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Die Ungnade der späten Geburt

Friedrich Schiller war einer der ersten, der die Memoiren des Louis de Rouvroy duc de Saint-Simon veröffentlichte. Und zwar in einem Umfang, wie er in Deutschland bis heute kaum erreicht wird. 1500 Seiten waren es bei Schiller. Bei uns ist der Memoirenschreiber Saint-Simon kaum mehr bekannt. Ganz anders in Frankreich. Dort sorgte der Hofchronist von Ludwig XIV. posthum für Aufregung und Bewunderung. Er beobachtete den Alltag am Hof des Sonnenkönigs mit bissiger und boshafter Ironie. Und er beschrieb seine Personen bis ins kleinste Detail, wie von innen heraus. Das merkten aber erst die Nachgeborenen.

Von Ruthard Stäblein | 02.03.2005
    Wenn es jemals eine Ungnade der späten Geburt gegeben hat, dann ereilte sie den Herzog von Saint-Simon. Sein Vater wurde Herzog und pair am Hof Ludwigs des XIII. Er war 69, als am 15. Januar 1675 sein einziger Sohn zur Welt kam.
    Dieser Louis de Rouvroy, duc de Saint-Simon aber wächst unter der Herrschaft von Ludwig dem XIV. auf. Der Sonnenkönig duldet keine strahlenden Sterne neben sich. Er zieht den Herzögen die Minister vor, die er leichter beschatten und in den Schatten stellen kann. Schon als junger Herzog fühlt sich Saint-Simon übergangen. Louis XIV befördert den Kleinwüchsigen nicht, obwohl er sich in einer Schlacht bewährte. Saint-Simon grollt. Er quittiert den Dienst in der Armee und geht trotzdem an den Hof von Versailles, weil es für ihn als pair der angestammte Platz ist. Er darf dem König beim coucher den Leuchter halten. Er wird Spezialist für das Protokoll, das nur noch dazu dient, den Adel statt mit der Macht mit sich selbst zu beschäftigen.

    Saint-Simon hält steif an einem veralteten Zeremoniell fest. Er intrigiert vergeblich für die Privilegien des Hochadels, die neuen Minister sind geschickter. Verbittert träumt er von der alten Zeit, beobachtet er von der Galerie aus die Bühne von Versailles und wird so zum brillanten Chronisten der "Kirmes" am Sonnenhof.

    Ganze 15 Jahre bleibt er in seinem Grollwinkel, bis der König stirbt. Auch unter dessen Nachfolger gelingt ihm nicht der große Wurf, obwohl er Berater des Regenten wird. Zu seinem richtigen Leben findet er erst als Rentner in der Schreibstube. Er stirbt zurückgezogen am 2. März 1755.

    Saint-Simon kommentierte mit bissiger Ironie die Platitüden eines Hofhistorikers und entwickelte daraus seine berühmten Memoiren, die erst nach seinem Tod und nach der Französischen Revolution veröffentlicht wurden. Er entschädigte sich für sein verfehltes Hofleben und zeigte Schranzen wie etwa dem Herzog von Vendome ihre Schattenseiten.

    Wenn er bei der Armee war, erhob er sich ziemlich spät, setzte sich auf seinen Nachtstuhl, besorgte dort seine Briefe und erteilte seine Befehle für den Morgen. Er frühstückte auch darauf und zwar gründlich, und gab ebensoviel hinten von sich, sei es während er aß, sei es, während er zuhörte oder seine Befehle erteilte, und stets umgaben ihn eine Menge Zuschauer.

    So rächte sich Saint-Simon, der Zurückgesetzte, an den Liebedienern seines Königs, der zum Ausbau seiner absoluten Macht den Adel in Versailles vortanzen ließ und damit die stärkste Stütze der Monarchie selbst absägte.

    Aber der beleidigte Chronist konnte auch in den höchsten Tönen bewundern. Er war ein Meister des Kontrastes und der Umkehrung
    So zeichnete er das Portrait der Herzogin von Burgund:

    Geradezu hässlich, mit Hängebacken, eine übermäßig vorspringende Stirn, eine nichtssagende Nase, dicke beißende Lippen, kastanienbraun die wohlgeformten Augenbrauen wie die Haare, die sprechendsten und schönsten Augen der Welt, wenige, aber ganz verfaulte Zähne, das ausdrucksvollste Lächeln, eine lange, runde, zierliche Taille, gewandt, von vollendetem Wuchs, der Gang einer Göttin auf den Wolken.

    Dieses Porträt steht in einem der umfassendsten Memoirenwerke der Weltliteratur, das auf 41 Bände anwuchs. In Deutschland wird das Werk von Saint-Simon kaum gelesen, aber in Frankreich verkauft man es am Bahnhof. Es wimmelt von historischen und Grammatikfehlern.
    Saint-Simon schrieb wie es ihm gefiel. Sein Stil war "lakonisch, trocken, hart, sprudelnd". Sein berühmtester Bewunderer wurde Marcel Proust. Proust war entzückt von der Adelsmanie, von den genauen Porträts und Charakterzeichnungen, die wie von innen heraus entworfen waren. Und Proust liebte dieses sinnentleerte Zeremoniell der Herzöge und Herzoginnen, über die er in seiner "Suche nach der verlorenen Zeit" amüsiert herzog.