Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Die Unsichtbaren und der Tunnel

Vermummte Gestalten in dicken Anoraks, die Mützen tief ins Gesicht gezogen, streifen Tag und Nacht durch die Hafenstadt Calais. Es sind Flüchtlinge aus den Krisengebieten der Welt: Afghanen, Iraker, Eritreer, Sudanesen, Palästinenser ... In Calais gehören die Migranten seit Jahren schon zum Stadtbild, aber für den französischen Staat sind sie offenbar unsichtbar.

Mit Reportagen: Bettina Kaps | 04.04.2009
    Ein junger afghanischer Flüchtling im sogenannten Dschungel von Calais.

    "Wir wollten in einen Laster steigen, doch die Polizei hat mich geschnappt. Sie haben mich geschlagen und getreten. Wir sind Flüchtlinge, aber wir sind auch Menschen. Wir sind keine Tiere, die man schlagen kann."

    Und der Bürgermeister eines kleinen Dorfes bei Calais, der illegalen Einwanderern hilft und damit gegen Gesetze verstößt.

    "Wenn wir Solidarität bei uns groß schreiben, wenn wir unseren jungen Leuten helfen, von denen viele arbeitslos sind, oder Mitbewohnern, die ihre Heizung nicht bezahlen können - dann können wir doch nicht zugleich jene vernachlässigen, die neben dem Dorf in einem Graben leben!"

    Gesichter Europas: Die Unsichtbaren und der Tunnel - Flüchtlingselend in Calais. Eine Sendung mit Reportagen von Bettina Kaps. Am Mikrofon begrüßt Sie Thilo Kößler.

    Sie kommen aus den Kriegs- und Krisengebieten der ganzen Welt, aus Afrika, aus Äthiopien, Somalia, Sudan - oder aus Afghanistan, dem Irak oder Tschetschenien. Sie haben auf ihrem lebensgefährlichen Weg in eine bessere Welt schon Tausende von Kilometern hinter sich gebracht durch Wüsten, über Berge oder über das Meer.

    Wenn sie in Calais angekommen sind, haben sie ihr Ziel unmittelbar vor Augen: Großbritannien liegt auf der anderen Seite des Ärmelkanals, nur noch 30 Kilometer entfernt. Bei guter Sicht sind die Kreidefelsen von Dover mit bloßem Auge erkennbar.

    Calais ist Hafenstadt - von hier aus setzen täglich Dutzende von Fähren über. Und hier liegt auch die Einfahrt in den Eurotunnel: Deshalb ist Calais zur Transitstation für die illegalen Migranten auf dem Weg in Richtung Norden geworden. Wer es bis nach Calais geschafft hat, wartet auf die erstbeste Gelegenheit, sich als blinder Passagier auf irgendeinem LKW zu verstecken und mit hinübergenommen zu werden. Doch das Risiko wird immer größer. Die Kontrollen werden immer schärfer, die Wartezeiten für die Migranten immer länger.

    Früher gab es bei Calais, in der Gemeinde Sangatte, wenigstens noch ein Notaufnahmelager des Roten Kreuzes, in dem die Armutsflüchtlinge versorgt werden konnten. Doch unter dem wachsenden Druck Großbritanniens wurde das Lager im November 2002 geschlossen - Nicolas Sarkozy, damals noch französischer Innenminister, versicherte, das Problem habe sich damit erledigt.

    Das war ein Irrtum. Die Flüchtlinge kommen nach wie vor. Aber sie haben jetzt kein Dach mehr über dem Kopf - sie leben im Freien. Wie die Tiere.

    Im Dschungel von Calais: Das Flüchtlingselend am Rand der Stadt
    Eine vierspurige Schnellstraße führt zum Hafen von Calais. Links qualmen die Schlote einer Chemiefabrik, es riecht faulig. Rechts verbirgt dorniges Gestrüpp den Blick auf das Meer. Dort beginnt der Dschungel, so heißt das Niemandsland von Calais bei Einheimischen und Flüchtlingen.

    Hinter der Leitplanke zweigt ein Trampelpfad ab, er führt in das Gebüsch hinein. Schon nach wenigen Schritten ist ein Unterschlupf zu sehen: Paletten liegen auf dem Boden, darüber sind Plastikplanen gespannt, sie sind an den Sträuchern befestigt. Im Innern liegen Decken, Schuhe, Kleidungsstücke. Vor der Hütte kauern fünf Männer und wärmen sich an einem Feuer.

    "Wir kommen aus Afghanistan, ich bin seit etwa acht Tagen hier in Calais. Wir alle wollen nach England. Ich habe schon versucht, mich in einem Laster zu verstecken, aber es hat nicht geklappt. Es gibt zu viele Checkpoints, wo sie uns rausholen. Dann bringen sie uns zur Polizeiwache, machen Fotos, nehmen Fingerabdrücke, und lassen uns wieder laufen."

    Der Mann heißt Ali, er ist 24 Jahre alt und kommt aus der Provinz Ghazni, an der Grenze zu Pakistan. Er will dem Krieg in seinem Land entkommen, sagt er. Dafür musste er sich 15.000 Euro borgen. Auf seiner Flucht hat er schon viel Schlimmes erlebt, aber dass er in Calais so elendig leben würde, das habe er nicht geahnt.

    "Die Polizei kommt zwei oder dreimal pro Woche hierher. Manchmal auch täglich. Sie nimmt Flüchtlinge mit oder versprüht Tränengas. Hier steht eine Hütte, in die sie schon vor zwei Wochen Gas gesprüht haben. Niemand kann dort schlafen, weil es immer noch in den Augen beißt. Die Polizei will uns vertreiben. Aber wir müssen in Calais bleiben, weil wir noch diese letzte Grenze überwinden müssen. Es gibt kein Zurück für uns, wir müssen weiter."

    Der sandige Pfad führt tiefer ins Gehölz, verzweigt sich. An dem dürren Geäst hängen verblichene orange Beeren. Alle paar Schritte sind weitere Hütten zu sehen. Der Boden ist mit Abfall übersät: Plastiktüten, Eierschalen, Bierdosen, Klopapier, Exkremente. An einem Ast flattern Unterwäsche und ein Handtuch im Wind.

