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Die "Ungeheuer" von Bagdad

Bisher hat die Mehrheit der Sunniten im Irak El Kaida wegen ihrer Brutalität gegen die Zivilbevölkerung abgelehnt. Durch die immer unverhohlenere Unterstützung, die der Iran vor allem der Sadr-Bewegung politisch und militärisch zukommen lässt, gelingt es Bin Ladens Terrororganisation inzwischen aber, sich in Bagdad als Widerstandsbewegung zu profilieren.

Von Marc Thörner |
    "Wir haben schon eine Menge Operationen gegen die El Kaida durchgeführt. Das sind Ungeheuer, wir müssen sie alle umbringen."

    Lieutenant Hassan Lahsen von der ersten Brigade der irakischen Armee steht inmitten seiner Soldaten, allesamt Schiiten in neuen, amerikanisch aussehenden Kampfanzügen. Die Krieger geben sich lässig. Viele tragen keine Helme, haben die Köpfe stattdessen mit Tüchern umwickelt, ihre Finger spreizen sie zum Victory-Zeichen. Und das ist mehr als bloße Show, versichert Lieutenant Lahsen.

    "Unsere Einheit hat den El-Kaida-Führer im Irak gefangen genommen und getötet, den Führer der selbsterklärten islamischen Republik Irak. Wie er aussah? Hässlich natürlich."

    Auch heute will Lieutenant Lahsens Truppe in Westbagdad sunnitische Aufständische dingfest machen. Unterstützt werden die irakischen Soldaten von amerikanischen GIs. Der US-amerikanische Lieutenant ist aus seinem gepanzerten Humvee-Fahrzeug ausgestiegen, um mit dem irakischen Kollegen die Aufgabenteilung zu besprechen - assistiert von seinem Dolmetscher. Die Amerikaner, beschließen die zwei Offiziere, werden das Wohngebiet in Westbagdad abriegeln. Die irakischen Soldaten gehen hinein, um nach Aufständischen zu suchen.

    Bagdad in diesen Tagen: Mit einer enormen Anstrengung versuchen irakische Regierung und US-Armee, die Gewalt in der irakischen Hauptstadt einzudämmen. Dank der Truppenverstärkung, die Präsident Bush Anfang des Jahres angeordnet hat, sollen irakische Soldaten und GIs überall in der Stadt Präsenz zeigen. Seit Februar sind Teile beider Armeen gemeinsam in zahlreichen kleinen Sicherheitszentren stationiert. Schiitische Milizen sollen aus dem Stadtbild verschwinden, sunnitische Widerständler eingeschüchtert werden. Armee-Sprecher General Caldwell zieht eine positive Zwischenbilanz.

    "Ursprünglich hatten wir bloß sechs Stützpunkte in Bagdad, zwei große und vier kleinere. Inzwischen haben wir es auf über 60 gebracht. Das heißt, dass wir rund um die Uhr bei den Menschen sein können. Viele dieser neuen gemeinsamen irakisch-amerikanischen Sicherheitszentren habe ich inzwischen besucht. Die Mitarbeiter dort bestätigen mir, dass die Nähe zu den Menschen zu mehr gegenseitigem Vertrauen führt. Die meisten Stationen haben eine lokale Telefonnummer eingerichtet, so dass jeder dort jederzeit anrufen, Informationen durchgeben und auf schnelle Hilfe rechnen kann. In einem der Zentren wurde mir gesagt: Wir erhalten zirka 25 Telefonanrufe pro Tag, etwa 5 davon erfordern eine sofortige Reaktion und bei mindestens 1 dieser Anrufe kommt etwas Wichtiges heraus. Unser Problem sind aber nach wie vor die Autobomben."

    Folgt man der Logik General Caldwells, dann ist paradoxerweise gerade die Zunahme der Bombenanschläge ein Hinweis auf den Erfolg des neuen Sicherheitskonzepts. Denn El Kaida, so Caldwell, falle jetzt nichts anderes mehr ein, als sich gegen Unschuldige und Zivilisten zu wenden, in der Hoffnung, Gegengewalt zu provozieren - vor allem unter den Schiiten. Denn sie entwickeln sich immer mehr zum entscheidenden Faktor für die Zukunft des Irak.

