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Die unvollendete Revolution

Es ist ein historischer Einschnitt: Mehr als 50 Millionen Ägypter bestimmen am Wochenende erstmals in freien Wahlen ihr Staatsoberhaupt. Kandidat Ahmed Schafik bleibt höchst umstritten. Nun sprach das oberste Gericht ein Machtwort und bestätigte die Kandidatur des Ex-Militärs. Auf der Straße formiert sich neuer Protest: Die Angst vor einem "demokratisch" legitimierten Militärputsch geht um.

Von Susanne El Khafif | 15.06.2012
    Ägyptische und auch große arabische Fernsehkanäle kennen derzeit neben Syrien vor allem ein Thema: die von heftigen Protesten und Unruhen begleitete Wahl des neuen ägyptischen Staatspräsidenten. Bis zuletzt war offen gewesen, ob der Urnengang überhaupt stattfinden würde. Streitfall war die Zulassung eines der beiden Kandidaten. Gestern dann sprach das Verfassungsgericht sein Urteil, erklärte Wahl wie Kandidaten für rechtmäßig. Mehr als 50 Millionen Wahlberechtigte sollen sich nun erstmals in der Geschichte des Landes in freien und demokratischen Wahlen für ein Staatsoberhaupt entscheiden. Es ist eine Wahl in zwei Wahlgängen: Die morgen beginnende Stichwahl soll die Entscheidung bringen.

    Eine wahrhaft historische Zäsur – in doppelter Hinsicht: Denn mit dem Amtsantritt des neuen Mannes soll eigentlich auch die Macht, die heute in Händen des Obersten Militärrates liegt, an ein ziviles Staatsoberhaupt übergehen. Nach Jahrzehnten, in denen ein hochrangiger Soldat das Land beherrschte, soll mit dieser Vergangenheit gebrochen und eine neue Ära eingeleitet werden.

    Die Bürde, die der neue Mann an der Spitze zu tragen hat, wiegt schwer: Er muss ein Land aufbauen, in dem so gut wie alles im Argen liegt. Müll und Abfall allerorten sind da nur äußere Zeichen eines Niedergangs, den der alte Machtapparat zu verantworten hat. Ein Land mit immensen Potenzialen, dem es eigentlich an nichts mangelt, liegt brach: Die Wirtschaft befindet sich in rasanter Talfahrt; dem gerade erst gewählten Parlament steht - ebenfalls per gestrigem Gerichtsurteil - die Auflösung bevor; die neue Verfassung, die die Befugnisse von Präsident, Militär und Volksvertretung festschreiben soll, liegt noch immer nicht auf dem Tisch.

    Die Menschen aber drängen, sie haben lange gewartet und sich mit dem Nötigsten beschieden. Jetzt wollen sie Arbeit. Sie wollen staatliche Schulen, in denen ihre Kinder etwas lernen können. Und sie wünschen sich eine Polizei, die sie schützt und nicht mit Füßen tritt. Sie wollen "Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit" – eben das, wofür Millionen und Abermillionen im Januar 2011 auf die Straße gingen. Als Ex-Diktator Husni Mubarak dem Druck der Straße am Ende weichen und zurücktreten musste, waren Jubel und Begeisterung groß. Und die Hoffnung auf einen Neuanfang.

    Doch seit dem Volksaufstand im vergangenen Jahr herrschen Aufruhr und Instabilität. Die Enttäuschung über den ausbleibenden Wandel, die Wut über die vom herrschenden Militärrat unterdrückte Revolution, deren positive Kraft sich nicht entfalten kann – all das führt zu heftigem Aufbegehren, mündet in Streiks, Großdemonstrationen und Straßenschlachten - und einen weiteren Niedergang der Wirtschaft. Besonders spürbar wird das im Tourismussektor, wo bedingt durch die neue Instabilität die Besucher ausbleiben und damit die ausländischen Devisen.

    Die Regierung, die vom Militärrat eingesetzt wurde, zeigt sich unfähig, nein unwillig, das Land zu führen. Sie ist nicht in der Lage, den Straßenverkehr zu regulieren, in dem es immer häufiger zu schweren Unfällen kommt; sie schafft es nicht, die Alltagskriminalität einzudämmen und die Versorgung mit Gas, Diesel und Benzin sicherzustellen – und gießt damit Öl ins Feuer der Erzürnten. Ein Präsident, ein neuer und ziviler Präsident muss endlich her! Er soll es richten!