    Wieder ein Feuer, diesmal hockt eine Familie darum herum. Die Frau sitzt auf einem Rollkoffer. Sie hat einen braunen Schal locker um den Kopf geschlungen, die Augenbrauen in ihrem schmalen Gesicht sind sorgfältig gezupft. Der Mann ist rasiert. Die drei Kinder stecken in dicken Pullovern und Gummistiefeln. Sie essen Schmelzkäse, ihre Hände sind von Erde und Ruß geschwärzt. Die Mutter hält Feuchttücher in der Hand. Unablässig wischt sie über die kleinen Münder und Finger, als ob sie die Mädchen damit vor Dreck und Elend um sie beschützen könnte. Eine Tochter lacht vergnügt, sie hat Zahnlücken. Die Mutter zeigt das Alter ihrer Kinder mit den Fingern an: Sie sind vier, fünf und sechs Jahre alt.

    Jenseits der Schnellstraße, zwischen Fabrik und Wohnsiedlungen, liegt weiteres Niemandsland. Auch dort haben Menschen Zuflucht gesucht: Auf einem Grünstreifen kampieren Afghanen, auf einem anderen Iraker. Die Volksgruppen mischen sich nicht. An einem Baum hängt eine weiße Banderole mit einer fremdsprachigen Inschrift, davor liegen zwei Sträuße mit Plastikblumen: An dieser Stelle wurde ein Flüchtling erstochen. Der Dschungel ist gefährlich. Niemand weiß, wer hier gerade die Regeln bestimmt, und niemand zählt die Menschen, die hier leben, es müssen Hunderte sein. Täglich kommen Neue hinzu, andere verschwinden. Der Dschungel ist immer in Bewegung.

    Die Afrikaner leben nicht hier, sie sind in der Stadt untergetaucht. Am Hafen steht eine Lagerhalle der Industrie- und Handelskammer. Auf der Laderampe sitzen ein paar Dutzend Männer. Diese Flüchtlinge kommen aus Somalia, Sudan, Äthiopien. Auch sie haben Verschläge gebaut, in denen sie schlafen. Von dort aus sehen sie das Hafenbecken, sehen, wie die Fähren an- und ablegen. Gerade ankert die "Moliere" am Kai.

    Ein paar Straßen weiter haben Eritreer ein ehemaliges Arbeiterwohnhaus besetzt. Die drei Eingänge sind verriegelt, die Rollos zugezogen und die Kellerfenster mit Lumpen verstopft. Im Hinterhof häuft sich Unrat, es stinkt nach Urin. Dort sind Polizisten bei der Arbeit. Der Kommissar zeigt auf den Boden. Er macht keine Jagd auf Ausländer, stellt er klar, hier sei ein Verbrechen geschehen.

    "Ich weiß nicht, ob es einen Zusammenhang gibt, aber da ist ein Blutfleck und dort, auf dem Holzscheit, auch. Heute Nacht gab es hier eine Schlägerei mit einem Verletzten, er hat Messerstiche im Unterleib. Das kommt oft vor. Die Ursache finden wir selten heraus. Vielleicht gab es Streit unter Schleppern oder unter verschiedenen Volksgruppen."
    Vor dem Haus erstreckt sich ein unbebauter Platz mit Schlaglöchern und Schotter. Im Jargon von Helfern und Flüchtlingen heißt der Ort "Kantine", weil eine Hilfsorganisation hier täglich eine Brotzeit austeilt. Es ist 14 Uhr. Von allen Seiten strömen Männer heran, sie tragen dicke Anoraks, viele haben Mützen auf. Plötzlich ist ein Ball da. Sofort laufen ein paar Jugendliche zusammen und kicken.

    Ein Junge spielt nicht mit. Er ist groß und dünn, hat hohe Backenknochen, schmale Augen, ein paar Pickel im Gesicht. Der junge Afghane ist ganz aufgeregt. Er ist 15 Jahre alt, sagt er, und ohne Familie unterwegs. Vor zwei Monaten und 19 Tagen ist er in Calais gestrandet. Letzte Nacht ist er beim Versuch, nach England zu gelangen, wieder gescheitert.
    "Wir wollten in einen Laster steigen, aber die Polizei hat mich geschnappt. Sie haben mich heftig geschlagen und getreten. Dann haben sie mich zu einem Ort gebracht, weit weg, da war kein Mensch und kein Licht. Es war Nacht und ich bekam Angst, weil ich ganz allein war. Wir sind Flüchtlinge, aber wir sind keine Tiere, die man schlagen kann. Wir sind Menschen! Sie können mich vielleicht zehn Tage ins Gefängnis stecken, aber schlagen dürfen sie mich nicht!"

    Er will die Wunde zeigen, krempelt das Hosenbein hoch, darunter kommt eine zweite und eine dritte Jeans zum Vorschein. Sie sind zu eng. Deshalb deutet er jetzt auf den bekleideten rechten Oberschenkel: Da sitzt der Schmerz.

    Ein Kleinlaster fährt vor. Die Flüchtlinge drängeln nach vorne. Die Hilfsorganisation verteilt Brot, Bananen, Joghurt und Suppe in Bechern. Wie ein ausgehungertes Rudel stürzen sich die Menschen auf die Plastiktüten mit dem Essen. Ein Flüchtling betrachtet die schupsenden Menschen. Der Afghane lächelt freundlich, aber was er sagt, ist bitter:

    "So sieht das Leben der Flüchtlinge in Europa aus. Haben Sie gesehen, wie wir im Dschungel leben? Wenn das weltweit im Fernsehen gezeigt würde, wäre es schlecht für die französische Regierung. Aber das ist ihr völlig egal. In Frankreich gibt es keine Menschenrechte. Und auch nicht im restlichen Europa: nicht in Deutschland, nicht in England. Menschenrechte, das ist hier nur ein Jux."

    Dann taucht auch er in der Menschenmenge unter.

