Ein Ende des Erzählen kostet den Ritter Schionatulander in Wolfram von Eschenbachs >>Parzival
<< das Leben. Die Dame seines Herzens wirft ihre Liebe in die Waagschale, um den Rest der Geschichte zu erfahren, die das Halsband ihres Hündchens erzählt. Tristram Shandys Lebenserinnerungen enden mit der eigenen Geburt. Seine Geschichte beginnt, wo das Erzählen endet. So hebt Lawrence Sterne in der Figur seines Erzählers das Ende des Erzählens, die Zeit auf.
Warum kommt das Erzählen zu keinem natürlichen Ende? Warum werden überhaupt Geschichten erzählt?
"Was es gewesen ist, was wir wissen wollen”, hat Hans Blumenberg, der philosophierende Geschichtenerzähler, geantwortet. Erregungsherd des Erzählens wäre demnach die Differenz zwischen Leben und Wissen, wäre die tiefe Kränkung des in sterblicher Haut steckenden menschlichen Bewußtseins, das als Erzähler, Lebenszeit gegen Weltzeit vertauschend, die Grenzen seiner physischen Existenz sprengt. Demnach folgt das Erzählen seiner inneren Logik, wenn es nicht endet, denn es bekämpft als Ersatzhandlung den Tod.
"Natürlich ist die Literatur die Rettung vor dem ewigen Tod, der ohne ihr Aufzeichnen und ihr - durch die Form bedingtes - Bewahren einem Niedagewesensein gleichkäme.”
Jürgen Manthey, der Essener Literaturwissenschaftler, der hier von der Zeitzeugenschaft, aber auch von Sinnrepräsentationen des Kunstwerks außerhalb der Zeit spricht, ist ein Analytiker der unendlichen Erzählung. Sein Gegenstand ist jenes ungeschichtliche, aber biographisch darstellbare Subjekt des literarischen Ausdrucks, das sich mit den Symptomen seiner ödipalen Leidensgeschichte als anthropologische Konstante in den Wiederholungen der Motiv- und Stoffgeschichte widerspiegelt. Damit kommt er auf das Thema zurück, das ihn vor vierzehn Jahren in seiner großen Studie über das Sehen beschäftigte.
>>Wenn Blicke zeugen könnten << lautete der Titel des Buchs, das auf seinem Parcours durch die Geschichte der Literatur und Philosophie die ästhetische Umwandlung von Triebenergie beobachtete: eine aus Tiefenschichten primären Erlebens aufsteigende, auf Ersatzobjekte abgedrängte Schaulust, die sich der literarischen Rede bemächtigt. Nun geht er einen Schritt weiter.
"Warum diese Übertragung beim Sprechen besonders über Leid und Lust auf eine andere, im Sprechen geübte Stimme? Weil der rhetorisch versierte Sprecher die größeren Wirkungen erzielt, und um die geht es besonders bei Lust und Leid. Das ist gemeint, wenn Gottfried Benn sagt, ein Dichter schreibe am besten im Winter über den Sommer und umgekehrt. Dabei wird kein literarisches Subjekt gegenüber seinem Objekt gleichgültig sein. Ganz im Gegenteil. Wäre ihm sonst an der Optimierung des wirkungsvollen, das heißt des rhetorischen Sprechens so gelegen? Wären Kindheit und Jugend bei Dichtern sonst ein so beliebtes Sujet?
Was wir hier im Auge haben, ist ja: Wie verhält sich die Literatur zur Frühgestalt des Menschen, dem archaischen Selbst, wie es uns in den Mythen der Religionen und Psychoanalyse entgegentritt?”
