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Die Unwirtlichkeit unserer Städte

Am 20. September 2008 wäre der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich 100 Jahre alt geworden. Die politische Maxime von Mitscherlich war die Selbsterziehung zur Mündigkeit. Durchaus zu Recht wurde ihm 1969 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen - wegen seines öffentlichen Einsatzes für Mündigkeit, Freiheit und Demokratisierung.

Von Klaus Englert | 17.09.2008
    Alexander Mitscherlich stieg gerade zum angesehenen Kulturkritiker der wohlstandsgesättigten Bundesrepublik auf, als er mit den Verlockungen seiner großbürgerlichen Existenz kämpfte. Das war Mitte der sechziger Jahre, als sich der Gründungsdirektor des Sigmund-Freud-Instituts endlich in Frankfurt niederlassen wollte. Mitscherlich bereitete gerade sein Buch "Die Unwirtlichkeit unserer Städte" vor, mit dem sich der Psychoanalytiker auch bei Architekten und Stadtplanern Respekt verschaffte. Als er sich nun ein Häuschen im Grünen, in sicherer Distanz vom Frankfurter Großstadtgetöse, suchte, kamen ihm plötzlich Selbstzweifel. Offenbar erinnerte er sich daran, dass er seinen Landsleuten mit Sätzen wie diesen ins Gewissen reden wollte:

    Das Einfamilienhaus, ein Vorbote des Unheils, den man immer weiter draußen in der Landschaft antrifft, ist der Inbegriff städtischer Verantwortungslosigkeit und der Manifestation des privaten Eigentums.

    Mitscherlich kritisierte in "Die Unwirtlichkeit der Städte" den "irrationalen und keineswegs rationalen Wunsch nach dem Eigenheim". Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass er selbst diesem Wunsch erlegen war. Die Kehrtwende kam schnell: Alexander und Margarete Mitscherlich zogen nicht ins Grüne, sondern nach Frankfurt-Höchst, in ein 19-stöckiges Hochhaus. Noch heute ist man hier stolz auf den 1982 verstorbenen Mitbewohner. Deswegen wurde der Wohnturm im letzten Jahr "komplettsaniert" und erhielt den Namen "Mitscherlich-Haus".

    Der Frankfurter Psychoanalytiker begab sich in den sechziger Jahren auf ein fachfremdes Gebiet: Er bekämpfte die im Geiste des Funktionalismus errichteten Nachkriegsstädte mit ihren Trabantensiedlungen. Die Auswirkungen der Stadtplanung für eine demokratische Gesellschaft sah er völlig illusionslos:

    Man pferche den Angestellten hinter den uniformierten Glasfassaden dann auch noch in die uniformierte Monotonie der Wohnblocks, und man hat einen Zustand geschaffen, der jede Planung für eine demokratische Freiheit illusorisch macht.

    Alexander Mitscherlich pflegte allerdings keine nostalgische Architekturkritik, die sich an der heimeligen alten Stadt ergötzt. Nein, seine Streitschrift enthielt sich einer Anklage der modernen Architektur wie sie Wolf Jobst Siedler kurz zuvor in "Gemordete Stadt" erhob. Mitscherlich diagnostizierte scharf, wie sich die Verödung der Städte auf den seelischen Haushalt und auf die menschliche Kommunikation auswirkt. Er wollte eine lebenswerte, solidarische Stadt. Bedeutend mehr fühlte sich Mitscherlich inspiriert durch Jane Jacobs' aufrüttelndes Buch "Tod und Leben großer amerikanischer Städte", das die Zerstörung von New Yorks Viertel Greenwich Village durch verantwortungslose Stadtplaner anprangerte. Ebenso wie die kanadische Bürgerrechtlerin wollte der deutsche Psychoanalytiker ein neues Bewusstsein für städtische Missstände fördern. Auf dieser Bewusstseinsbildung bestand Mitscherlich, als er 1965 die Thesen von Die Unwirtlichkeit unserer Städte mit Soziologen, Architekten und Planern diskutierte:

    "Wir ringen um das bessere Bewusstsein für die Sache. Wir müssen sagen, das Berlin der Mietskasernenstädte ist aus einer bestimmten Bewusstseinslage entstanden. Und ich meine, diese bestimmte Bewusstseinslage, durch die Not gefördert, hat uns diese Nachkriegsstätte beschert. Dass wir uns auf den Lorbeeren dieser beiden Epochen ausruhen sollten, scheint mir voreilig."

    Mitscherlichs Buch wurde binnen kurzer Zeit zu einem regelrechten Bestseller. Immer wieder wurde er zu Symposien und Hörfunk-Diskussionen geladen, in denen er seine Forderungen vortrug:

    "Es geht um neue Bewusstseinsbildungen. Nicht dass man aus Ressentiment, aus aufgestauter Notsituation, nämlich der Ausgangslage klassischer Revolutionen sich ändern muss. Wir müssen ja in Wohlstandssituationen revolutionieren. Das ist etwas völlig historisch Neues. Es ist ein unerhört wichtiger Gesichtspunkt, dass wir das Bewusstsein unserer Mitbürger darauf aufmerksam machen müssen, dass sie es sich nicht erlauben können, gleichsam asozial, egoistisch in einem Stil zu wirtschaften, der nicht mehr verantwortbar ist und der von der Voraussicht her zu Katastrophen führt, die wir ununterbrochen miterleben müssen ."