    Im Dschungel von Calais herrschen ganz eigene Gesetze und nur die "Sans Papiers" - die Armutsflüchtlinge ohne Papiere - kennen sie. Es sind die Gesetze derer, die jenseits der Legalität leben - und die deshalb auch keine Rechte einfordern können und schutzlos sind. Die Illegalen sprechen nicht gerne über sich - sie erzählen nicht, wie und auf welchen Wegen sie gekommen sind, wer sie hierher gebracht hat, wen sie bezahlt haben und wie viel. Ihr Schweigen ist aus der Angst geboren und aus dem Misstrauen. Der Dramaturg und Hörspiel-Autor Björn Bicker versucht ihnen eine Stimme zu geben in seinem jüngst erschienenen Buch "Illegal. Wir sind viele, wir sind da".

    wir haben einen traum.
    wir sind krank.
    wir verstecken uns.
    wir sind gesund.
    wir sind müde.
    sind wir hellwach.
    schnee können wir nicht leiden
    wir scheißen auf eure Gesetze
    eure Gesetze scheißen auf uns
    wir kennen alle regeln
    damit uns niemand erkennt
    wir sehen euch
    wir berichten von euch
    wir beneiden euch
    wir beobachten euch
    was wir nicht leiden können
    wovon wir träumen
    wovon wir nicht träumen
    wer wir sind
    wer ihr seid
    was die zukunft ist
    was die Zukunft nicht ist
    wer seid ihr
    alte menschen
    ihr seid alte menschen
    wir sind jung
    was wir glauben
    was ihr glaubt
    euer glaube ist einfach
    ihr glaubt an euer land
    ihr glaubt an eure sprache
    ihr glaubt an eure grenzen
    ihr glaubt an eure moral
    ihr glaubt an euer ich
    ihr glaubt an euren kritischen verstand
    ihr wollt wissen wo wir herkommen
    wo wir herkommen
    aus.
    aus.
    was wir euch nicht erzählen.


    Wer es bis nach Calais geschafft hat, ist zu weit gekommen, um wieder umzukehren. Der geht nicht mehr zurück. Der will auch nicht in Frankreich Asyl beantragen. Die Armutsflüchtlinge von Calais halten an ihrem Traum fest - sie wollen nach Großbritannien. Und das, obwohl die Aussichten, dort einen Job zu bekommen, im Zeichen der Finanz- und Wirtschaftskrise deutlich abgenommen haben. Und obwohl es mittlerweile neue, viel schärfere Einwanderungsbestimmungen gibt und der Zuzug ungelernter Arbeiter aus Staaten außerhalb der Europäischen Union drastisch erschwert wurde.

    Großbritannien gilt den Armutsflüchtlingen von Calais bis heute als gelobtes Land - und die Schlepper bestärken sie in dieser Vorstellung. Tatsächlich gibt es in Großbritannien noch immer keine Meldepflicht, und eine Ausweispflicht ist erst in Planung. So kann man in Großbritannien immer noch leichter untertauchen als anderswo. Viele hoffen darauf, schnell mit Landsleuten in Kontakt zu kommen. Die Communitys haben gut funktionierende Netzwerke gebildet und stehen Neuankömmlingen oft mit Rat und Tat zur Seite. Schließlich ist auch die Sprachbarriere nicht so hoch wie anderswo: Ein paar Brocken Englisch kann jeder.

    Den Hilfsorganisationen sind in Calais deshalb oft die Hände gebunden. Sie wollen nicht nur die unmittelbare Not in diesem Flüchtlingselend lindern. Sie versuchen auch, die Migranten von diesem illegalen und lebensgefährlichen Trip über den Ärmelkanal abzuhalten und sie davon zu überzeugen, stattdessen in Frankreich Asyl zu beantragen. Und stoßen damit bei vielen Flüchtlingen auf taube Ohren.

    Warten auf die Suppenküche
    Warten auf die Suppenküche (Bettina Kaps)
    Drei Jungen, die allein aus Afghanistan geflohen sind
    Drei Jungen, die allein aus Afghanistan geflohen sind (Bettina Kaps)
    Aussichtsloses Engagement: Die Arbeit der freiwilligen Hilfsorganisationen
    Mariam schiebt die Tür auf, ruft etwas auf Arabisch ins Zimmer. Sie trägt eine weiße Windjacke mit der Aufschrift "Secours Catholique", so heißt die Caritas in Frankreich. Das hier, sagt sie, und zeigt ins Halbdunkel, ist das Zimmer der Frauen, in den übrigen Räumen schlafen Männer. Das leer stehende Haus ist von Flüchtlingen aus Eritrea besetzt.

    Acht Frauen stehen von ihren Decken auf, ziehen Mäntel über, und folgen Mariam ins Freie. Zwei Männer schließen sich an, einer geht an Krücken. Mariam sperrt ihren Kleinbus auf. Die Frauen steigen ein, der verletzte Mann darf auch mitfahren, den anderen schickt sie zurück.

    "Wir können nicht alle Migranten abholen. Den jungen Mann da nehme ich mit, damit er ein bisschen im Warmen sein kann."

    Mariam stammt aus Marokko, deshalb kann sie sich mit den arabischsprachigen Flüchtlingen verständigen. Sie fährt die Eritreer zum Stadtrand von Calais. Dort hat die Caritas ein ehemaliges Geschäftsgebäude gekauft. In der Küche sind schon zwei Helferinnen am Werk. Sie kochen Tee für die Flüchtlinge und tauschen Neuigkeiten aus.

    "Sie reichen eine Petition herum?"

    "Ja, die Nachbarn im Viertel wollen verhindern, dass die Migranten hier den Tag verbringen. Das stört die Anwohner. Sie wollen das Elend nicht sehen."

    Die jungen Eritreerinnen ziehen Zahnbürsten und Zahnpasta hervor und stehen Schlange vor der Toilette mit dem Waschbecken. Mariam schüttelt unzufrieden den Kopf. Die Caritas, sagt sie, will den Flüchtlingen auch Duschen anbieten und die Möglichkeit, ihre Kleider zu wechseln. In diesem Haus wollte der Verein acht Duschen installieren, aber dreimal schon hat das Rathaus die Baugenehmigung verweigert.
    "In Calais gibt es keine öffentlichen Duschen. Die Caritas hat noch Räume im Stadtzentrum. Dort hatten wir provisorisch vier Duschkabinen im Hof aufgestellt. Doch jetzt sind so viele Flüchtlinge in Calais - und alle wollen sich waschen. Sie drängelten zu sehr, es gab Spannungen. Da haben wir gesagt: So kann es nicht weitergehen. Die Behörden müssen reagieren. Vier Duschen für rund 600 Menschen, das ist völlig unmöglich."

    Anfang Dezember hat der "Secours Catholique" den Duschdienst eingestellt. Seither klagen viele Flüchtlinge über Hautinfektionen und Krätze. Aber die Stadt hat ihre Meinung trotzdem nicht geändert.

    Die Eritreerinnen haben sich frisch gemacht, so gut es geht. Jetzt sitzen sie am Tisch, trinken Tee, plaudern und lachen. Keiner einzigen Frau ist anzumerken, was sie durchmacht: Salama nicht, in ihrem blauen Jogginganzug, der sich über dem gewölbten Bauch spannt - sie ist im sechsten Monat schwanger - und auch Ouadiou nicht, die mit ihrem zehnjährigen Sohn auf der Flucht ist: Der kleine Abraham sitzt über einem Blatt und zeichnet die Flagge von Eritrea.