    Ende Mai gibt der Vorsitzende der Wahlkommission die Namen der beiden Kandidaten bekannt, die in die Stichwahl gehen. Sie haben die meisten Stimmen auf sich vereinen können. Die Kandidaten heißen Muhammad Mursy und Ahmad Schafik. Der eine ist Muslimbruder, der andere ein Ex-Militär, ein "fulloul", ein Mann der alten Garde – wie es in der ägyptischen Öffentlichkeit heißt. Seine Kandidatur ist es auch, die bis heute umstritten ist. Das Verfassungsgericht sprach gestern sein Machtwort. In weiten Teilen der Gesellschaft herrscht Fassungslosigkeit:

    Hassan Nafaa ist Professor an der Kairoer Universität – ein namhafter Politologe. Er tritt in den Medien auf, war in verschiedenen Gremien tätig, die den Wandel initiieren sollten, und er engagiert sich bis heute dafür, die Kräfte der Opposition zusammenzuführen. Ahmad Schafik und Muhammad Mursy - für ihn stellt die Stichwahl zwischen diesen beiden Kandidaten das schlimmste Szenario dar, das hätte eintreten können.

    "Für das ägyptische Volk heißt das: Die Menschen können sich für einen Mann entscheiden, der das alte System wieder aufleben lässt. Schafik war und ist ein enger Freund von Husni Mubarak, er gehört zum Militär. Also Schafik ist die Inkarnation der Militärregierung. Und das wäre eine wirklich sehr schlechte Wahl. Ich denke nicht, dass das Volk für die Revolution gekämpft hat, um am Ende bei einem zweiten Mubarak zu enden."

    Oder aber, so Nafaa, das Volk würde sich für Muhammad Mursy entscheiden. Und auch das sei eine schlechte Wahl:

    "Mursy ist der Kandidat der Muslimbrüder. Die Muslimbrüder sind eine Organisation, die über lange Zeit im Geheimen gearbeitet hat. Sie sind noch nicht soweit, das Land in einer Übergangsphase zu führen, in der die Ägypter ein wirklich demokratisches System etablieren müssen."

    Muhammad Mursy und Ahmad Schafik sind beides Repräsentanten einer politischen Ordnung, die es bereits unter dem alten Machthaber Mubarak gegeben hat. Für viele im Land, die sich für einen Bruch mit der Vergangenheit einsetzen, ist das Ergebnis niederschmetternd. Sie fragen sich, wie es nach dem Volksaufstand im vergangenen Jahr dazu hat kommen können.

    Die politischen Kräfte, die sich für einen Neuanfang engagieren, hätten sich verzettelt, betont Hassan Nafaa. Sie haben sich nicht auf einen Kandidaten geeinigt, sondern mehrere Kandidaten ins Rennen geschickt. Mit der Folge, dass sie damit viele ihrer Sympathisanten verprellten, die Stimmen derer aber, die für sie stimmten, für die Stichwahl verloren gingen. Die neuen, oppositionellen Kräfte im Land müssten lernen, sich richtig zu organisieren. Ihr Versagen habe Mursy und Schafik in die Hände gespielt. Sie hätten jeweils 5 Millionen Stimmen auf sich vereinigen können. Fünf von fünfzig Millionen also, Minderheiten, so der Politologe, hätten damit den Ausschlag gegeben.

    "Es ist ein Dilemma, eine Tragödie. Denn das Ergebnis spiegelt in keiner Weise den Willen der Mehrheit im Land. Diese Mehrheit hat sich weder für Schafik noch für Mursy entschieden. Doch jetzt weiß sie nicht, was sie tun und wen sie wählen soll. Die Mehrheit weiß noch nicht einmal, ob es sich lohnt, zu den Wahlurnen zu gehen."

    Dabei hatten die Präsidentschaftswahlen Wochen zuvor einen hoffnungsvollen Anfang genommen. Auf vielen Veranstaltungen herrschte Volksfeststimmung, es wurden Lieder gespielt, die für die Kandidaten geschrieben wurden; Tausende engagierten sich ehrenamtlich für ihre Kandidaten, voll Idealismus und im Bewusstsein, sich an diesen historischen Wahlen über den Urnengang hinaus beteiligen zu wollen.

    Die Kandidaten ihrerseits tourten landauf, landab, scheuten weder Hitze noch Staub noch Fliegen, um für sich und ihr Programm zu werben: Dreizehn Kandidaten, dreizehn Individualisten. Sie vertraten die ganze Palette der politischen Strömungen im Land, von links nach rechts, ein Nasserist, ein Sozialist, Sozialdemokraten und Liberale, moderat Religiöse wie radikale Islamisten.