Der Prototyp seiner Figurengalerie ist Achill, dem, grundlegend, das erste Kapitel des Buches gilt. Aber nicht als Protagonist des Heldenzeitalters interessiert ihn die Zorngestalt Homers. Mantheys psychoanalytische Lesart schält, in verblüffender Nähe zu Christa Wolfs Deutung der Figur, aus dem Stoff der >>Ilias << die urbildliche Geschichte des aggressiven, primitiven, infantilen Kindes, dem die Lösung aus der archaisch-mütterlichen Form der Gemeinschaft und der Anschluß an eine die Objektwelt symbolisch ordnende Gesellschaft, die Eingliederung in die reifen Sozialformen zivilisierten Lebens nicht gelingt. Weil solcher Sinnstoff sich mit dem Leben erneuert, ist Achill unsterblich.
Die Universalität der Figur, ihre Wiederkehr und ihre Metamorphosen in der Geschichte der Erzählkunst, die Verdichtungen und Verschiebungen des Stoffes und namentlich die Ausformung gegenbildlicher Brudergestalten beschäftigen Manthey in einer Arbeit, die man als Kulturgeschichte des Sohnes bezeichnen könnte.
"Daß in ihr, der Literatur, der schreibende Sohn der ihr dies vorschreibenden Mutter gedenken soll, verewigt das Bündnis, das während des Spiegelstadiums zwischen den beiden geschlossen wurde.”
Als Spiegelstadium bezeichnet die Psychoanalyse die frühkindliche Gefühlseinheit von Mutter und Kind, in der die Welt noch als Ganzheit, nicht in Subjekt und Objekt zerfallene erlebt wird. Das Drama der Ablösung gilt dieser archaisch-mütterlichen Form der Gemeinschaft, die der Heranwachsende zugunsten einer die Objektwelt symbolisch ordnenden Gesellschaft hinter sich läßt.
"Daß dieser Bund keine reale Basis jenseits der beschreibenden, der beschwörenden Worte hat, beweist die Periode, in der für Gregor die Frau, die seine Mutter ist, erreichbar, nämlich wirklich seine Gattin geworden ist. Die Tafel wird ihm in dieser Zeit umso unentbehrlicher. Sie erfüllt ihn von Tag zu Tag mit immer größerer Trauer, die zur Entdeckung des wahren Verwandtschaftsverhältnisses zwischen beiden führt: die typische Melancholie des Jugendlichen vor der Ablösung.”
Die Rede ist hier, im sechsten Kapitel des Buchs, von einem doppelten Inzestdrama. Sein Held entstammt einer Geschwisterehe und heiratet unwissentlich die verwitwete Mutter. Die Rede ist von >>Gregorius <<, einem Epos Hartmann von Aues. Gregorius ist das Beispiel eines kindlichen Selbst, dem die Lösung von der Mutter nicht gelingt, weil die Trennung vorzeitig und gewaltsam erfolgt. Also ...
"... muß ein Relais, ein Zwischending, ein Ersatzobjekt eingeführt werden ...”
Als Ersatzobjekt kommt die Literatur ins Spiel. So entwickelt der Stoff den motivischen Zündkern für Thomas Manns 700 Jahre später entstandenen Künstlerroman >>Der Erwählte <<. Gregorius wird nach der Entdeckung des Frevels dem Meer übergeben. Doch seine Mutter legt eine Schreibtafel in sein Schiffskästchen, auf der sie die hohe Geburt und die Abkunft des Kindes aus der Liebe von Geschwistern anzeigt und Weisung gibt, ihm das Lesen beizubringen, damit er seine Geschichte selber lesen könne. So wird die Schrift zum Medium des Beziehungsgefüges von Mutter und Sohn und zu seinem Denkmal, denn ...
"... ihre schriftliche Botschaft an diesen endet ja mit der Aufforderung: Er solle ferner der Frau gedenken/ die ihn zur Welt gebracht:/ Dessen bedürften sie beide/ zur Rettung vor dem eigenen Tod.”
Erst die mediale, die indirekte Form macht die nackte Wahrheit erträglich. Literatur ist demnach der öffentliche Schauplatz, auf dem rohes Triebgeschehen in die sanktionierte, als Diskurs organisierte Form der Liebe gegossen wird: in Begehren.