    Der junge Mann mit dem Gipsfuß wirkt auch vergnügt. Omar ist aus einem Laster gesprungen, der in die falsche Richtung fuhr, dabei hat er sich den Knöchel gebrochen. Aus seinem Handy kommt die Musik. Salama schließt die Augen und wiegt sich im Rhythmus der Melodie aus der Heimat.

    Mariam schaut die kleine Gruppe an. Am liebsten würde sie alle Flüchtlinge in ihrem kleinen Bus ins Warme bringen. Weil das unmöglich ist, kümmert sie sich um die Schwächsten: um Frauen, Kinder und Verletzte.

    "Unser Ziel hier: Wir wollen ihnen klar machen: Es gibt nicht nur England, es gibt auch andere Möglichkeiten. Sie können in Frankreich Asyl beantragen. Diese Menschen werden ständig von den Schleppern verfolgt, und die hämmern ihnen ein: Ihr müsst nach Großbritannien. Deshalb wollen wir sie von diesen Leuten fernhalten."

    Flüchtlinge aus Eritrea, Sudan oder Afghanistan haben durchaus Chancen, in Frankreich politisches Asyl zu erhalten. Aber für die Migranten heißt das ersehnte Ziel Großbritannien.

    "Gestern war eine Frau hier, die im achten Monat schwanger ist. Ich hatte zuvor tagelang auf sie eingeredet, sie gewarnt: Du läufst Gefahr, in einem Laster zu entbinden. Sie war kurz davor, ja zu sagen und in Frankreich Asyl zu beantragen. Aber dann hat sie vergangene Nacht in dem besetzen Haus geschlafen, und jetzt ist sie verschwunden, jetzt versucht sie es. Ich denke ununterbrochen an sie. Hoffentlich geschieht ihr kein Unglück, hoffentlich bekommt sie keine Wehen, hoffentlich, hoffentlich!"

    In diesem Winter, sagt Mariam, sind mehr Frauen und Kinder in Calais als je zuvor. Aber es wird immer schwieriger, die Grenze zu überwinden. Und so erlebt sie täglich neue Dramen. Sie erzählt von einer Frau aus dem Irak: sie kam mit 3 Kindern nach Calais. Fünf Monate lang scheiterten alle Fluchtversuche. Daraufhin schickte die Mutter ihre beiden Töchter voran. Die Mädchen hatten Glück. Aber die Mutter und der kleine Bruder hängen immer noch fest.

    Seit sechseinhalb Jahren, seit das Rot-Kreuz-Lager in Sangatte geschlossen wurde, bemüht sich Mariam, den Flüchtlingen zu helfen. Sie glaubt nicht mehr daran, dass sich die Situation eines Tages bessern wird.
    "Die Flüchtlingsströme werden andauern, solange es hier einen Fährhafen mit Zielort England gibt. Eine Lösung des Problems ist nur auf europäischer und internationaler Ebene möglich. Wir müssen die Menschen in ihren Ländern informieren. Ihnen sagen: Europa ist nicht so toll. Bevor die Flüchtlinge ihr Land verlassen, geben sie oft alles auf, sie verkaufen ihr gesamtes Hab und Gut. Dann können sie nicht mehr zurück. Aber wenn sie erst einmal bei uns sind, müssen wir sie wie Menschen behandeln."

    Mariam steht auf, nimmt ihren Mantel und geht zum Auto. Sie hat gerade erfahren, dass im Dschungel drei junge Afghanen campieren, sie sind elf und zwölf Jahre alt. Wenigsten die will sie jetzt noch holen.


    Die Grenze im Norden Frankreichs - zwischen dem europäischen Festland und Großbritannien - gilt mittlerweile als eine der am besten bewachten Grenzen in Europa: Sowohl der Hafen von Calais, als auch die Anlagen vor dem Eingangstor zum Eurotunnel sind gesichert wie einst die Grenzen zwischen Ost und West - überall Kontrollposten, Videokameras, Sensoren.

    Millionen wurden in den letzten Jahren investiert, um das Nadelöhr nach Großbritannien für illegale Migranten unpassierbar zu machen. Die Lastwagen, die hier auf die Fähren oder in den Eurotunnel rollen, werden nicht nur mit Spiegeln abgesucht - hier werden Scanner eingesetzt, endoskopische Kameras, CO2-Detektoren, die Atemluft in Containern aufspüren, und Sensoren, die Herztöne im Laderaum nachweisen können.

    Die meisten Migranten werden erwischt - und zurück ins Hinterland gebracht. Nach wenigen Tagen sind sie wieder da, probieren es noch einmal - und noch einmal, bis es vielleicht doch gelingt. 80 bis 100 Wagemutige sollen es pro Woche immer noch schaffen, heißt es.

    Andere bezahlen diesen gefährlichen Trip mit dem Leben: Im Sommer 2000 erstickten 58 Chinesen in einem Container - in Dover konnten sie nur noch tot aus ihrem stählernen Grab geborgen werden. Auch deshalb also die immer schärferen und raffinierteren Kontrollen - auch deshalb die harten Strafen, die allen Lastwagenfahrern drohen, wenn sie in Großbritannien mit illegalen Immigranten an Bord erwischt werden.

    Nach der Brotzeit
    Nach der Brotzeit (Bettina Kaps)
    Nur nicht anhalten: Die Angst der LKW-Fahrer vor illegalen Immigranten
    Hohe weiße Zäune schirmen das Hafengelände ab, sie sehen harmlos aus, nur ganz oben ist Stacheldraht zwischen die Pfosten gespannt. Durch die Metallstreben sieht man den LKW-Verkehr: Pausenlos rollen schwere Laster über die Fahrbahnen, kriechen im Schneckentempo Rampen und Brücken hoch, fädeln sich in die Spuren vor den Kontrollhäuschen ein. Neben jedem Checkpoint steht ein hoher Pfosten, daran flattert die Trikolore im Wind. In der Ferne ragt der Schornstein einer Fähre empor. Polizei ist nicht zu sehen.