    Beobachten lässt sich das im Viertel Kadhimiya rund um den Kadhimiya-Schrein, dem wichtigsten Heiligtum der Bagdader Schiiten. Gemeinsam mit irakischen Sicherheitskräften ist dort auch eine schnelle Eingreiftruppe der US-Armee stationiert. Und deren Chef Lieutenant Colonel Steve Miska sieht die Lage nicht so optimistisch wie sein Vorgesetzter General Caldwell. Er glaubt, dass von den Schiiten und ihren Milizen große Gefahr ausgeht.

    "Als wir im Februar 2007 mit dem Sicherheitsplan für Bagdad angefangen haben, haben die Schiitenmilizen erst mal kaum reagiert. Vermutlich befanden sie sich in einer Aufklärungsphase und wollten zunächst mehr Informationen über unser Vorgehen sammeln. Wir wissen aber, dass dann einige Milizionäre in den Iran gingen, um sich dort besser ausbilden zu lassen."

    Im Frühling, so Miska, waren die Vorbereitungen zum Gegenschlag auf Seiten der Schiiten dann offenbar abgeschlossen. Die schiitische Mahdi-Armee ging in die Offensive und griff eine US-Patrouille an.

    "Wir beorderten weitere Truppen dort hin, um unserer Patrouille aus der Patsche zu helfen. Acht schiitische Milizionäre haben wir dabei getötet, kein Koalitionssoldat wurde verwundet, was angesichts einer derartigen Schießerei an ein Wunder grenzt."

    Der militärische Zwischenfall zeitigte eine schwerwiegende politische Folge: Mitglieder der schiitischen Sadr-Fraktion im irakischen Parlament, die Anhänger des radikalen Predigers Muqtada as-Sadr also, stellten das Gefecht rund um den Kadhimiya-Schrein als einen US-Angriff auf das schiitische Heiligtum dar.

    "Schon einen Tag später verabschiedete das irakische Parlament eine Resolution, in der die Koalitionstruppen aufgefordert wurden, in Zukunft eine 1000-Meter-Sperrzone um den Kadhimiya-Schrein einzuhalten."

    Seitdem, berichtet Lieutenant Colonel Miska, sammeln sich dort militärische und politische Führer der Sadristen und planten ungehindert weitere Aktionen. Der Iran unterstützt die schiitische Sadr-Miliz mit Geld, Ausbildung und Waffen und versucht so, sich eine militärische Hausmacht zu schaffen, mitten in der irakischen Hauptstadt und vor den Toren der neuen Sicherheitszentren. Und durch den politischen Arm der Sadristen unterstützt Teheran im irakischen Parlament einen militant-schiitischen Kurs.

    Muqtada as-Sadrs Lehre von der Herrschaft der Religionsgelehrten ähnelt dem iranischen Staatsmodell. Aber eins unterscheidet den "jungen Wilden" unter den irakischen Schiitenführern von den anderen. Nachdem sein Vater, der weithin verehrte Ayatollah Sadik as-Sadr, von der Geheimpolizei Saddam Husseins ermordet wurde, baute der Sohn seine Untergrundbewegung nicht wie viele andere Oppositionelle vom Iran, sondern vom Irak aus auf. Für die in Teheran sitzenden Exilpolitiker der SCIRI, des im iranisch finanzierten Hohen Rats für eine islamische Revolution im Irak, hat Muqtada nur Verachtung übrig.

    As-Sadr und der Iran? Schon während der Schiitenrevolten im Frühjahr und im Herbst 2004 gab es immer wieder Hinweise darauf, dass der militante Prediger, ganz Pragmatiker, finanzielle, personelle und logistische Hilfe aus dem Iran bezog. Sein Repräsentant im Kadhimiya Viertel, Scheich Raed al Kadhumi, wies das damals zurück.

    "Die Mahdi-Armee ist originärer Ausdruck des irakischen Volkswillens, sie ist aus dem Volk hervorgegangen und hat ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis gestellt, als sie die heiligen Stätten in Najaf und Kerbela gegen die Amerikaner verteidigt hat. Die Mahdi-Armee zahlt ihren Mitgliedern weder ein Gehalt, noch verfügt sie über Ausbildungsstätten. Sie ist keine klassische Armee. Sie ist ein Querschnitt der irakischen Elite: Studenten, Schüler, aber auch viele einfache Menschen."

    Während der beiden Revolten im Frühjahr und im Herbst 2004 hatte die Sadr-Bewegung reihenweise junge, unausgebildete Männer gegen US-Panzer in den Tod geschickt. Aber: Tod, wieso denn Tod, hatte Muqtadas Sprecher, Scheich Kadhumi, damals zurückgefragt:

    "Im heiligen Koran steht: 'Denkt nicht, dass derjenige, der sein Leben Gott schenkt, tot ist' Alle, die das tun, leben weiter, aber sie leben an anderen, heiligen Orten."