"Die natürliche verwandelt sich so in eine kulturelle Mutter. Sie ist in die symbolische Ordnung integriert, und diese spricht mit ihrer Stimme, die nur als Schrift existiert, zum Sohn. Diese Kompromißschrift ist Literatur.”
Das Erzählen ist ein "keuscher Geschlechtsakt”, eine Zeugung wird maskiert. Die Auferstehung des Fleisches im Wort, der "keusche Geschlechtsakt”, transformiert den Zeugungsakt ins Imaginäre. Verhüllend enthüllt das sprachliche Kunstwerk seine biologische Realität. So wird Manthey zum detektivischen Dekonstruktivisten.
Er unterläuft die Sinnhierarchie der Texte und legt unter ihrer Oberfläche die maskierten Inschriften eines Selbst frei, das sich schreibend konstituiert. Aber auf dem schmerzhaften Weg zu Identität, zu personaler Autonomie und Souveränität wiederholt es ein Stück archaischer Erbschaft und Urgeschichte. Die zivilisierte Menschheit ist dem Mythos nicht entronnen; im Zirkel von Verdrängung und Wiederkehr des Verdrängten verhilft sie ihm lediglich zu rationalisiertem Ausdruck. Davon legt die Literatur Zeugnis ab.
Eine innere Gleichzeitigkeit verbindet Homers Ilias mit William Shakespeares >>Hamlet>>, Franz Kafkas >>Die Verwandlung<<, Bertolt Brechts>>Baal <<, verbindet Telemach, den Sohn des Odysseus, mit Wolfram von Eschenbachs Parzival, verbindet Achill mit den wilden Männern, Titanen und Schlagetods der Literatur, mit Enkidu, dem brüderlichen Gegenspieler Gilgameschs, mit den alttestamentarischen Propheten, dem Apokalyptiker Johannes, mit Grettir, einer isländischen Sagenfigur.
Wenn Manthey zeigt, an welch neuralgischem Punkt des Romans >>Werther<< die Odyssee liest und warum seine Lieblingsszenen ausgerechnet jene Partien des Epos sind, wo Odysseus abwesend ist und die Frier Penelope bedrängen, wenn er zeigt, warum Arno Schmidts Lisa in den>>Schwarzen Spiegel<<n nach="" der="" lektüre="" jugendaufzeichnungen="" des="" protagonisten="" um="" tee="" bittet="" und="" warum="" die="" mutter="" billy="" pilgrim="" in="" kurt="" vonneguts="" >>Schlachthof Fünf << ihre qualmende Zigarette im Zimmer des Kranken zurückläßt, dann entsteht ein intimes Familienbild der Literatur auf einer Simultanbühne, die beides zeigt, den sich erneuernden Augenblick der zivilisatorischen "Introversion des Opfers” und den literarischen Prozeß lebendiger Wiederholungen und schöpferischer Steigerungen, den unwandelbaren Zusammenhang individueller Geschichte mit der geschichtlichen Konstitution der Gattung wie das sich fortzeugende Selbstgespräch der Literatur.
Das Erzählen im Zeichen solch doppelter Zeitbindung kann schlechterdings zu keinem natürlichen Ende kommen.
" Psychoanalytiker und Dichter bearbeiten das gleiche Material: die Phantasien des Subjekts, die es von seinen realen Objekten mehr trennen als mit ihnen verbinden. Abgesehen davon verhält sich die analytische Erklärung zur literarischen Darstellung etwa so wie der zusammengeklappte Regenschirm zum aufgespannten: In begrifflicher Raffung sind alle Aspekte der Entstehung eines Kunstwerks beisammen, doch vor dem eigentlichen Griff zu dessen Entfaltung steht der Analytiker so staunend wie wir alle.”
und präzisierend:
"... das ist die Frage-Grundfigur dieses Buches -, in welchem Verhältnis steht die ästhetische Freiheitsübung, ostentativ in die Gegenrichtung zielend, zu der einseitigen Gefühlsfestlegung auf das eine, das ursprüngliche Objekt?”</n>
Warum kommt das Erzählen zu keinem natürlichen Ende? Warum werden überhaupt Geschichten erzählt?
