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"Die Vegetarierin" von Han Kang
Fleischverzicht als Revolte

Han Kangs neuer Roman ist kein Plädoyer für den Vegetarismus. In ihrem Buch steht Ernährungsumstellung für den Ausbruch aus gesellschaftlichen Strukturen. Trotz seiner simplen Machart mangelt es dem Roman nicht an Tiefe. Dieses Jahr erhielt Han Kang für "Die Vegetarierin" den britischen Man Booker Preis. Zurecht.

Von Thilo Körting | 16.09.2016
    Han Kang aus Südkorea gewann mit ihrem Buch "Vegetarierin" den Man Booker International Price.
    Han Kang aus Südkorea gewann 2016 mit ihrem Buch "Vegetarierin" den Man Booker International Price. (picture alliance/ dpa/ Hannah McKay)
    Yong-Hye hat es nicht mehr ausgehalten, dieses seltsame Gefühl irgendwo zwischen ihrer Lunge und ihrem Darm. Fast traumwandlerisch lenkt sie ihre Schritte in die Küche. Sie öffnet den Kühlschrank, den Tiefkühlschrank – alles voller Fleisch: Rind, Huhn, Tintenfisch. Sie nimmt alles raus, wirft es auf den Boden und schmeißt es Stück für Stück in den Müll. Sie will kein Fleisch mehr zu essen. Dabei geht es um mehr als Geschmack oder Mitgefühl. Es ist ein Kampf gegen Normen der südkoreanischen Gesellschaft, von dem Han Kang in ihrem Roman "Die Vegetarierin" erzählt. Yong-Hyes Mann kommt in die Küche - ein seltsam, fast schon abstoßend durchschnittlicher Typ. Voller Zorn sieht er ihr Treiben und schreit sie an. Doch auf seine Frage, was das soll, antwortet sie nur: Sie habe einen Traum gehabt.
    "Wie lebendig mir das Gefühl vorkam, rohes Fleisch zwischen den Zähnen zu haben und zu kauen. Mein Gesicht, das Leuchten in meinen Augen. Ein Gesicht, wie ich es zuvor noch nie gesehen hatte, und zugleich aber meines, ohne Zweifel. Nein, im Gegenteil: Eine Fratze, wie ich sie schon unzählige Male gesehen habe, die mir aber gänzlich unähnlich ist. Ich kann es dir nicht erklären. Diese lebhafte Erinnerung ist bizarr, furchtbar bizarr, gleichzeitig vertraut und doch neu."
    Wunsch nach Ausbruch aus der Gesellschaft
    Es ist eine seltsame Geschichte, die die Koreanerin Han Kang in ihrem Roman "Die Vegetarierin" erzählt. Über Nacht hört die Protagonistin Yong-Hye auf Fleisch zu essen. Sie erklärt sich nicht, sie tut es einfach, wie aus einem Zwang heraus. Einem Zwang, der größer ist als der Zwang der Gesellschaft, die Vegetarier als Spinner wahrnimmt. Der Verzicht bedeutet für Yong-Hye nicht nur eine Absage, an die fleischhaltige koreanische Esskultur. Es ist der Anfang eines kompletten Rückzugs. Sie entfernt sich von ihrem Mann – er rieche nach Fleisch, aus jeder Pore. Sie nimmt dramatisch ab, geht nicht mehr nach draußen, hört irgendwann ganz auf zu essen. Sie will nicht mehr länger ein Teil der Gesellschaft sein.
    "Ihre Schwester kam mit ihrem fleischlosen Gesicht näher an sie heran. Ich bin kein Tier mehr, große Schwester, flüsterte sie, als sei dies ein wichtiges Geheimnis. Ich brauche keine Nahrung. Ich kann ohne leben. Ich brauche nur Sonne.Was erzählst du denn da? Du glaubst wirklich, du seist ein Baum? Wie kann aber ein Baum sprechen? Wie kann ein Baum denken? In-Hye sah ein kurzes Aufblitzen in Yong-Hyes Augen, gefolgt von einem geheimnisvollen Lächeln. Du hast recht. Bald werden das Sprechen und das Denken verschwunden sein. Es wird nicht mehr lange dauern."
    Fast schon kafkaesk
    Der Verlag kündigt die Geschichte als kafkaesk an und tatsächlich gibt es viele Momente, die an die surrealen Geschichten Franz Kafkas erinnern. Diese Verwandlung über Nacht, dieses Gefühl der Protagonistin nicht in diese Gesellschaft zu passen, ihre Regeln nicht zu befolgen. Sogar ein überpräsenter Vater kommt zum Vorschein.
    "Wer verzichtet denn heutzutage auf Fleisch? Sein Sohn stand sichtbar unwillig auf. Also los, Schwester! Das ist doch nicht schwer. Du sagst einfach ja, versuchst, etwas zu essen, und hörst auf, unseren Vater zu reizen. Musst du dich ihm gegenüber so verhalten?"
