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Die Unwissenheit

Arthur Miller hat es getan und John Updike, André Malraux und Vladimir Nabokov, Peter Rühmkorf und Martin Walser. Sie haben Erinnerungen geschrieben oder Memoiren, haben sich über ihre Vergangenheit gebeugt und "Ich" gesagt. Von einem großen lebenden Autor wird man dergleichen vergeblich erwarten. Milan Kundera liebt es, hinter seinem Werk - und in ihm - zu verschwinden. Zwar macht er kein Geheimnis aus seinem Werdegang und aus seinem Leben kein Mysterium; er besteht aber darauf, dass alles Wesentliche in seinen Romanen, Erzählungen und Essays zu finden ist und nur dort.

Martin Ebel |
    Dass er in Brünn, in der Landschaft Mähren, geboren und aufgewachsen ist, eine musikalische Ausbildung erhielt (und sogar einiges komponiert hat); dass er später an der Filmhochschule in Prag lehrte und 1967 sein erstes Buch veröffentlichte; dass er nach dem Einmarsch der Russen in die Tschechoslowakei nicht mehr lehren und auch nicht mehr veröffentlichen durfte; dass er 1975 nach Frankreich emigrierte, seit einigen Jahren zum angesehenen "Comité de lecture" des Verlages Gallimard gehört und seine eigenen Bücher inzwischen auf Französisch schreibt: All das ist gut zu wissen, aber nicht wesentlich. Kundera meidet den Medienrummel, der besonders in Paris erfolgreiche Autoren umgibt, verweigert Interviews und würde am liebsten gänzlich inkognito leben.

    In seinem neuen Buch schlägt Milan Kundera nun aber ein Thema an, das zu biographischen Kurzschlüssen geradezu verführt: Es ist das Exil, in dem er seit mehr als einem Vierteljahrhundert lebt und das er auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht beendet hat. Längst, so darf man vermuten, ist die Fremde zur neuen Heimat, ist die aufgezwungene zu einer freiwilligen, einer gewählten Lebensform geworden.

    So empfindet es jedenfalls Irena, eine Heldin in Kunderas neuem Roman "Die Unwissenheit". Vor zwanzig Jahren ist sie mit ihrem Mann von Prag nach Paris emigriert; jetzt, nach der "Samtenen Revolution", könnte sie zurück. Nein, müsste sie zurück: Das suggeriert ihr eine französische Freundin. Von Irenas Beteuerungen, sie fühle sich längst in Frankreich zu Hause, lässt sich diese Freundin nicht beirren:

    Bei euch ist Revolution!" Sie sagte es in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Dann schwieg sie. Mit diesem Schweigen wollte sie Irena sagen, dass man nicht desertieren darf, wenn große Dinge geschehen.

    Große Dinge verlangen nach großen Worten, und so stößt die Französin immer wieder - und mit Tränen der Rührung in den Augen - die Formulierung "deine große Rückkehr" aus:

    Durch die Wiederholung bekamen die Wörter eine solche Kraft, dass Irena sie in ihrem Innersten groß geschrieben vor sich sah: Große Rückkehr. Sie begehrte nicht mehr auf: Sie wurde von Bildern in Bann geschlagen, die plötzlich aus früher Gelesenem, aus Filmen, aus ihrer eigenen Erinnerung und vielleicht auch aus der ihrer Ahnen aufstiegen: der verlorene Sohn, der zu seiner alten Mutter zurückfindet; der Mann, der zu seiner Geliebten zurückkehrt, von der das grausame Schicksal ihn einst fortgerissen hat; das Geburtshaus, das jeder in sich trägt; der wiederentdeckte Pfad, in den die verlorenen Schritte der Kindheit eingeprägt geblieben sind; Odysseus, der nach jahrelangen Irrfahrten seine Insel wiedersieht; die Rückkehr, die Rückkehr, der große Zauber der Rückkehr.

    In diesem ersten Kapitel schlägt Kundera gleich mehrere Themen seines neuen Romans an wie Töne, deren Schwingungen sich in den folgenden Kapiteln ausbreiten werden. Eines davon ist das Exil und sein mögliches Ende. Dieses Thema wird, und das merkt der Leser sofort, anders behandelt, als es landläufigen Erwartungen entspricht. Kundera beklagt nicht das harte Los der Emigranten, dieser armen Hunde, die fern von der Heimat, von Freunden und Familie, fern auch der vertrauten Sprache, sich mühsam durchschlagen müssen, von einem ungastlichen Gastland unfreundlich beäugt und beargwöhnt. Irena hat es nicht leicht gehabt, aber sie hat ihren Platz gefunden; sie ist zufrieden, ja - so weit man das von Menschen, diesen heiklen Gemütswesen, überhaupt sagen kann - sie ist glücklich. Kundera geht es nicht um die soziale oder psychologische Realität des Exils, sondern um Bilder und Vorstellungen, die man den Emigranten überstülpt, bis sie selbst nicht mehr zu sehen sind; um Verhaltensweisen, die man ihnen vorschreiben will, damit sie ihrer Rolle entsprechen. Und - im Falle Irenas jedenfalls einige Zeit lang - mit Erfolg:

    Sie hatte es immer als eine Gewissheit betrachtet, dass ihre Emigration ein Unglück war. Aber, fragte sie sich in diesem Augenblick, war es nicht vielmehr eine Illusion von Unglück, eine Illusion, suggeriert von der Art und Weise, wie alle Welt einen Emigranten wahrnimmt? Las sie ihr eigenes Leben nicht nach einer Gebrauchsanweisung, die die anderen ihr in die Hand geschoben hatten? Und sie sagte sich, dass ihre Emigration, obwohl von außen, gegen ihren Willen aufgezwungen, vielleicht, ohne ihr Wissen, der beste Ausgang für ihre Leben war. Die unerbittlichen Kräfte der Geschichte, die ihre Freiheit beeinträchtig hatten, hatten sie frei gemacht.

    Sylvie fährt also nach Prag, wo ihr Lebensgefährte Gustaf, ein schwedischer Geschäftsmann, bereits eine Niederlassung eröffnet hat. Sie geht durch die Straßen, sucht in alten Adressbüchern die Namen der Freundinnen von früher und lädt sie alle in ein Restaurant ein. Ein Fest des Wiedersehens soll es werden und wird: ein Fiasko. Erst verschmähen die Prager Freundinnen den aufgetischten edlen Bordeaux und schütten statt dessen Bier in sich hinein. Dann, und viel schlimmer, verschmähen sie Irenas jüngere Vergangenheit, immerhin zwanzig Jahre, und stürzen sich auf die davorliegenden Jahre, sozusagen auf die vorvergangene, plusquamperfektische Irena. Niemand will wissen, wie sie in Paris lebt, alle löchern sie nur mit Fragen nach dem Damals:

    Zuerst haben sie sie durch ihr völliges Desinteresse an dem, was sie im Ausland erlebt hat, um zwanzig Lebensjahre amputiert. Jetzt versuchen sie mit diesem Verhör, ihre frühere Vergangenheit und ihr gegenwärtiges Leben aneinanderzunähen. So als amputierten sie ihren Unterarm und befestigten die Hand direkt am Ellbogen; so als amputierten sie ihre Waden und fügten die Füße an die Knie.

    Ein drastisches Bild für etwas, was Irena als biographische Verstümmelung empfindet. Das ist es, was das Exil ihr angetan hat: Ihre neuen französischen Freundinnen verlieren das Interesse an ihr, wenn sie dem Etikett der armen, ihrer Heimat nachtrauernden Emigrantin nicht mehr entspricht; ihre alten tschechischen Freundinnen wiederum wollen von ihrem neuen Leben - und damit von der Person, die sie geworden ist - nichts wissen. Für die einen muss sie die Exotin, die Fremde mit dem bedauernswerten Schicksal sein, für die anderen muss sie sein wie sie. Beide wollen nicht wissen, wer sie wirklich ist, sie, Irena. Wer kann sie verstehen? Vielleicht nur Josef, eine Zufallsbegegnung aus dem Flugzeug; wie sie einst emigriert und nun auf Besuch in der alten Heimat. Als Irena Josef in Prag wiedertrifft und ihm von ihren enttäuschenden Erlebnissen erzählt, hat er eine einfache Erklärung bereit:

    Die Menschen interessieren sich nicht füreinander, das ist alles.

    Ist das Exil also eine spezielle Situation, die eine allgemeine Wahrheit an den Tag bringt? So einfach ist es auch wieder nicht. In Milan Kunderas Romanen gibt es keine absolute Wahrheit, nur die Wahrheit der handelnden Personen. Nichts gibt es, was aus diesem Romanuniversum exportierbar wäre, sich zu allgemeingültigen Weisheiten über das Leben, die Menschen, Gott und die Welt ummünzen ließe. Wohl hat Kundera den Roman als ein Mittel zum Gewinn von Erkenntnissen bezeichnet; aus seiner Feder (wahrscheinlicher wohl: aus seinem Computer) stammen auch zwei kluge Essaybände über den Roman. Aber diese Erkenntnismaschine produziert keine philosophischen Leitsätze, sondern allein Erfahrungen, und zwar nur solche, die die Romanfiguren machen. Schon deshalb verbieten sich Übertragungen und Verallgemeinerungen. Kunderas neuer Roman "Die Unwissenheit" lehrt weder, was Exil eigentlich ist, noch verrät er, wie der Autor selbst sein Exil erlebt hat:

    Die Menschen interessieren sich nicht füreinander, das ist alles.