"Was es gewesen ist, was wir wissen wollen”, hat Hans Blumenberg, der philosophierende Geschichtenerzähler, geantwortet. Erregungsherd des Erzählens wäre demnach die Differenz zwischen Leben und Wissen, wäre die tiefe Kränkung des in sterblicher Haut steckenden menschlichen Bewußtseins, das als Erzähler, Lebenszeit gegen Weltzeit vertauschend, die Grenzen seiner physischen Existenz sprengt. Demnach folgt das Erzählen seiner inneren Logik, wenn es nicht endet, denn es bekämpft als Ersatzhandlung den Tod.
"Natürlich ist die Literatur die Rettung vor dem ewigen Tod, der ohne ihr Aufzeichnen und ihr - durch die Form bedingtes - Bewahren einem Niedagewesensein gleichkäme.”
Jürgen Manthey, der Essener Literaturwissenschaftler, der hier von der Zeitzeugenschaft, aber auch von Sinnrepräsentationen des Kunstwerks außerhalb der Zeit spricht, ist ein Analytiker der unendlichen Erzählung. Sein Gegenstand ist jenes ungeschichtliche, aber biographisch darstellbare Subjekt des literarischen Ausdrucks, das sich mit den Symptomen seiner ödipalen Leidensgeschichte als anthropologische Konstante in den Wiederholungen der Motiv- und Stoffgeschichte widerspiegelt. Damit kommt er auf das Thema zurück, das ihn vor vierzehn Jahren in seiner großen Studie über das Sehen beschäftigte.
>>Wenn Blicke zeugen könnten << lautete der Titel des Buchs, das auf seinem Parcours durch die Geschichte der Literatur und Philosophie die ästhetische Umwandlung von Triebenergie beobachtete: eine aus Tiefenschichten primären Erlebens aufsteigende, auf Ersatzobjekte abgedrängte Schaulust, die sich der literarischen Rede bemächtigt. Nun geht er einen Schritt weiter.
"Warum diese Übertragung beim Sprechen besonders über Leid und Lust auf eine andere, im Sprechen geübte Stimme? Weil der rhetorisch versierte Sprecher die größeren Wirkungen erzielt, und um die geht es besonders bei Lust und Leid. Das ist gemeint, wenn Gottfried Benn sagt, ein Dichter schreibe am besten im Winter über den Sommer und umgekehrt. Dabei wird kein literarisches Subjekt gegenüber seinem Objekt gleichgültig sein. Ganz im Gegenteil. Wäre ihm sonst an der Optimierung des wirkungsvollen, das heißt des rhetorischen Sprechens so gelegen? Wären Kindheit und Jugend bei Dichtern sonst ein so beliebtes Sujet?
Was wir hier im Auge haben, ist ja: Wie verhält sich die Literatur zur Frühgestalt des Menschen, dem archaischen Selbst, wie es uns in den Mythen der Religionen und Psychoanalyse entgegentritt?”
Der Prototyp seiner Figurengalerie ist Achill, dem, grundlegend, das erste Kapitel des Buches gilt. Aber nicht als Protagonist des Heldenzeitalters interessiert ihn die Zorngestalt Homers. Mantheys psychoanalytische Lesart schält, in verblüffender Nähe zu Christa Wolfs Deutung der Figur, aus dem Stoff der >>Ilias << die urbildliche Geschichte des aggressiven, primitiven, infantilen Kindes, dem die Lösung aus der archaisch-mütterlichen Form der Gemeinschaft und der Anschluß an eine die Objektwelt symbolisch ordnende Gesellschaft, die Eingliederung in die reifen Sozialformen zivilisierten Lebens nicht gelingt. Weil solcher Sinnstoff sich mit dem Leben erneuert, ist Achill unsterblich.