    Die letzte große Tankstelle vor dem Hafen liegt ganz in der Nähe, im Industriegebiet von Calais. Ein Dutzend LKW rasten an diesem Abend auf dem Parkplatz, sie kommen aus Polen, Spanien, Italien. An der Zapfsäule hält ein Schlepper mit grauer Fahrerkabine und blauer Plane: "Pema Truck- und Trailorvermietung" steht darauf und das Kennzeichen ist deutsch. Der Fahrer tankt in aller Ruhe: Hans-Erich Israel transportiert Wegwerfbecher aus Schottland in die Schweiz. Auf dieser Route kann ihm nichts passieren, sagt er. Andersherum, in Richtung Großbritannien, hält er außerhalb des Hafens nicht mehr an.

    "Man muss hier unwahrscheinlich aufpassen. Mindestens im Umkreis von 100 Kilometern darf man nicht Stopp machen, ob man 'für kleine Jungs' muss oder sonst etwas, dann hat man die sofort drauf und dann gibt es Ärger. Und wenn die in England ankomme - 3000 Pfund pro Nase. Das kann sich keiner leisten."

    Israel schüttelt besorgt den Kopf. Er strahlt Gemütlichkeit aus mit seinen silberweißen Haaren, dem kurz gestutzten weißen Vollbart und einem kugelrunden Bauch, über dem locker ein grün-weißes Karohemd hängt. 57 Jahre ist er alt, und seit 15 Jahren schon fährt er diese Strecke, neuerdings sogar jede Woche. Aber die Migranten stören die Routine und manchmal können sie gefährlich werden, sagt er. Das hat man ihm jedenfalls so erzählt.

    "In den letzten drei Monaten waren das acht Mann gewesen, die ich da hatte, immer so verschieden aufgeteilt. Und wenn man selbst ran geht und will die runterjagen, muss man aufpassen, dass man nicht was zwischen die Rippen kriegt."

    Israel schließt den Tankdeckel ab, geht in die Raststätte, zahlt. Die Flüchtlinge, erzählt er dabei, sind gleich hinter Brüssel bei ihm eingestiegen, als er die vorgeschriebene Fahrpause einlegen musste und beim Duschen war. Sie wurden im Hafen entdeckt, aber da hatten sie schon auf die Kartons uriniert, und die Ladung Babywindeln war im Eimer. Er musste umdrehen und die Fuhre zurückbringen, das wurmt ihn immer noch, schließlich ist er für die Ware verantwortlich. Er zieht sich einen Kaffee am Automaten.

    Nicht auffallen, sagt Israel, ist die beste Taktik, um den Stichproben am Hafen zu entgehen. Deshalb trägt sein 40-Tonner auch keine Werbung auf der Plane. Aber wer einmal Flüchtlinge ins Hafengelände gebracht hat, wird beim nächsten Mal gleich strenger kontrolliert.

    "Immer wird gemacht, wenn ich reinkomme: Erst einmal meine Dokumente abgeben, dann muss ich ganz vorsichtig und sachte durch eine Sichtanlage, da wird schnell geröntgt, ob was drunter ist. Dann kommt die CO2-Prüfung, und wenn die nichts ergeben hat, dann müssen wir in einen Schuppen reinfahren, als Fahrer aussteigen, dann werden Messgeräte aufgelegt und dann können die hören, ob da Herztöne sind. Und wenn es ganz hart kommt, so wie ich das hatte, wo ich durch den Tunnel bin, da ist dann eine Röntgenanlage - und wen sie vorher nicht gekriegt haben, denn kriegen sie spätestens dann. Da sehen sie alles: Zigaretten, Schnaps. Wer bis da hingekommen ist, den kannste dann sowieso wegschmeißen, der ist kaputt, die Strahlen sind so stark, der setzt nichts mehr in die Welt. Das ist dann hart."

    Israel stammt aus Demmin an der Peene, in Vorpommern. Er hat Müller gelernt, wurde dann Militärkraftfahrer bei der Volksarmee, und arbeitete schließlich als Busfahrer in Ost-Berlin. Nach der Wende war er neugierig auf Europa - so wurde er Berufskraftfahrer. Auf den Rastplätzen und Autobahnen rund um Calais sieht er nun Menschen aus ganz fernen Ländern. Die herumirrenden Gestalten am Straßenrand wecken bei ihm keine Neugier und erst recht kein Mitleid - sie sind ihm egal.

    "Wir haben auch eine Revolution gemacht. Sollen sie ihren Arsch - hätte ich beinah gesagt - bewegen und dafür sorgen, dass es bei ihnen auch besser geht, oder nicht? Wenn die es besser haben wollen, sollen sie auch was dafür tun!"

    Die französische Grenzpolizei greift hart zu, erzählt er, und das findet er gut.

    "Wenn die sagen 'absteigen' und der eine macht noch Sperenzchen, dann wird gleich zugelangt. Zack, gleich richtig an die Kandare genommen, wie sich das gehört. Er hat doch die Scheiße gebaut. Selbst die Polizei muss damit rechnen, dass sie angegriffen wird, die haben ja Messer und so einen Scheiß bei sich - und einige davon sind ja richtig dreiste Typen."

    Wenn es nach ihm ginge, sollten die Grenzer ruhig noch um einiges brutaler vorgehen, damit sich die Nachricht davon bis nach Afrika und Asien herumspreche und die Migranten so abschrecke, dass sie gar nicht mehr bis nach Europa wollten. Dann grinst er wieder vergnügt.

    Mit den Flüchtlingen könne man ja auch ganz gute Geschäfte machen. Ein paar Kollegen aus Osteuropa hätten das ausprobiert. Einige seien aufgeflogen und in England wegen Menschenschmuggels ins Gefängnis gekommen. Das ist es nicht wert, sagt er, steigt in die Fahrerkabine, wirft den Motor an und fährt los.


    Das Flüchtlingselend in Calais ist auch die Folge einer verfehlten europäischen Migrationspolitik, sagen viele: Sie setzt auf Abwehr und Abschottung an den Außengrenzen und lässt die Mitgliedstaaten alleine, wenn die Flüchtlinge da sind. Von einer solidarischen, aufeinander abgestimmten Migrationspolitik ist Europa noch immer weit entfernt - obwohl es mittlerweile einen Pakt zu Einwanderung und Asyl gibt.

    Die Bürger von Calais und der Region wollen ihre Politiker aber nicht aus ihrer unmittelbaren Verantwortung entlassen: Die humanitäre Katastrophe werde immer schlimmer, je länger der Staat untätig bleibe, sagen sie. Tatsächlich geschieht nichts, um den "Sans Papiers" zu helfen - stattdessen nehmen die Schikanen der örtlichen Polizisten zu.