    Ist das wirklich alles? und ist es überhaupt so? Es ist jedenfalls die Erfahrung Josefs, der zweiten Hauptfigur in diesem Roman, und die Konsequenz, die er aus diesen Erfahrungen zieht. Er war damals ins Exil gegangen, weil er es nicht ertragen konnte, es durch die sowjetischen Besatzer gedemütigt zu sehen, seine Bewohner zur Anpassung, zur Feigheit und Schlimmerem gezwungen. Auslöser war damals ein Besuch in der Hauptstadt gewesen:

    In der Stadt angekommen, war er langsamer gefahren; er war neugierig, wie viele Fenster mit roten Fahnen geschmückt sein würden, die in diesem Jahr der Niederlage nichts als Signale der Unterwerfung waren. Es waren mehr, als er erwartete: Vielleicht handelten die, die sie hissten, gegen ihre Überzeugung,, aus Vorsicht, mit einer unbestimmten Angst, jedenfalls handelten sie freiwillig; denn niemand zwang sie, niemand drohte ihnen. Er hatte vor seinem Geburtshaus angehalten. Im zweiten Stock, wo sein Bruder wohnte, leuchtete eine große, grauenhaft rote Fahne. Eine ganze Minute lang hatte er sie, ohne auszusteigen, betrachtet; dann war er wieder abgefahren. Auf dem Rückweg hatte er beschlossen, das Land zu verlassen. Nicht, dass er nicht dort hätte leben können. Er hätte dort in aller Ruhe Kühe verarzten können. Aber er war allein, geschieden, kinderlos, frei. Er hatte sich gesagt, dass er nur ein Leben hatte und dass er es anderswo leben wollte.

    Diesen Bruder, der damals die rote Fahne gehisst hatte, besucht Josef jetzt. Er muss feststellen, dass der das Geburtshaus, das 1948 enteignet worden war, nach der politischen Wende in Besitz genommen hat, ohne mit Josef Kontakt aufzunehmen; dass seine persönlichen Sachen vereinnahmt, zum Teil verschleudert wurden, als wäre er ein Toter. Natürlich hatten Josefs Angehörige unter seiner Emigration zu leiden, hatte niemand damit rechnen können, dass er einmal zurückkehren würde: Nie würde die Sowjetunion vergehen, nie der Eiserne Vorhang fallen. Aber nach der Wende? Josef begreift, dass die Familie ihn aus ihrem Bewusstsein verdrängt hat. Er besucht einen früheren Funktionär, der ihn einmal beschützt hat, und will mit ihm über die neuen Verhältnisse und die alten Zeiten reden: Der will nichts mehr davon wissen. Was war, ist vorbei, nur was jetzt ist, zählt. Und eine dritte Erfahrung macht Josef bei diesem Besuch in Heimat und Vergangenheit. Ihm fällt ein Tagebuch in die Hand, das er als Gymnasiast geführt und in das er die ersten Erlebnisse mit Mädchen eingetragen hat. Akribisch genau hat er ambivalente Regungen und fragwürdige Verhaltensweisen notiert:

    Um Mitgefühl zu empfinden, tat er alles, um seine Freundin leiden zu sehen; er quälte sie: "Ich habe in ihr Zweifel an meiner Liebe geweckt. Sie ist in meine Arme gesunken, ich habe sie getröstet, ich habe mich in ihrer Traurigkeit gebadet, und einen Augenblick lang habe ich ein kleines Feuer der Erregung in mir aufflackern spüren." Josef versucht, den unerfahrenen Jüngling zu verstehen, sich in seine Haut zu versetzen, aber er ist unfähig dazu. Diese mit Sadismus vermischte Gefühlsduselei, das alles ist seinen Neigungen und seiner Natur völlig zuwider. Er reißt ein leeres Blatt aus dem Tagebuch, nimmt einen Stift und schreibt den Satz ab: "Ich habe mich in ihrer Traurigkeit gebadet". Er betrachtet lange die zwei Handschriften: Die alte ist etwas ungeschickt, aber die Buchstaben haben dieselbe Form wie die jetzigen. Diese Ähnlichkeit ist ihm unangenehm, sie reizt ihn, sie schockiert ihn. Wie können zwei so fremde, so gegensätzliche Menschen dieselbe Schrift haben? Worin besteht diese gemeinsame Essenz, die aus ihm und diesem Rotzjungen eine einzige Person macht?

