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"Die Verbrechen der anderen"

Am 8. Juli 1966 wurde der frühere KZ-Arzt Dr. Horst Fischer in Leipzig hingerichtet. Der Erste Strafsenat des Obersten DDR-Gerichts hatte ihn nach einem aufwendig inszenierten Schauprozess zum Tode verurteilt. Die Geschichte dieses Prozesses und die Biographie des Holocaust-Mediziners sind Gegenstand einer geschichtswissenschaftlichen Monographie, die Christian Dirks unter dem Titel "Die Verbrechen der anderen" vorgelegt hat. Eine Rezension von Karl Wilhelm Fricke.

25.09.2006
    Als ehemaliger SS-Hauptsturmführer war der Angeklagte der ranghöchste SS-Offizier, der sich jemals vor einem DDR-Gericht zu verantworten hatte. Immerhin hatte es Dr. Horst Fischer in seiner fatalen Karriere bis zum stellvertretenden SS-Standortarzt im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz gebracht. Zugleich war er Lagerarzt im IG-Farben-Lager Monowitz gewesen, das zum Lagerkomplex Auschwitz gehörte. Seine Verurteilung musste angesichts seiner Verbrechen auf die Höchststrafe hinauslaufen. Hier die Verkündung durch Heinrich Toeplitz, seinerzeit Präsident des Obersten Gerichts, im Originalton:

    "Der Erste Strafsenat des Obersten Gerichts der Deutschen Demokratischen Republik verkündet in der Strafsache Fischer folgendes Urteil:
    Im Namen des Volkes!
    Der Angeklagte wird wegen fortgesetzt begangenen Verbrechens gegen die Menschlichkeit - Artikel 6 Buchstabe c IMT-Statut, Paragraph 1 StGB - zum Tode verurteilt. Die bürgerlichen Ehrenrechte werden ihm auf Lebenszeit aberkannt. Die Auslagen des Verfahrens hat der Angeklagte zu tragen."

    Die Geschichte dieses Strafverfahrens und die Biographie des Angeklagten, der durch persönliches Handeln an der Ermordung von mindestens 70.000 zumeist jüdischen Menschen unnennbar schwere Schuld auf sich geladen hatte, zeichnet der Autor Christian Dirks in seinem Buch umfassend und detailliert nach. Sein Titel "Die Verbrechen der anderen" erklärt sich aus dem Versuch der ostdeutschen Staats- und Parteiführung, sich aus der historischen Mitverantwortung für die nationalsozialistische Vergangenheit herauszustehlen und die NS-Verbrechen als "die Verbrechen der anderen" zu verdrängen - nämlich der Deutschen in Westdeutschland. Es widersprach dem SED-amtlich verordneten antifaschistischen Geschichtsbild, die Existenz ehemaliger NS-Täter in der DDR einzuräumen.

    Die unbewältigte Vergangenheit war ausschließlich ein Problem der Bundesrepublik, so wollte es die offizielle Propaganda.

    Christian Dirks, Geburtsjahrgang 1971, promovierter Historiker, heute tätig bei der Stiftung Jüdisches Museum Berlin, hat in mehrjährigen Forschungen Stasi-Vernehmungsprotokolle, Personal- und Prozessakten zum Fall Fischer in verschiedenen Archiven eingesehen und ausgewertet. Ihm stand ferner die vollständige Tonaufzeichnung des Fischer-Prozesses zur Verfügung, er zog die einschlägige Sekundärliteratur heran, und er hat selbstverständlich Überlebende und Zeitzeugen aus Ost und West interviewt. Die wissenschaftliche Recherche konnte nicht gründlicher sein. Indes zeichnet der Autor in seinem übersichtlich strukturierten und gut geschriebenen Buch nicht nur den Fall Fischer akribisch nach, er stellt seine daten- und faktengesättigte Untersuchung auch in den zeitgeschichtlichen Kontext des Kalten Krieges und der Ost-West-Konfrontation. Zudem bietet er eine vergleichende Analyse der beiden Auschwitz-Prozesse vor dem Schwurgericht in Frankfurt am Main, zu denen es in den sechziger Jahren mit irritierender Verzögerung gekommen ist.

    Die Analyse des Fischer-Prozesses zeigt geradezu exemplarisch, wie die Ahndung von NS-Verbrechen aus politischen Opportunitätsgründen von der SED-Führung mit Hilfe der Geheimpolizei und einer ihr bedingungslos ergebenen Justiz für die deutsch-deutsche Systemauseinandersetzung instrumentalisiert wurde.

    Interessant sind in diesem Zusammenhang nicht zuletzt die Recherchen des Autors zu den hektischen, freilich vergeblichen Bemühungen der SED-Politbürokratie und der DDR-Staatssicherheit, über den Ostberliner Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul als Nebenkläger politisch Einfluss auf die Frankfurter Justiz zu gewinnen, um die Auschwitz-Prozesse in der Main-Metropole zur Propaganda gegen die Bonner Regierung zu missbrauchen. Auf einem anderen Blatt Papier steht, dass sich dabei die Machthaber im Osten gravierende Defizite im Westen bei der Strafverfolgung von NS-Tätern, speziell von ehemaligen NS-Juristen, zunutze machen konnten. Völlig zu Recht konstatiert Dirks:

    Die skandalträchtigen Versäumnisse der Bonner Politik im Umgang mit den alten Funktionseliten mussten in Ostberlin nicht erfunden, sondern lediglich zusammengetragen werden.