    Das Wahlvolk machte aus seinen Einstellungen gegenüber den Kandidaten kein Hehl: Dem "fulloul" Ahmad Schafik wurden Schuhe als Zeichen der Missachtung entgegengestreckt. Woraufhin dieser sich während des Wahlkampfs rar machte, dafür aber überall von Plakaten herabblickte, bewusst in Zivil gekleidet, auf der Nase eine schlichte randlose Brille. Andere wurden verhalten begrüßt, wie Amr Moussa, der einst Außenminister, dann Generalsekretär der Arabischen Liga war. Auch er galt als Mann der alten Ordnung, doch zugleich war er für viele ein Kompromisskandidat, der durch sein Wirtschafts- und soziales Aufbauprogramm überzeugte. Und dann gab es andere, denen Wellen der Sympathie entgegenschlugen. So Aboul Futouh. Er wurde zum Hoffnungsträger vieler junger Aktivisten.

    Aboul Futouh war einst führendes Mitglied der Muslimbrüder. Bereits als Student legte er sich öffentlich mit dem früheren Präsidenten Anwar as-Sadat an. In seiner Organisation schwamm er gegen den Strom, galt als moderater Reformer. Als das Volk im vergangenen Jahr auf die Straße ging, war er im Gegensatz zu vielen, die heute im Rampenlicht stehen, mit von der Partie, sein Sohn wurde bei den Ausschreitungen verwundet. Ende 2011 erfolgt sein Ausschluss aus der Organisation. Der Grund: Aboul Futouh will gegen das Veto der Muslimbrüder für die Präsidentschaft kandidieren. Während des Wahlkampfes vermag es Aboul Futouh wie kaum ein anderer, die unterschiedlichsten Strömungen in der Gesellschaft hinter sich zu vereinen, radikale Islamisten und Säkulare, Prediger, Schauspieler und Fußballer, Kopten und Muslime.

    Ein frischer Wind war aufgekommen – erfasste das ganze Land. Auf einmal schien möglich, was keiner vorher zu hoffen gewagt hatte: Der Aufbau des Landes, als ein Projekt, an dem alle mitwirken sollten - jenseits aller Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten. Die Realität aber holte die Menschen ein. Nicht die Kandidaten des Neuanfangs gehen jetzt in die Stichwahl, es sind die Kandidaten der alten Ordnung: der uncharismatische, bieder wirkende Muslimbruder Muhammad Mursy und der Ex-Militär Ahmad Schafik. Die neuen Kräfte haben Fehler gemacht, sie haben sich in der Kürze der Zeit nicht gemeinsam aufgestellt und damit eine Mehrheit, die den Neuanfang will, verloren. Mursy und Schafik dagegen konnten auf alte Strukturen zurückgreifen und ihre Anhänger mobilisieren.

    Hinter den beiden Kandidaten Schafik und Mursy stehen zwei unterschiedliche Koalitionen, die sich seit Jahrzehnten feindlich gesonnen sind. Auf der einen Seite sind dies die Vertreter und Nutznießer des alten Regimes: Armee, Geheimdienst, Polizei und Großunternehmer, sowie die Mitglieder und Sympathisanten der heute verbotenen Partei Mubaraks. Die Allianz ist ein politisches Netzwerk, das über große Finanzen verfügt - und bis heute über eine Machtbasis, die sie auch im letzten Dorf agieren lässt.

    Auf der anderen Seite stehen die Muslimbrüder. Die Organisation lebt seit ihrer Gründung 1929 in Konfrontation mit dem jeweiligen Regime. Nasser, Sadat, Mubarak, sie alle bedienten sich der Organisation, wenn es genehm war. Wurde sie jedoch zur Bedrohung, steckten sie deren Anhänger ins Gefängnis und ließen sie foltern. Bis heute profitieren die Muslimbrüder von ihrem Nimbus als "ewig Verfolgte", ihre breite Akzeptanz in der Gesellschaft fußt auf einem sozialen Netzwerk, das praktische Hilfe bietet.