    Es ist nicht die einzige Frage, die unbeantwortet bleibt in diesem Roman, der passenderweise "Die Unwissenheit" heißt , der aber auch so heißen könnte wie der vorangehende von Milan Kundera: "Die Identität". Zur räumlichen Entfremdung gesellt sich hier eine zweite: die Entfremdung auf der Zeitachse, ein Sich-selbst-Fremdwerden, das an die vielen aufeinanderfolgenden Ichs in Marcel Prousts großem Romanwerk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" erinnert. Was behält man von diesen früheren Ichs? Was bleibt von einem selbst in den Augen der anderen? Was leistet das Gedächtnis, wo ist das Vergessen grausam, wo gnädig? All diese Fragen berührt Kundera, betrachtet sie, vertieft sie, lotet sie aus, ohne je auf Grund zu stoßen:

    Wenn zwei Menschen in derselben Wohnung leben, sich jeden Tag sehen und sich obendrein lieben, werden ihre Gedächtnisse durch ihre täglichen Gespräche aufeinander abgestimmt: in stillschweigendem, unbewusstem Einverständnis lassen sie weite Bereiche ihres Lebens dem Vergessen anheimfallen und sprechen wieder und wieder von den wenigen gleichen Ereignissen, die sie zu ein und derselben Erzählung verweben, welche gleich einer Brise im Geäst über ihren Köpfen säuselt und sie unentwegt daran erinnert, dass sie zusammengelebt haben.

    Stirbt nun einer der beiden, wird diese Brise schwächer und schwächer. Verzweifelt versucht der Überlebende, sie zu verstärken. So auch Josef, als er seine Frau verloren hat. Er bemüht sich, ihrem Bild in seiner Erinnerung Leben einzuhauchen . . .

    . . . aber die Dürftigkeit des Ergebnissen betrübte ihn. Sie hatte ein Dutzend verschiedene Arten zu lächeln. Er zwang seine Vorstellungskraft, sie nachzuzeichnen. Er scheiterte. Sie hatte eine Begabung für witzige, schlagfertige Antworten, die ihn bezauberten. Er war außerstande, sich an eine einzige zu erinnern. Eines Tages fragte er sich: Wenn er dieses wenigen Erinnerungen an ihr gemeinsames Leben addierte, wieviel Zeit würde das ergeben? Eine Minute? Zwei Minuten?

    Nicht mehr als ein Millionstel bliebe dann von einem Menschen übrig - und das bei dem anderen Menschen, der ihm am nächsten stand. Eine niederschmetternde Vorstellung. Ähnlich sieht es mit der Zukunft aus, über die wir, so Kundera einmal apodiktisch, uns immer irren. Der schlagendste Beweis dafür ist natürlich die Endlichkeit der Ostblockregimes, mit der niemand, hüben wie drüben, gerechnet hat. Von "dreihundert Jahren Traurigkeit" hat der tschechische Dichter Jan Skacel geschrieben, als der Prager Frühling von sowjetischen Panzern niedergewalzt wurde, und auf diese dreihundert Jahre haben sich die Tschechen und Slowaken eingestellt:

    Nicht das Leid ihres realen Lebens, sondern die Leere der Zukunft hat ihre Kräfte erschöpft, ihren Mut erstickt und diese Zeit so feige, so erbärmlich gemacht.

    Umgekehrt dachten die Tschechen 1918, ihre neue Republik werde ewig dauern:

    Sie irrten sich, aber gerade weil sie sich irrten, haben sie diese Jahre in einer Freude verlebt, die ihre Künste zum Erblühen brachte wie nie zuvor.

    Was wir über die Zukunft denken, hat zwar für diese nichts zu bedeuten, wohl aber etwas dafür, wie wir die Gegenwart leben. Die Täuschungen, denen wir uns dabei hingeben, mögen uns tragisch erscheinen; aus der Distanz, beim Blick zurück oder von der höheren Warte des Romanciers (und des Lesers), entbehren sie nicht der Komik. Milan Kundera macht dies am Beispiel des Komponisten Arnold Schönberg deutlich. Der Erfinder der Zwölftonmusik war durchdrungen von der Überzeugung, seine Methode werde die Musikgeschichte für die nächsten hundert Jahre dominieren. Er irrte gleich mehrfach. Zum einen biographisch: 15 Jahre nach seiner Prophezeiung, schreibt Kundera, wurde Schönberg als Jude aus Deutschland vertrieben und mit ihm die Zwölftonmusik. Zum zweiten historisch-ästhetisch: Von "Vorherrschaft" der Schönberg-Schule kann man heute durchaus nicht sprechen, eher von einer interessanten Episode, die vorbei ist, oder einer Strömung, neben der es andere, stärkere gibt, die heute den Ton angebe.