    "Die Unwirtlichkeit der Städte" - Mitscherlichs Titel wurde immer wieder zitiert. Etwa als 1970 Bürgerinitiativen im Frankfurter Westend gegen hartnäckige Immobilienspekulanten demonstrierten. Der Aufklärer Mitscherlich musste mit ansehen, dass sich die von ihm aufgedeckten Missstände zusehends verschlimmerten. Denn als das Buch 1965 herauskam, war die Entwicklung hin zu einer verhängnisvollen, profitorientierten Stadtentwicklung noch kaum absehbar. Das, was er unter "Planen für die Freiheit" verstand, steht dem hemmungslosen Umgang mit Grund und Boden, den Verwertungsstrategien der Spekulanten, völlig entgegen. Überraschend pflichteten damals viele kommunale Baudezernenten und Planer Mitscherlichs Buch bei. Etliche Architekten gingen zudem daran, zukünftige Bewohner an ihren Entwurfsplanungen zu beteiligen. Der Frankfurter Psychoanalytiker galt bald als der gefragteste städtebauliche Berater. Herangezogen wurde er bei den Planungen für die Frankfurter Nordwest-Stadt und München-Perlach. Als 1968 in München das Olympische Dorf entworfen wurde, stieg er zum Sonderberater auf. Im Sigmund-Freud-Institut analysierte man derweil nicht Patienten, sondern Architekturpläne. Mitscherlich stellte damals Forderungen nach vermehrter Bürgerbeteiligung auf, die erst lange nach seinem Tod berücksichtigt wurden:

    "Sind unsere öffentlichen Institutionen wirklich nicht geeignet, sich in einer näheren Berührung mit der Öffentlichkeit zu treffen? Es wäre also denkbar, dass Städteplanungen, in viel größerem Stil als es bisher der Fall gewesen ist, der Öffentlichkeit die Entwürfe zugänglich werden. Und zwar nicht, dass man sie einfach irgendwo ausstellt, sondern dass man sie oktroyiert. Denn die Menschen sind ja nicht gewohnt, gefragt zu werden. In den Zeitungen oder im regionalen Fernsehen müsste man darüber diskutieren. Dann würde ich nämlich glauben, dass eine Menge von Meinungsäußerungen zu Tage kommt. Es würde in der Tat der Bürger an der Gestaltung seiner Stadt mit interessiert werden."

    Alexander Mitscherlich merkte alsbald, dass er lediglich als professoraler Stichwortlieferant in Kulturdebatten missbraucht wurde. Deswegen beendete er 1971 enttäuscht seine Beratertätigkeit für die Kommunen. Sein ernüchternder Kommentar:

    "Da ich sprichwörtlich Professor bin, bedurfte es eines längeren Anlaufes, bis ich begriffen hatte, dass die meisten Einladungen zu Diskussionen, Konferenzen, Studienreisen etc., Alibifunktionen hatten. Ich war für Schachzüge vorgemerkt, deren wahre Motive mir im Dschungel der Bürokratie und des Geschäftslebens verborgen blieben."

    Der Frankfurter Psychoanalytiker blieb bis zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels von 1969 die intellektuelle Leitfigur der jungen Bundesrepublik. Mit seinen Büchern, die vornehmlich in den sechziger Jahren erschienen sind, wollte er die demokratisierende Funktion der Psychoanalyse stärken, da sie - wie er meinte - "immun mache gegen Diktatoren". Mitscherlich verstand seine Disziplin konsequent als Sozialpsychologie, in stark aufklärerischer Tradition. Das Buch "Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens", das er zu Beginn der Studentenunruhen zusammen mit seiner Frau, der Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich publizierte, ist eine Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, der verschwiegenen Sympathien mit Hitler. Die Schrift beeinflusste die Protestgeneration, die sich von ihren Eltern distanzierte, weil sie sich im Wirtschaftwunder-Land einnisteten und dabei ihre NS-Verstrickung vergessen wollten.

    Schließlich zeichnet "Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft" - ein weiterer Bestseller - den Verlust familiärer und gesellschaftlicher Autoritäten nach. Mitscherlich verstand das als "Erlöschen des Vaterbildes" in der modernen Gesellschaft. Die Historiker Tobias Freimüller und Martin Dehli machten allerdings jüngst darauf aufmerksam, dass der Student Alexander Mitscherlich bis 1933 den einstigen Freikorpskämpfer Ernst Jünger als Vaterfigur verehrte und mit Jüngers antidemokratischem und nationalkonservativem Kreis sympathisierte. Wenig später arbeitete Mitscherlich eng mit dem Verleger und Nationalbolschewisten Ernst Niekisch zusammen. Das kurzzeitige Abdriften in die völkischen Zirkel schmälert aber keinesfalls Mitscherlichs Verdienste um eine Demokratisierung nach 1945. In der verkrusteten, experimentierfeindlichen Gesellschaft der sechziger Jahre empfahl sich Alexander Mitscherlich als kritischer Zeitdiagnostiker. Die aufgeschlossene, gebildete Öffentlichkeit war ihm dankbar. Doch die verhärteten Institutionen konnte er zu Lebzeiten kaum bewegen.

    Literatur: Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Suhrkamp (Neuauflage) 2008.

    Martin Dehli, Leben als Konflikt. Zur Biographie Alexander Mitscherlichs, Wallstein 2007.
    Tobias Freimüller, Alexander Mitscherlich. Gesellschaftsdiagnosen und Psychoanalyse nach Hitler, Wallstein 2007.