    Trotz aller Unterschiede, unterstreicht der Politologe Nafaa, hätten Armee und Muslimbrüder vieles gemein. Das Streben nach Macht etwa, die Intransparenz und eine zutiefst undemokratische Tradition. Das mache beide zu einer Gefahr für die gerade erst entstehende Demokratie:

    "Die Armee ist die Armee, eine hierarchische Organisation eben, einer steht oben und kommandiert, die anderen müssen gehorchen. Ob nun die Generäle direkt oder indirekt an der Macht sind, sie wissen immer genau, was sie wollen. Und das Land muss gehorchen. Die Muslimbrüder dagegen sind nicht reif genug. Sie wissen nicht einmal, was Demokratie bedeutet. Sie haben ihre eigene Ideologie, ihr eigenes Rahmenwerk für die Gesellschaft, das sie umsetzen wollen. Und das macht sie womöglich noch gefährlicher, denn sie glauben, dass sie religiös geleitet sind, vom Islam - natürlich so, wie sie ihn verstehen."

    Mit den Kandidaten Mursy und Schafik, die in die Stichwahl gehen, brechen auch die alten Grabenkämpfe wieder auf. Die Zeit, in der das von islamistischen Kräften dominierte Parlament mit dem Militärrat zu verhandeln versuchte, wird ausgeblendet. Bereits kurz nach Verkündung der Namen eröffnet Ahmed Schafik die Schlammschlacht und greift dabei auf alt bekannte Muster und Stereotype zurück:

    Er verkörpere den zivilen Staat, erklärt Schafik, er garantiere Sicherheit, Transparenz, Dialog und die Menschenrechte. Die Muslimbrüder dagegen schürten Unruhe und Zwietracht, sie seien sektiererisch und rückständig. Er führe Ägypten ins Licht, die Islamisten dagegen führten in die Dunkelheit. Ahmad Schafik, der sich noch kürzlich zu Mubarak bekannte und ankündigte, nach seiner Wahl mit eiserner Faust durchgreifen zu wollen, verteufelt seinen Gegner, er schürt Angst und spaltet dabei das Land. Muhammad Mursy widerspricht und wirkt dabei erneut defensiv. Er sei kein Sektierer, sagt er, er wolle der Präsident aller Ägypter sein. In den letzten Tagen vor der Stichwahl bemüht er sich intensiv um den Schulterschluss mit den neuen politischen Kräften. Mit ihnen, sagt er, könne der gemeinsame Aufbau gelingen.

    Unterdessen gehen Ägypter wieder auf die Straße und versammeln sich auf den großen Plätzen der Städte. Sie protestieren gegen den herrschenden Militärrat, gegen das Urteil, das über Ex-Präsident Mubarak und seine Helfershelfer gesprochen wurde, sie wehren sich gegen die neuen Militärdekrete, die Zulassung Schafiks für die Stichwahl und die Auflösung des Parlaments. Sie sprechen von einem nunmehr "demokratisch" legitimierten Militärputsch: Ein neuer Präsident mit Namen Schafik, der die Armee hinter sich wisse, eine neue Verfassung, die noch nicht geschrieben sei und fortan einem präsidialen Diktat unterworfen werden könne, und ein Parlament, das als Gegenspieler nicht mehr existiere – all das öffnete einer neuen Diktatur Tür und Tor. Die Angst geht um, wieder bei Null anfangen zu müssen.

    Der Protest auf den Straßen aber hat mit der Zeit an Stärke eingebüßt, er ist vielfältig geworden, und vielschichtig, manchmal wirkt er gar diffus. Die Menschen wollen ein besseres Leben, und ein besseres Ägypten. Doch sie sind erschöpft – und - Rezepte zur Umgestaltung des Landes gibt es viele.

    Der Politologe Nafaa: "Die Revolution hatte keinen Führer und keinen institutionellen Rahmen. Die Ägypter vereinten sich, um das Regime zu stürzen, aber sie waren sich nicht einig, was folgen sollte. Es handelte sich lediglich um einen Aufstand gegen das alte Regime, und es gab keinen Konsens darüber, wie das neue Regime beschaffen sein sollte."

    Der alte Machtapparat mit dem Militärrat an der Spitze agiert währenddessen mit Methoden und Instrumenten von gestern. Offen und versteckt werden alte Reviere neu abgesteckt. Die Zulassung Schafiks und die Auflösung des von Islamisten dominierten Parlaments dürfte den Militärs – in der Tat – entgegenkommen. Für Hassan Nafaa ist das dennoch kein Grund, in Resignation zu verfallen:

    "Wir stehen erst am Anfang, die Revolution ist noch nicht vollendet. Die Menschen in Ägypten sind zum Glück noch immer wachsam. Sie sind nicht bereit, einfach aufzugeben. Ich denke, die Wahlen werden ein Nachspiel haben."