    Dass sich der Charakter der Mahdi-Armee seit 2004 grundlegend geändert hat, dafür mehren sich die Anhaltspunkte. Im Joint Security Centre, dem gemeinsamen irakisch-amerikanischen Sicherheitszentrum im Bagdader Vorort Kadhimiya, eröffnet der US-Brigadekommandeur Colonel Burton die Lagebesprechung.

    Anders als noch bei ihren Aufständen 2004, so fasst der zuständige Nachrichtenoffizier zusammen, verfügt die Sadr- Miliz diesmal über hochgefährliche Waffen - dank Lieferungen aus dem Iran. Mit Raketen, iranisch fabrizierten Sprengsätzen und Mörsern geht sie jetzt zu direkten Angriffen auf die Koalitionskräfte über. In der Lagebesprechung meldet sich der irakische Distriktkommandeur Colonel Fallah zu Wort.

    Nicht nur, dass die Sperrzone rund um den Kadhimiya-Schrein es unmöglich mache, Angreifer zu verfolgen, klagt er. Das Schlimmste sei: Inzwischen wisse man nicht mal mehr, ob man den eigenen dort stationierten Einheiten der irakischen Armee noch trauen könne. Man habe kein Konzept mehr, sei verwirrt.

    An dieser Stelle erinnert sich Colonel Burton, der US-Brigadekommandeur, dass ein Mikrofon mitläuft.

    "Put this off. Stop, Stop! I don't want this to be recorded right now."

    Die Infiltration der irakischen Sicherheitskräfte durch Schiitenmilizen: Ein sensibles Thema, seit sich, zumindest in der Hauptstadt, das Gewicht in der irakischen Armee zugunsten der Schiiten verschoben hat. In Camp Justice, der gemeinsamen geführten Basis im Kadhimiya-Viertel, soll die US-Armee irakische Soldaten ausbilden. Doch US-Offiziere haben entdeckt, dass die schiitische Mahdi-Miliz ihre Leute gezielt in die neuen Streitkräfte einschleust. Einer der US-Ausbilder, Captain Brian Bauer, ist sich manchmal nicht mehr sicher, ob er statt der Verbündeten die Feinde trainiert?

    "Es gibt schon Fälle, wo ich mich das frage. Deutlicher kann ich nicht werden. Wir tun unser Bestes der Infiltration nachzugehen. Aber für uns ist das ein echter Interessenkonflikt. Auf der einen Seite versuchen wir ja, diese irakischen Soldaten für ihre Aufgaben fit zu machen. Wie können wir dann auf der anderen Seite sagen, der Mann, den wir da ausbilden, ist eine Bedrohung, wir sollten jemanden auf ihn ansetzen."

    Gemeinsam mit US-Truppen sollen irakische Einheiten den Bagdad-Sicherheitsplan umsetzen. Könnte es sein, dass in den Kampfanzügen der irakischen Armee, Seite an Seite mit den GIs, im Iran ausgebildete Schiitenmilizionäre auf Patrouille gehen? Und könnte es sein, dass es ihnen vielleicht um etwas anderes geht als um Sicherheit - nämlich in erster Linie darum, Bagdad von Sunniten zu befreien? Auf der gemeinsamen irakisch-amerikanischen Basis in Kadhimiya reagiert General Wadschid, der für Westbagdad zuständige Kommandeur der irakischen Armee, empört.

    "Ich würde mir wirklich wünschen, dass die Presse diese Art von Fragen nicht stellt. Dadurch versucht man, uns auf künstliche Weise in vermeintliche Konflikte zwischen den einzelnen Sekten hineinzutreiben. Wir sind alle Iraker und arbeiten für ein Land. Die Medien sollten uns helfen, den Irak zu stabilisieren. Es kränkt mich, diese Art von Fragen überhaupt zu hören."

    Und dann überrascht General Wadschid mit einer Lageeinschätzung, die nicht nur derjenigen der US-amerikanischen auf derselben Basis, sondern auch der seiner eigenen Unterführer diametral entgegensteht. Von gesteigerten Aktivitäten der Milizen, von Gefechten zwischen Sadristen und GIs im Kadhimiya-Viertel sei ihm nichts bekannt.

    "Meiner Auffassung nach hat die Gewalt im Kadhimiya-Viertel nicht zugenommen."