Die Universalität der Figur, ihre Wiederkehr und ihre Metamorphosen in der Geschichte der Erzählkunst, die Verdichtungen und Verschiebungen des Stoffes und namentlich die Ausformung gegenbildlicher Brudergestalten beschäftigen Manthey in einer Arbeit, die man als Kulturgeschichte des Sohnes bezeichnen könnte.
"Daß in ihr, der Literatur, der schreibende Sohn der ihr dies vorschreibenden Mutter gedenken soll, verewigt das Bündnis, das während des Spiegelstadiums zwischen den beiden geschlossen wurde.”
Als Spiegelstadium bezeichnet die Psychoanalyse die frühkindliche Gefühlseinheit von Mutter und Kind, in der die Welt noch als Ganzheit, nicht in Subjekt und Objekt zerfallene erlebt wird. Das Drama der Ablösung gilt dieser archaisch-mütterlichen Form der Gemeinschaft, die der Heranwachsende zugunsten einer die Objektwelt symbolisch ordnenden Gesellschaft hinter sich läßt.
"Daß dieser Bund keine reale Basis jenseits der beschreibenden, der beschwörenden Worte hat, beweist die Periode, in der für Gregor die Frau, die seine Mutter ist, erreichbar, nämlich wirklich seine Gattin geworden ist. Die Tafel wird ihm in dieser Zeit umso unentbehrlicher. Sie erfüllt ihn von Tag zu Tag mit immer größerer Trauer, die zur Entdeckung des wahren Verwandtschaftsverhältnisses zwischen beiden führt: die typische Melancholie des Jugendlichen vor der Ablösung.”
Die Rede ist hier, im sechsten Kapitel des Buchs, von einem doppelten Inzestdrama. Sein Held entstammt einer Geschwisterehe und heiratet unwissentlich die verwitwete Mutter. Die Rede ist von >>Gregorius <<, einem Epos Hartmann von Aues. Gregorius ist das Beispiel eines kindlichen Selbst, dem die Lösung von der Mutter nicht gelingt, weil die Trennung vorzeitig und gewaltsam erfolgt. Also ...
"... muß ein Relais, ein Zwischending, ein Ersatzobjekt eingeführt werden ...”
Als Ersatzobjekt kommt die Literatur ins Spiel. So entwickelt der Stoff den motivischen Zündkern für Thomas Manns 700 Jahre später entstandenen Künstlerroman >>Der Erwählte <<. Gregorius wird nach der Entdeckung des Frevels dem Meer übergeben. Doch seine Mutter legt eine Schreibtafel in sein Schiffskästchen, auf der sie die hohe Geburt und die Abkunft des Kindes aus der Liebe von Geschwistern anzeigt und Weisung gibt, ihm das Lesen beizubringen, damit er seine Geschichte selber lesen könne. So wird die Schrift zum Medium des Beziehungsgefüges von Mutter und Sohn und zu seinem Denkmal, denn ...
"... ihre schriftliche Botschaft an diesen endet ja mit der Aufforderung: Er solle ferner der Frau gedenken/ die ihn zur Welt gebracht:/ Dessen bedürften sie beide/ zur Rettung vor dem eigenen Tod.”
Erst die mediale, die indirekte Form macht die nackte Wahrheit erträglich. Literatur ist demnach der öffentliche Schauplatz, auf dem rohes Triebgeschehen in die sanktionierte, als Diskurs organisierte Form der Liebe gegossen wird: in Begehren.
"Die natürliche verwandelt sich so in eine kulturelle Mutter. Sie ist in die symbolische Ordnung integriert, und diese spricht mit ihrer Stimme, die nur als Schrift existiert, zum Sohn. Diese Kompromißschrift ist Literatur.”