    Diese Politik hat Methode, sagen die Kritiker: Die Flüchtlinge sollen abgeschreckt, der weitere Zustrom unterbunden werden. Deshalb gibt es kein Lager mehr, keine Unterkünfte, keine sanitären Einrichtungen, ja noch nicht einmal eine geregelte Versorgung mit Lebensmitteln - stattdessen Drohungen mit kruden Strafen, falls gegen die Gesetze verstoßen wird, die Hilfeleistungen für Flüchtlinge strikt untersagen.

    Die meisten Bürgermeister halten sich daran - aber nicht alle. Marc Boulnois tut, was er kann - er ist Bürgermeister von Norrent-Fontes an der Autobahn nach Calais.

    Helfen gegen Widerstände: Ein Dorf-Bürgermeister stemmt sich gegen die staatliche Flüchtlingspolitik
    Nichtssagende Einfamilienhäuser, niedrige Gartenzäune, kurz geschnittener Rasen, Pampasgras. An die Gärten grenzen Felder an, sie sind braun und kahl. In der Mitte des Dorfes steht eine graue Kirche, gleich daneben liegt die Kneipe und ein paar Schritte weiter die Bäckerei - das ist Norrent-Fontes, 1500 Einwohner, 60 Kilometer vor der Küste, eine halbe Stunde vor Calais.

    Bürgermeister Marc Boulnois betritt den Gemeindesaal. In dem großen Raum sind gut 20 Matratzen aufgereiht, darauf liegen Decken, ein paar Kleidungsstücke. An der Küchenzeile stehen zwei Frauen und drei Männer und kochen Tee. Sie sind jung, haben dunkle Haut und feine Gesichtszüge - alle fünf stammen aus Eritrea. Boulnois schüttelt die ausgestreckten Hände, nimmt einen Becher Tee entgegen.

    Der Bürgermeister erkundigt sich, wer neu hier ist, fragt, wer vergangene Nacht sein Glück auf der Autobahn-Raststätte versucht hat. Weiter, sagt er bedauernd, reicht sein Englisch nicht. Die Afrikaner nicken, alle haben es probiert. Boulnois erklärt die Situation.

    "Seit ungefähr zehn Jahren haben wir jetzt Menschen bei uns, die illegal in England einwandern wollen. Das kommt daher, dass ganz in der Nähe die Autobahn verläuft und hier die letzte Tankstelle vor dem Tunnel ist. Für die Migranten ist es ein geeigneter Ort, um sich in einen LKW zu schmuggeln."

    Eigentlich zelten die Afrikaner außerhalb des Dorfs, auf freiem Feld. Aber weil es so kalt ist, hat Boulnois den Saal bereitgestellt. Das, betont der Bürgermeister, habe der Gemeinderat kollektiv entschieden.

    Ein Jahr ist es nun her, dass Boulnois gewählt wurde. Der rundliche Mann hat krauses blondes Haar, einen kurz geschnittenen Vollbart und freundliche blaue Augen. Er ist jung, 34 Jahre, und arbeitet als Ökonom für eine landwirtschaftliche Informationsagentur. Jetzt konzentriert er sich allerdings fast ausschließlich auf sein neues Amt. Er ist parteilos, wie alle im Gemeinderat hier.

    "Im Wahlkampf haben wir angekündigt, dass wir wohlwollend mit den Migranten umgehen wollen. Als Humanisten sind wir überzeugt, dass man ihnen helfen muss. Wir verurteilen, dass der Staat die illegalen Einwanderer in dieser auswegslosen Lage lässt: Er verbietet den Übergang nach Großbritannien, kann die Menschen aber auch nicht zurückschicken, die internationalen Verträge und die Lage in den Herkunftsländern lassen es nicht zu. Und welche Lösungen bietet der Staat an? So gut wie keine."

    Unter seinem Vorgänger, erzählt Boulnois, wurde das Lager der Migranten alle zwei Wochen zerstört. Polizisten und Gendarmen hätten die Zelte fortgerissen und die Decken in den Schmutz gezogen, manchmal seien ihnen sogar Angestellte der Gemeinde zur Hand gegangen.

    "Wenn die Polizei diese Menschen alle paar Tage abtransportiert, sie wie Verbrecher behandelt - in was für ein Licht setzen wir sie damit? Damit schafft man doch Ressentiments in der Bevölkerung. Das konnten wir zum Glück stoppen. Wir müssen den Menschen im Dorf erklären: Wenn wir Solidarität bei uns groß schreiben, wenn wir unseren jungen Leuten helfen, von denen viele arbeitslos sind, oder Mitbewohnern, die ihre Heizung nicht bezahlen können - dann können wir doch nicht zugleich jene vernachlässigen, die neben dem Dorf in einem Graben leben!"
    Schon eine Woche nach der Wahl wurden alle Bürgermeister der Region zum Präfekten bestellt. Der habe ihnen sehr deutlich die Direktive erklärt: Menschenschmuggel und die Einwanderung nach Großbritannien sind zu verhindern. Der zuständige Unterpräfekt sei allerdings ein verständnisvoller Mann. Gemeinsam mit der Polizei und einem Hilfsverein für die Migranten, der sich im Dorf gebildet hat, hätten sie jetzt eine akzeptable Lösung gefunden:

    "Wir haben uns geeinigt, dass das Lager nicht mehr zerstört, sondern verwaltet wird. Solange die Zahl der Menschen nicht über 30 steigt, können sie bleiben. Mir scheint, dass es für die Polizei dadurch sogar einfacher geworden ist, das Lager zu kontrollieren."

    Das ist dringend nötig: Vergangenes Jahr campierten auch Sudanesen und Afghanen in Norrent-Fontes, es kam zu Messerstechereien zwischen den Volksgruppen, und im Sommer wurde ein Eritreer ermordet. Damals nahmen die Eritreer selber Kontakt zur Gendarmerie auf. Seither gelingt es ihnen, sich andere Nationalitäten vom Leib zu halten. Wie sie das machen? Die Männer und Frauen im Gemeindesaal schütteln den Kopf, sie scheinen die Frage nicht zu verstehen oder wollen nicht antworten. Der Bürgermeister ist sich ziemlich sicher, dass hier mafiöse Strukturen entstanden sind - er nimmt es in Kauf.

