Hoffnung und Grauen befand? Im Büro hatte er wenig Zeit, über die Vergangenheit zu grübeln, doch dort glitt er oft in einen Zustand seelischer und körperlicher Taubheit ab, nur anfallsweise unterbrochen durch eine Überspanntheit, wie er sie auch bei Kollegen und Bekannten beobachtete. Dieses Phänomen taufte er 'kleine Aussetzer in großen Städten'. Seine eigenen kleinen Aussetzer nahmen die Form einer Reizbarkeit an, die sich stündlich zu steigern schien. In den überfüllten Subwayzügen, mit denen er zur Arbeit und wieder nach Hause fuhr, raubte ihm ein starker, fettiger Geruch nach Haaren den Atem. Es gab so viel Haar dort, strähnig oder gelockt, kraus oder glatt, buschig oder eckig ausgeschnitten, geschmückt mit grob gezahnten Kämmen, Klammern aus Metall, Lederstücken, Gummibändern. Manchmal hielt sich John mit einer Hand Mund und Nase zu."


    Der Witz und der ironische Kammerton, den Paula Fox hier anschlägt, sind durchaus kennzeichnend für ihr Werk. Dass sie eine große Menschenkennerin ist, muss wahrscheinlich nicht mehr gesagt werden, zumindest nicht denjenigen, die ihre Bücher bereits kennen. Allen anderen sei ihre Lektüre an dieser Stelle dringend empfohlen.

    Paula Fox: Die Zigarette und andere Stories. Aus dem Englischen von Karen Nölle und Hans-Ulrich Möhring. C. H. Beck. 254 Seiten. Euro 19,95.

    Bernadette Conrad: "Die vielen Leben der Paula Fox". C. H. Beck. 342 Seiten. Euro 19,95.