    Lieutenant Colonel Steve Miska, der ein paar Meter weiter im amerikanischen Teil der Basis sitzt, wundert es nicht, dass sein irakischer Kollege die Lage so völlig anders einschätzt als er selbst. General Wadschid sei eher ein Schiitenpolitiker als ein Militär. Wadschids genauer Hintergrund sei ihm zwar nicht bekannt. Fest stehe aber: Wen dessen Truppe an einem Checkpoint für einen Sunniten hielten, der werde in der Regel festgenommen und gleich eingesperrt. Und dann?

    "Im irakischen Teil dieser Basis gibt es Gefängnisse, die dort von den überwiegend schiitischen Sicherheitskräften betrieben werden. Wir versuchen zwar, ihre Aktivitäten im Blick zu behalten, aber wir bekommen immer wieder Meldungen darüber, dass dort Sunniten misshandelt werden. Die Folge ist, dass viele Sunniten inzwischen glauben, die einzige Kraft, die sie noch vor der Willkür der schiitischen Milizen schützen kann, sei El Kaida. Ein wesentlicher Teil der Bevölkerung in den Sunnitenvierteln gewährt El Kaida deshalb Unterschlupf."

    Und El Kaida profitiert davon. Ihre Spezialität besteht darin, Sprengfallen zu legen und US-Fahrzeuge in Hinterhalte zu locken. Unter einer Autobahnbrücke im sunnitischen Teil des Ghazalia-Viertels haben GIs eine Bombe entdeckt. Ein Sprengkommando rückt an. Um ihm Deckung zu geben, sind neben der Straße Humvee-Fahrzeuge positioniert.

    Die Aufständischen sind gut organisiert und reagieren im Handumdrehen - mit einem Ablenkungsmanöver. Nur wenige Minuten nachdem einer der Wagen zur Brückenauffahrt gerollt ist, um das Sprengkommando zu schützen, bekommt der Fahrzeugkommandant über Funk die Meldung, dass irgendwo im Viertel Angreifer aufgetaucht sind - vermutlich El Kaida. Und dann geht es plötzlich sehr schnell. Ein Projektil schlägt in den Turm des Humvees ein.

    Bisher hat die Mehrheit der Sunniten im Irak El Kaida abgelehnt - nicht wegen der Attacken gegen das US-Militär, sondern wegen ihrer Brutalität gegen die Zivilbevölkerung. Durch die immer unverhohlenere Unterstützung, die Teheran vor allem der Sadr-Bewegung politisch und militärisch zukommen lässt, gelingt es Bin Ladens Terrororganisation jetzt aber, sich in Bagdad als Widerstandsbewegung zu profilieren.

    Lässt sich an der verfahrenen Lage noch irgendetwas ändern? Das Chatham House-Institut, einer der wichtigsten britischen Think Tanks, empfiehlt in seiner jüngst erschienenen Studie, in Bagdad so pragmatisch vorzugehen wie im sunnitischen Dreieck. Stammeschefs erhalten dort von der US-Regierung Geld, dürfen ihre Gefolgsleute bewaffnen und werden mit Sicherheitsaufgaben betraut. Die Rivalität der alteingesessenen Scheichs mit den oft ausländischen El-Kaida-Führern tut ein Übriges, um die unheilige Allianz zu spalten. Nach dem gleichen Muster, so die Experten von Chatham House, könnten auch die Schiiten eingebunden werden.

    "Wenn die USA und Großbritannien angesichts der verheerenden terroristischen Attacken zwischen Schiiten eine moderate Kraft zu erhalten wünschen, muss die Sadr-Bewegung dazu als Schlüssel und als bleibender Faktor in der politischen Landschaft des Irak wahrgenommen werden, der stärker in den politischen Prozess einbezogen werden sollte."

    Etwas Ähnliches versucht Lieutenant Colonel Steve Miska bereits im Kleinen, in seinem Verantwortungsbereich im schiitischen Viertel Kadhimiya. Wenn man die Schiitenmilizen nicht entwaffnen kann, meint er, dann muss man sie wenigstens einbinden, wo das möglich ist.

    "Schließlich haben Milizen ja viele unterschiedliche Erscheinungsformen. Es gibt auch eine 'gute' Mahdi-Armee, die wie eine Bürgerwache tätig ist und in den Vierteln wirklich für Ruhe und Ordnung sorgt."

    Für die US-Regierung könnte das der Zeitpunkt sein, sich zu fragen, ob Infiltration vielleicht auch in umgekehrter Richtung funktioniert.