    "Das ist die Kehrseite der Medaille: Die Plätze hier sind gewiss sehr teuer. Wenn im Lager nur noch 25 Menschen leben, müssen die nächsten fünf bestimmt eine Menge bezahlen, damit sie nach Norrent-Fontes kommen dürfen. Ich sehe nur eine Möglichkeit, sie aus dieser Lage und den Fängen der Schlepper zu befreien: dass man ihnen Asyl gewährt. Das wäre anständig, für die Flüchtlinge und für unsere Republik."

    Boulnois hat seinen Tee ausgetrunken. Er läuft durch das Dorf, plaudert mit einem alten Mann, der seine Gänse füttert, betritt die Bäckerei.

    In der Wandstellage stehen die Baguettes, das Glasregal unter der Theke ist mit Croissants, Rosinenschnecken und Törtchen gefüllt. Eine Frau und ein Mann kaufen ein und tauschen Neuigkeiten aus.

    Frau: "Wir haben den Afrikanern eine alte Matratze gebracht."

    Bürgermeister: "Haben sie Ihnen Kaffee angeboten?"

    Frau: "Ja, und auch Tee. Sie sind sehr höflich."

    Die Bäckersfrau ist der gleichen Ansicht.

    "Sie haben nie gebettelt, immer bezahlt. Letztes Jahr haben sie ihr Brot selbst gekauft, aber jetzt kommt jemand vom Hilfsverein. Wenn ich nicht im Laden stand, haben sie die Tür geöffnet und laut 'Bonjour' gerufen. Erst wenn sie mich sahen, sind sie eingetreten. Die wollen im Dorf nicht auffallen, die wollen nur rüber, nach Großbritannien. Sie benehmen sich anständig!"

    Die Bäckersfrau greift in eine Schublade, zieht sechs Ladegeräte hervor: Sie habe den Flüchtlingen die Handys aufgeladen, obwohl Hilfe verboten sei. Die Besitzer seien irgendwann nicht mehr aufgetaucht, vielleicht hätten sie es ja geschafft, nach Großbritannien zu kommen.

    Viele Bewohner des Dorfes sind solidarisch, sagt der Bürgermeister auf dem Weg zum Rathaus. Sie bringen Altkleider, Decken, Nahrungsmittel. Andere fahren die Migranten zweimal in der Woche zum Duschen: Das Nachbardorf sperrt dafür die Kabinen des Fußballvereins auf.

    "Wir haben Helfer, die aus religiösen Überzeugungen kommen, und andere, die dem ganz linken Spektrum angehören. Wegen der Flüchtlinge kommen hier Menschen zusammen, die sich sonst vielleicht niemals kennengelernt hätten. Das Problem der Immigration schafft eine positive Dynamik über Grenzen hinweg."

    Doch neuerdings breitet sich auch Angst aus: Ende Februar wurde bei einer Helferin das ganze Haus durchsucht. Die Polizei fand drei Handys, die sie für die Migranten auflud. Die 59-Jährige wurde abgeführt und neun Stunden lang in Polizeigewahrsam genommen.

    Marc Boulnois will sich nicht einschüchtern lassen. Der Bürgermeister sperrt den Raum auf, in dem die Spenden gesammelt werden. Nachdenklich betrachtet er ein paar alte Turnschuhe. Vielleicht, sagt er, ließe sich ein Fußballspiel organisieren, zwischen den Eritreern und der Dorfjugend.

    du hast ein zuhause aus pappe. für ein paar nächte. du schläfst ein. du hörst stimmen. das haus aus pappe ist schön. ist schön. ja. plötzlich drei typen. die stehen da. und grinsen. du bist hellwach. die typen reden. reden über dein haus. sieht gut aus. sieht wirklich gut aus. einzigartig. ein haus aus pappe. mannomann. macht was her. Macht echt was her. guck mal. da liegt einer drin. echt gut. Coole hütte. lebt sich gut in dem haus. in dem haus aus pappe. sie schlagen zu. treten. in den bauch. ins gesicht. Und dann. wie solls denn. was kann man denn da. echt jetzt. das gesicht blutet. mal weiterbauen. mal weiterdenken. mal weiterleben. sie verschwinden wieder. du weißt wo du nicht hingehörst, du weißt nicht: warum bist du da. du hast kein land. du hast kein zuhause. du hast nur dich.

    Das französische Gesetz, das es verbietet, Flüchtlingen zu helfen, stammt aus dem Jahr 1945. Es ist ebenso ins Schussfeld öffentlicher Kritik geraten, wie das Gesetz aus dem Jahr 2003, das jede Hilfeleistungen gegenüber Ausländern untersagt, die sich unerlaubt im Land aufhalten. Es drohen bis zu fünf Jahre Haft und 30.000 Euro Geldstrafe. Doch als vor ein paar Jahren Mitglieder einer Hilfsorganisation zu fünf Jahren Haft mit Bewährung verurteilt wurden, weil sie Illegalen geholfen hatten, kam es zu einem Aufschrei der Empörung - und zum Freispruch in zweiter Instanz.

    Das "Delikt der Solidarität" nennen die Franzosen spöttisch die einschlägigen Paragraf - und setzen sich über die Rechtsprechung hinweg. Das Credo der französischen Revolution "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" wird geradezu trotzig in den Alltag übersetzt: Supermärkte verteilen Lebensmittel unter den Flüchtlingen, Bäcker verschenken Brot, Bürger nehmen geschwächte Menschen bei sich auf. Ohne die Solidarität und die Spenden aus der Bevölkerung, ohne die Arbeit der Hilfsorganisationen könnten die "Sans Papiers" im Dschungel von Calais kaum überleben.

    Allerdings kann sich auch der Staat nicht ganz aus der Verantwortung stehlen. Zumindest die medizinische Grundversorgung stellt er sicher.

    Dr. Dandoy und das Gebot der medizinischen Grundversorgung: Ärzte helfen Migranten in Calais
    Die Reha-Klinik von Calais liegt in einem großen Park. Am äußersten Rand steht eine graue Baracke. An ihrer Eingangstür klebt ein Zettel mit den Buchstaben: "P-A-S-S". Franzosen kennen die Abkürzung im Allgemeinen nicht, aber für Migranten ist die "PASS" ein Lichtblick: Im "Bereitschaftsdienst für Pflege und Gesundheit", so die Übersetzung, kümmern sich ein Arzt und eine Krankenschwester um die Flüchtlinge, kostenlos.

