Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Die unten im Wasser zitternden Lichter

Der Literaturwissenschaftler Alexander von Bormann ist am vergangenen Mittwoch nach langer Krankheit gestorben. Von 1971 bis 2001 war der Germanist und Publizist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Amsterdam.

Von Thomas Rosenlöcher | 22.09.2009
    Die unten im Wasser zitternden Lichter; das auf den Grachten schwebende Laub; die über die Brücken hinwegfliegenden, ewig jungen Fahrradfahrer – wenn ich je wieder nach Amsterdam komme, wird Alexander von Bormann mir fehlen. War der 1932 in Vorpommern Geborene hier doch dreißig Jahre Professor für Neuere Deutsche Literatur, sozusagen unser Mann in den Niederlanden; sein von braunen Papiertüten voller Bücher verstelltes Büro mitten in Amsterdam, am Spui – einem Grachtenwasser, das ich trotz seiner geduldigen Korrekturen bis heute falsch ausspreche.

    Mitte der 70er-Jahre – voriges Jahrhundert, klar – wollte ich als Zögling des Leipziger Johannes-R.-Becher-Instituts, nein, nicht über Johannes R. Becher, sondern über Joseph von Eichendorff schreiben. Wer über Literatur schreibt, benötigt Literatur, aus der er abschreiben kann. Doch von wem war abzuschreiben, wenn man sich nicht von vornherein mit Johannes R. Becher begnügte? Nun, die Sächsische Landesbibliothek war damals besser mit Westbüchern bestückt, als heute gern behauptet wird.

    Stieß immerhin auf: "Natura loquitur. Naturpoesie und emblematische Formeln bei Joseph von Eichendorff". Der Verfasser ein gewisser Alexander von Bormann. Klaute ihm die auf Eichendorff angewandte, sogenannte Geschichtstriade. Den Sprung aus der alten Zeit hinweg über die unfreie Gegenwart in eine erfülltere Zukunft hinüber. Reiner Mundraub, klar. Gab mir diese dialektische Konstruktion doch die Gelegenheit, den von den Johannes-R.-Becher-Freunden als rückwärtsgewandt eingestuften Herzensdichter Eichendorff für den Ostblock zu retten.

    Zehn Jahre danach ein Brief. Saß gerade mit einem Freund unter meinem obligatorischen Kleinzschachwitzer Apfelbaum. Sofort zu sehn, dass der Brief aus dem Westen kam. Das vornehm weiße Papier, die wie gestochene Schrift. Auf dem Kuvert ein siegelartiges Signet: das Wappen der Universität Amsterdam. Ein gewisser Alexander von Bormann behauptete, meinen Gedichtband gelesen zu haben. Und das, obwohl der Band eben erst erschienen war. Das waren Geschwindigkeiten ... Westgeschwindigkeiten.

    "Jetzt wirst Du berühmt", sprach mein Freund und trank mein Bier gleich mit. Wer derart edle Post aus dem Westen bekam, war für Ostbiere ohnehin verloren.

    Nun, mit der Berühmtheit war das so eine Sache. Wer mit Gedichten berühmt wird, hat auch etwas falsch gemacht. Doch innerhalb von drei Jahren – eine für Ostblockverhältnisse atemberaubende Geschwindigkeit – war ich in Amsterdam.

    Die unten im Wasser zitternden Lichter; das auf den Grachten schwebende Laub; die über die Brücken hinwegfliegenden, ewig jungen Fahrradfahrer – noch heute scheint mir Amsterdam die Hauptstadt eines erfüllteren Lebens zu sein. Tage-, ja wochenlang bin ich damals mit offnem Mund einhergegangen. Am Spui Alexander von Bormann, ein schmaler, weißhaariger, agiler und gleichwohl vornehmer Mann, dessen Augen gelegentlich sprechend funkeln konnten. Unglaublich freundlich, entsetzlich klug. – Das also war ein Westprofessor. Leidse- oder Rembrandtplein, immer gingen wir ausländisch essen, jeder Bissen, jeder Schluck vollkommen neu für mich. Neu auch, was er mir über mich mitteilte: Dass ich ein, freilich allzu stark jambender, Widergänger der Romantiker sei; teils sogar der listigen, ja subversiven Lyrik zuzuordnen ... und ich hielt mich immer für brav. Aber auch dafür gibt es Professoren: Dass sie dir sagen, was du gemeint hast. Ja, das ist ernst gemeint: Wehe dem Dichter, der mehr weiß als sein Gedicht. Wehe dem Gedicht, dass weniger weiß als sein Dichter.