    Kein Plädoyer für Vegetarismus
    Dennoch funktioniert die Geschichte von Han Kang ganz anders. Denn es ist die Welt, die wir kennen, keine surreale Version davon. Der Lebenswandel der Figur ist nicht der Ausdruck einer Entfremdung, sondern deren Versuch. Denn das Buch ist kein Plädoyer für den Vegetarismus, wie sich bei dem Titel vermuten ließe, sondern ein Plädoyer für Emanzipation und Selbstgestaltung. In Korea ist Vegetarismus selbst schon eine Form der Subversion, eine Form nicht in die Mehrheitsgesellschaft zu passen. Doch noch deutlicher macht Han Kang in ihrer Erzählung die Unterdrückung durch Tradition und Anpassung. Denn ihre Protagonistin wird nicht nur mit Argwohn betrachtet, sondern regelrecht verstoßen. Viel mehr noch ist ihr Wunsch komplett zur Pflanze zu werden eben auch der Wunsch nicht mehr Teil dieser Menschheit zu sein, unangepasst zu sein, sich allen Regeln und Normen zu widersetzen.
    "Meine Frau saß dort auf einer Bank. Sie hatte das Krankenhaushemd ausgezogen und sich auf den Schoß gelegt. So bot sie den Umstehenden den Anblick ihrer hervorstehenden Schlüsselbeine, verkümmerten Brüste und braunroten Brustwarzen. Sie hatte den Verband an ihrer linken Hand abgenommen und leckte bedächtig an der genähten Schnittwunde, offensichtlich trat dort Blut aus. Ihr Gesicht und ihr nackter Oberkörper wurden von der Sonne beschienen."
    Nicht kunstvoll, aber fesselnd
    Han Kang erzählt diese beinahe schon absurde Geschichte um die Vegetarierin Yong-Hye mit vielen wunderbaren Einfällen allerdings äußerst simpel: Sie teilt ihren Roman in drei Teile, die auch gut für sich alleine stehen könnten. In kunstloser Sprache lässt sie Yong-Hyes Ehemann erzählen, die vielleicht auch sein einfaches Wesen widerspiegelt. Bildreicher beschreibt sie in den folgenden Teilen wie sich die Idee des Vegetarismus zum Wahn auswächst – befeuert durch das Verlangen ihres Schwagers. Und schließlich vom Ende in der Psychatrie, als nur noch ihre Schwester In-Hye Verständnis für ihre Schwester aufbringt. Die Sprache bleibt dabei simpel – Han Kang konzentriert sich auf die Handlung, die Geschichte. Der Roman ist also nicht kunstvoll, entwickelt aber durchaus einen Sog.
    "Er schob ihre Haare zur Seite, so dass Schultern und Nacken freilagen, und fing dort an zu malen. Leicht geöffnete purpurfarbene und rote Knospen bedeckten bald ihre Schultern und ihren Rücken. Feine Ranken wanden sich an den Seiten entlang. Auf der rechten Gesäßbacke erblühten knallrote Blumenkelche, die den Blick auf leuchtend gelbe Blütenstempel freigaben."
    "Die Vegetarierin" trifft Menschen auf der ganzen Welt
    An vielen Stellen erinnert der Roman an die Literatur von Haruki Murakami, mit ihrer leichten, aber effektvollen Sprache, dem Thema der Einsamkeit, der erotischen Stimmung und der Irritation gegenüber der Welt. Doch gleichzeitig ist Han Kang deutlich politischer als ihr japanischer Kollege. Schon zuvor beschäftigte sie sich in ihren Romanen mit Gewalt und Würde, auch geprägt durch das Gwangju-Massaker dem tausende südkoreanische Demonstranten zum Opfer fielen und das eng mit Han Kangs Biographie verknüpft ist. Doch bisher hat keiner ihrer Romane es über die Landesgrenzen hinaus geschafft – vielleicht weil sie zu "koreanisch" waren. Auch "Die Vegetarierin" blieb lange Zeit unbeachtet, doch hier geht es um ein allgemein-menschliches Thema: Den Aufstand gegen gesellschaftliche Gewalt in Form von Normen. Deswegen trifft Han Kangs Roman "Die Vegetarierin" Menschen auf der ganzen Welt. Ein absurdes und explizites Plädoyer den Konformismus zu überdenken.

    Han Kang: "Die Vegetarierin"
    Übesetzt von Ki Hyang-Lee.
    Aufbauverlag, 190 Seiten, 18,95 Euro.