    Um 14 Uhr beginnt die Sprechstunde. Schreibtisch, Untersuchungsliege, ein Apothekenschrank und ein Waschbecken füllen das kleine Untersuchungszimmer restlos aus. Krankenschwester Amandine legt sauberes Papier auf die Liege, holt das Stethoskop aus der Schublade.

    Die junge Frau trägt einen weißen Kittel und baumelnde Silberohrringe, die braunen Haare hat sie zum Dutt gebunden. Amandine strahlt Sauberkeit aus, der stechende Geruch aus dem Wartezimmer scheint ihr nichts auszumachen. Dort drängen sich die Patienten. Es sind alles Männer, die sich seit Tagen oder Wochen nicht gewaschen haben. Sie schlafen nachts im Gebüsch am Straßenrand oder in leer stehenden Häusern ohne Wasseranschluss.

    Ein Mann, ebenfalls im weißen Kittel, holt einen jungen Afghanen ins Untersuchungszimmer. Reza Akbari ist selbst Afghane, er strandete auch als Flüchtling in Calais. Das war vor fünf Jahren. Jetzt hat ihn das Krankenhaus als Übersetzer für die Migranten angestellt.

    "Ich spreche ein bisschen englisch, außerdem russisch, persisch, mehrere indische und pakistanische Dialekte. Ich dolmetsche hier für alle Patienten. Vorher habe ich auch gekämpft, genau wie sie. Es ist hart, auf der Straße zu leben."

    Der Patient nennt Name und Alter, Reza legt eine Akte an, und übersetzt: Der Junge sei 16 Jahre alt, er klage über Juckreiz am ganzen Körper, außerdem schmerze ein Zahn. Der Arzt Yann Dandoy tastet den Flüchtling ab. Er ist Mitte 40, ein zurückhaltender Mann im hellblauen Tennispullover mit blondem Haar und hoher Stirn. Dandoy diagnostiziert Krätze, außerdem Karies. Resigniert zuckt er die Schultern.
    "Um Krätze zu heilen, braucht man frische Kleider, eine Dusche und muss die Haut mit einem Spray behandeln. Andernfalls infiziert sich der Patient immer wieder neu. Ich verordne einen Spray, der den Juckreiz verringert, aber Heilung kann ich nicht garantieren. Sobald der Patient unter einer verseuchten Decke schläft, kommt die Krätze wieder."

    Die Krankenschwester bringt saubere Unterwäsche, Strümpfe, ein Handtuch. Sie nimmt einen Hautspray aus dem Apothekenschrank und schickt den Jungen damit unter die Dusche. Der Gesundheitsdienst ist der einzige Ort in ganz Calais, wo sich die Flüchtlinge richtig waschen können. Gegen Zahnschmerzen kann der Arzt allerdings nur Tabletten verteilen - einen Zahnarzt gibt es hier nicht.

    Ein Eritreer betritt den Raum: Der Mann hustet seit langem und atmet schwer. Dandoy injiziert einen Tuberkulintest. Er drängt den Flüchtling, in zwei Tagen wieder zu kommen, damit der Test auch abgelesen werden kann. Die Krankenschwester gibt ihm Medikamente gegen Asthma mit.

    "Wir diagnostizieren häufig Tuberkulose. Dabei taucht ein unlösbares Problem auf: Wir müssten unbedingt auch die Kameraden testen, mit denen die Erkrankten zusammen sind, aber das ist unmöglich, weil sie ja in der Illegalität leben. Niemand weiß, ob sich der Nachbar angesteckt hat oder nicht."

    Bei Tuberkulose werden die Flüchtlinge ins Krankenhaus eingewiesen, sagt Dandoy. Er selbst hat eine Arztpraxis in der Nähe von Dünkirchen, 45 Kilometer östlich von Calais, außerdem ist er Mitglied von "Medecins du Monde". Nur auf Druck dieser Ärzte-Hilfsorganisation hat der Staat in mehreren Städten den kostenlosen Gesundheitsdienst für Migranten eingerichtet. Aber in Dünkirchen, wo es auch Flüchtlinge gibt, funktioniere er nicht, bedauert Dandoy, weil das Krankenhaus das Geld offenbar anderweitig verwende. Deshalb hält er einmal im Monat Sprechstunde im Krankenhaus von Calais. Die Arbeitsbedingungen seien korrekt.

    "Wir verfügen hier über eine gut eingerichtete Apotheke. Sobald ein Medikament fehlt, bestellen wir es einfach im Krankenhaus. Wenn der Gesundheitsdienst erst einmal existiert und läuft, dann kann man die Flüchtlinge ordentlich behandeln."

    Der Gesundheitsdienst ist jeden Nachmittag in der Woche vier Stunden lang besetzt, wenn nötig, bleibt der Arzt auch länger. Rund 30 Patienten lassen sich dort täglich untersuchen. Yann Dandoy und seine Kollegen, die Krankenschwester, der Übersetzer, die Medikamente - die ganze Struktur wird vom Staat bezahlt. Aber Herbergen für die Flüchtlinge sind in Frankreich verboten. Sobald die Patienten das Untersuchungszimmer verlassen, kehren sie zurück in besetzte Häuser oder Elendsbaracken - eine Umgebung, die krank macht. Yann Dandoy regt das auf:

    "Der Staat will die Anwesenheit dieser Menschen nicht anerkennen, aber er bezahlt einen Gesundheitsdienst für sie. Offiziell heißt es, diese Gesundheitsversorgung sei für alle Bürger da, aber das trifft nicht zu, weil Bedürftige in Frankreich kostenlos krankenversichert sind. Da zeigt sich die Verlogenheit der Politiker. In Calais existiert diese Einrichtung ausschließlich für Migranten."

    Genug geredet, das Wartezimmer ist noch voll. Ein Iraker hat sich beim Fluchtversuch den Finger aufgeschlitzt, ein Palästinenser leidet unter Durchfall. Yann Dandoy fragt, wo es weh tut, untersucht, verteilt Medikamente.


    Das war: "Gesichter Europas" an diesem Samstag: Die Unsichtbaren und der Tunnel - Flüchtlingselend in Calais. Sie hörten eine Sendung mit Reportagen von Bettina Kaps. Die Literaturauszüge wurden gelesen von Simon Roden - wir entnahmen sie seinem Buch: "Illegal. Wir sind viele. Wir sind da" von Björn Bicker. Es ist im Verlag Antje Kunstmann erschienen. Die Musik hat Babette Michel ausgesucht. Am Mikrofon verabschiedet sich Thilo Kößler.