    Kurzum: Hatte bald ein heimliches Sohnesgefühl. Glaubte zumindest, für ihn der einzige lebende Lyriker auf dieser Welt zu sein. Erst nach und nach bemerkte ich, dass er auch noch andere hatte, ziemlich viele sogar. Und dass er sich über die Jahre hinweg unmöglich mit meinen sieben Gedichten begnügen konnte. – War er doch das, was Goethe in Bezug auf Körner ein "Genie des Lesens" nannte – eine der rarsten Geniesorten überhaupt. Stets war er zu Ratschlägen bereit; ein guter Geist, ja Freund der Dichter. – Wann konnte man das schon von einem Professor sagen? Und was machen eigentlich alle die anderen Universitätskoryphäen? Könnte, ja müsste man nicht voneinander lernen?

    Von Alexander von Bormann zu lernen, war Theorie und Praxis der Form als Übersetzung von Wirklichkeit. Gefühl für Stilhöhen, Tonlagen. Und wenn er dem hohen Ton eher misstraute und dem Wahrlich-ich-sage-Euch-Ton sowieso, so wusste er doch, dass Gedichte noch immer die alten Ansprüche mit sich schleppen; trotz Aussichtslosigkeit auf Erfülltheit aus sind; nicht nur sagen, was ist, sondern auch suchen, was sei.

    Dabei beharrte er durchaus auf Modernität. Die Bin-ich-auch-erfolgreich-Lyriker mit dem Kabarettleierkasten mochte er eher nicht. "Gedichte für Leute, die keine Gedichte lesen", habe ich ihn einmal sagen gehört. Dies auch, weil er Überblick hatte. Die formale Replik durchschaute – im Durchblick das im Gedicht schon Geleistete. Als ich ihm vor einiger Zeit ein Gedicht von Schiller zeigte, das, so meine Behauptung, nicht einmal Schiller kannte, geschweige denn die Kenner in Marbach, sah er nur kurz hin: "Ach das".

    Freilich, als Überblicksmensch hat er sich auf vielen Feldern bewegt, womöglich auf gar zu vielen. Und manchmal habe ich mich – die Eifersucht des Lyrikers, der leider nicht sein einziger war? – schon gefragt, was sein Eigentliches, Innerstes sei. Eichendorff, gewiss. Aber innere Vornehmheit verbot Alexander von Bormann wohl, Gefühle allzu publik zu machen. Einmal habe ich ihn freilich denn doch bei Rührung, ja Herzensbewegung ertappt. Im Deutschlandfunk; einem der wenigen, überhaupt noch anhörbaren Sender, in dem erstaunlicherweise bis heute regelmäßig Gedichte besprochen werden.
    Es ging um den mährischen Dichter Jan Skacel und dessen "Danksagung", ein Apfelgedicht. Auf ein Ende zugesprochen, ist es auch verstehbar als Jenseitsgedicht: Erst dann hat sich unser Dasein erfüllt, wenn wir Undankbaren endlich dankbar sind. – "Wir werden danke sagen wie die Kinder für den Apfel / für das was war und wieder sein wird wie einst / dafür dass dem Tag die Nacht getreulich folgte / und für den eigenmächtigen Morgen / ... Wir werden danke sagen wie die Kinder für den Apfel / dafür dass die Zukunft längst hinter uns liegt ... "

    Hingegen fragt jenes Schillergedicht, das nicht umsonst "Würden" heißt, mehr in die andere Richtung: Danach, was im Diesseits vom Menschen bleibt. Glanz auf dem Wasser, sagt Schiller, und er spricht von der "Säule des Lichts". – Das lässt auch an die im Wasser verzitternden Lichter von Amsterdam denken.