Das Erzählen ist ein "keuscher Geschlechtsakt”, eine Zeugung wird maskiert. Die Auferstehung des Fleisches im Wort, der "keusche Geschlechtsakt”, transformiert den Zeugungsakt ins Imaginäre. Verhüllend enthüllt das sprachliche Kunstwerk seine biologische Realität. So wird Manthey zum detektivischen Dekonstruktivisten.
Er unterläuft die Sinnhierarchie der Texte und legt unter ihrer Oberfläche die maskierten Inschriften eines Selbst frei, das sich schreibend konstituiert. Aber auf dem schmerzhaften Weg zu Identität, zu personaler Autonomie und Souveränität wiederholt es ein Stück archaischer Erbschaft und Urgeschichte. Die zivilisierte Menschheit ist dem Mythos nicht entronnen; im Zirkel von Verdrängung und Wiederkehr des Verdrängten verhilft sie ihm lediglich zu rationalisiertem Ausdruck. Davon legt die Literatur Zeugnis ab.
Eine innere Gleichzeitigkeit verbindet Homers Ilias mit William Shakespeares >>Hamlet>>, Franz Kafkas >>Die Verwandlung<<, Bertolt Brechts>>Baal <<, verbindet Telemach, den Sohn des Odysseus, mit Wolfram von Eschenbachs Parzival, verbindet Achill mit den wilden Männern, Titanen und Schlagetods der Literatur, mit Enkidu, dem brüderlichen Gegenspieler Gilgameschs, mit den alttestamentarischen Propheten, dem Apokalyptiker Johannes, mit Grettir, einer isländischen Sagenfigur.
Wenn Manthey zeigt, an welch neuralgischem Punkt des Romans >>Werther<< die Odyssee liest und warum seine Lieblingsszenen ausgerechnet jene Partien des Epos sind, wo Odysseus abwesend ist und die Frier Penelope bedrängen, wenn er zeigt, warum Arno Schmidts Lisa in den>>Schwarzen Spiegel<<n nach="" der="" lektüre="" jugendaufzeichnungen="" des="" protagonisten="" um="" tee="" bittet="" und="" warum="" die="" mutter="" billy="" pilgrim="" in="" kurt="" vonneguts="" >>Schlachthof Fünf << ihre qualmende Zigarette im Zimmer des Kranken zurückläßt, dann entsteht ein intimes Familienbild der Literatur auf einer Simultanbühne, die beides zeigt, den sich erneuernden Augenblick der zivilisatorischen "Introversion des Opfers” und den literarischen Prozeß lebendiger Wiederholungen und schöpferischer Steigerungen, den unwandelbaren Zusammenhang individueller Geschichte mit der geschichtlichen Konstitution der Gattung wie das sich fortzeugende Selbstgespräch der Literatur.
Das Erzählen im Zeichen solch doppelter Zeitbindung kann schlechterdings zu keinem natürlichen Ende kommen.
" Psychoanalytiker und Dichter bearbeiten das gleiche Material: die Phantasien des Subjekts, die es von seinen realen Objekten mehr trennen als mit ihnen verbinden. Abgesehen davon verhält sich die analytische Erklärung zur literarischen Darstellung etwa so wie der zusammengeklappte Regenschirm zum aufgespannten: In begrifflicher Raffung sind alle Aspekte der Entstehung eines Kunstwerks beisammen, doch vor dem eigentlichen Griff zu dessen Entfaltung steht der Analytiker so staunend wie wir alle.”
und präzisierend:
"... das ist die Frage-Grundfigur dieses Buches -, in welchem Verhältnis steht die ästhetische Freiheitsübung, ostentativ in die Gegenrichtung zielend, zu der einseitigen Gefühlsfestlegung auf das eine, das ursprüngliche Objekt?”</n>