    Fischer, der als junger Mediziner mit 29 Jahren nach Auschwitz kam, hatte sich bewusst für den Dienst im KZ entschieden. Er wollte dort seine chirurgische Ausbildung vervollkommnen und stieg innerhalb kürzester Zeit vom einfachen SS-Truppenarzt zum stellvertretenden SS-Standortarzt und Leiter der Chirurgie eines SS-Lazaretts auf - eine rasante Kariere, die fraglos seiner Skrupellosigkeit geschuldet war. Fischer nahm wiederholt persönlich die Selektierung vermeintlich arbeitsunfähiger Häftlinge "an der Rampe" vor, sowohl im Stammlager Auschwitz wie im Lager Birkenau, und verfügte damit ihre Ermordung in der Gaskammer. Im Prozess machte er dazu auf Vorhalt des Gerichtsvorsitzenden folgende Aussage:

    Es sollten die Deportierten, die noch arbeiten konnten, von der Industrie bis zu ihrer Erschöpfung ausgebeutet werden, um dann ebenfalls vernichtet zu werden. -
    Und die anderen wurden sofort vernichtet? -
    Die anderen wurden sofort vernichtet. -
    Das heißt, im Grunde genommen lief das ... , wenn ich Sie jetzt richtig verstanden habe... lief das System darauf hinaus, alle Deportierten zu vernichten. Die einen, die man nicht mehr für arbeitsfähig hielt, sofort durch's Gas - und die anderen durch Arbeit, die dann, wenn sie nicht von selbst starben, auch durch's Gas. War das System so? -
    Das war das System.


    Wie aber erklärt sich, dass Fischer unter seinem vollen Namen bei oberflächlicher Verschleierung seiner SS-Karriere nach 1945 fast zwanzig Jahre lang unbehelligt als Landarzt in Spreenhagen bei Fürstenwalde arbeiten konnte? Da es aus Sicht der SED unbewältigte NS-Vergangenheit in der DDR nicht geben durfte, wurde seit Mitte der fünfziger Jahre auch nicht mehr systematisch nach früheren NS-Tätern gesucht. Fischer ging der Staatssicherheit nicht als NS-Verbrecher ins Netz. Erst nachdem er durch Westkontakte und regimekritische Äußerungen auffällig geworden war, nahm das MfS ihn unter "politisch-operative Kontrolle". In der DDR, die zu verlassen er lange Zeit Gelegenheit gehabt hätte, fühlte er sich mit Frau und vier Kindern wohl und sicher. Ein beliebter Landarzt. Das Kapitel Auschwitz hatte er für sich abgeschlossen. Er hatte es verdrängt - trotz seiner unermesslichen Schuld, die Josef Streit, seinerzeit Generalstaatsanwalt, in seinem Plädoyer so auf den Punkt brachte:

    "Der Angeklagte ist im Dienste der SS und der IG Farben AG zum Arzt ohne ärztliches Gewissen, zum botmäßigen Vertreter einer Medizin ohne Menschlichkeit, zu einem berufsmäßigen Mörder im Arztkittel geworden."

    In der Sache war das gegen Fischer ergangene Urteil kaum zu beanstanden. Gleichwohl wiesen die zehn Verhandlungstage vor dem Obersten Gericht alle Elemente eines manipulierten Schauprozesses auf. Der Termin der Hauptverhandlung war nach propagandistischen Kriterien festgelegt. Planung und Vorbereitung lagen beim MfS. Die Steuerung durch die Stasi ging so weit, dass politisch unerwünschte Zeugen wie der österreichische Ex-Kommunist Hermann Langbein, als Auschwitz-Häftling immerhin Arztschreiber bei Fischer, nicht zur Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung geladen werden durfte, obwohl er Wesentliches hätte aussagen können. Auch stand für das MfS das Todesurteil schon gut drei Wochen vor seiner Verkündung fest. Es werde die Höchststrafe zur Anwendung kommen, schrieb ein Stasi-Hauptmann in einer Vorlage für Erich Mielke zur Information des Staatssicherheitsministers über die Prozessplanung zu einem Zeitpunkt, als das Hauptverfahren noch nicht einmal eröffnet worden war. Christian Dirks hat dies alles wissenschaftlich aufgearbeitet - umfassend und detailliert. Eine eindrucksvolle Leistung. Die Bilanz, die er aus der Strafverfolgung von NS-Tätern in beiden deutschen Staaten zieht, macht betroffen.

    "Das Fazit bei der Ahndung von NS-Verbrechen muss für den Osten ähnlich niederschmetternd ausfallen wie für den Westen Deutschlands. Es gelang auch in der DDR nicht, eine Verfolgung von NS-Tätern zu betreiben, die den Erwartungen der Opfer und Überlebenden gerecht geworden wäre. Die Ahndung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen wurde ab Mitte der 50er Jahre vor dem Hintergrund der Systemauseinandersetzung im Kalten Krieg propagandistisch instrumentalisiert."

    Dem hat der Rezensent nichts hinzuzufügen.

    Karl Wilhelm Fricke über Christian Dirks: Die Verbrechen der anderen. Auschwitz und der Auschwitz-Prozess der DDR. Das Verfahren gegen den KZ-Arzt Dr. Horst Fischer. Veröffentlicht im Schöningh Verlag Paderborn, das Buch umfasst 406 Seiten und kostet 39 Euro und 90 Cent.